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Update 2: Wirbel um Eid von FDP-Europaspitzenkandidatin Koch-Mehrin wird immer wilder

Foto: FDP Baden-Württemberg

—– UPDATE – weitgehend neu: Rechtsanwälte erklären Eid von Koch-Mehrin —–

Hier geht es seit heute Mittag um Silvana Koch-Mehrin. Ich war zufällig in Hamburg bei der Pressekammer des örtlichen Landgerichtes, als dort der Fall Koch-Mehrin versus FAZ behandelt wurde. Der Fall kann die Europawahlen beeinflussen. Denn die Story gibt den lahmen Europawahlkampf ein Thema: es geht um die Anwesenheit der Europaabgeordneten im Europaparlament. Wie oft sie da sind und was tun sie dort überhaupt? Eine Frau steht im Mitelpunkt des Geschehens. Die FDP-Spitzenkandidatin Silvana Koch-Mehrin. Wie es aussieht, hat die Frontfrau der FDP für die Europawahl, Koch-Mehrin eine zweifelhafte eidesstattliche Versicherung über ihre Präsenz im europäischen Parlament abgegeben, um ihre Arbeit besser aussehen zu lassen. Sollten die Aussagen in der eidesstattliche Versicherung falsch sein, kann dies strafbar sein.

Koch-Mehrin hat in einer eidesstattlichen Versicherung behauptet, sie habe rund 75 Prozent der Plenartagungen des EU-Parlamentes besucht – wenn man ihre Fehlzeiten als Mutter berücksichtigt. Die eidesstattlichen Versicherung wurde dem Hamburger Landgericht vorgelegt. Das europäische Parlament allerdings gibt an, Koch-Mehrin habe nur rund 62 Prozent der Sitzungen besucht – wenn man ihre Fehlzeiten als Mutter berücksichtigt. Diese Zahlen kann man sehen, wenn man die Seite der Abgeordneten Koch-Mehrin auf den Seiten des EU-Parlamentes im Internet ansteuert und dann auf "Anwesenheitsliste" klickt.

Zwischen beiden Aussagen gibt es einen Widerspruch. Eigentlich kann nur einer Recht haben. Aus dem Umfeld von Koch-Mehrin ist nun zu hören, dass der Druck auf die Verwaltung des Europaparlamentes erhöht werden soll, die offiziellen Zahlen in den Dokumenten des Abgeordnetenhauses nach oben zu korrigieren. Die EU-Verwaltung soll Koch-Mehrin Recht geben. Auf jeden Fall sei es richtig, dass Koch-Mehrin rund 75 Prozent der Plenarsitzungen mitgemacht habe. Es sei halt nicht alles protokolliert werden.

Aber auch das ist nur die halbe Wahrheit. Tatsächlich hat Koch-Mehrin weniger Tage in den Plenarsitzungen des Abgeordnetenhauses gesessen. Irgendwas unter 45 Prozent. Das stand auch zunächst so auf der Internetseite des Europäischen Parlamentes, doch wurde dies auf Druck aus der FDP geändert. Denn die FDP gab an, Koch-Mehrin habe schließlich entschuldigt und wegen ihrer Kinder gefehlt. Das müsse berücksichtigt werden. Die Tagungen, die stattfanden als Koch-Mehrin in Mutterschutz war, dürften nicht gezählt werden. Das hat die Parlamentsverwaltung dann auch getan und 59 Tage berücksichtigt. Trotzdem wurden es nicht 75 Prozent, wie Koch-Mehrin in ihrer Versicherung an Eides statt gesagt hatte. Sondern nur 62 Prozent.

Abgestimmt hat Koch-Mehrin laut EU-Parlament übrigens zudem nur 22 mal. Was hat sie die restliche Zeit gemacht? Keine Ahnung? Wahrscheinlich Hintergrundpolitik gemacht.

Foto: EU-Dokument zu Fehlzeiten

Die Rechtsanwälte von Koch-Mehrin sehen das anders. Gegenüber den Ruhrbaronen sagen sie, Koch-Mehrin habe viel öfter abgestimmt, dies würden die Abstimmungsprotokolle des Parlamentes belegen. Aus dem Hintergrund ist auch hier zu hören, dass mehr Druck auf EU-Parlament ausgeübt werden soll, damit auch diese Zahlen nach oben korrigiert werden. 

Warum die Aufregung? Nun, ein Mitarbeiter im Europäischen Parlament hatte zusammengerechnet, wie viele Fehlzeiten sich die Abgeordneten im europäischen Parlament leisten. Dabei kam heraus, dass Koch-Mehrin unter 45 Prozent der Plenarsitzungen besucht hatte. Grundlage der Untersuchung waren die Anwesenheitslisten, in denen sich die Parlamentarier eintragen müssen. Der Mitarbeiter hatte in seiner Arbeit die Zahl von rund 39 Prozent der Sitzungen genannt, an denen sich Koch-Mehrin in diese Listen eingetragen hat. Die FAZ hat darüber geschrieben. Und dabei sogar darauf hingewiesen, dass die Zahl nicht mitberücksichtigt, dass ein Teil der Fehlzeiten auf die Schwangerschaften der FPD-Politikerin zurückzuführen seien. Nach dem Erscheinen des Berichtes hat die FAZ sogar noch mehr gemacht und die Sichtweise von Koch-Mehrin explizit dargestellt. Und trotzdem ist Koch-Mehrin gegen den ersten Bericht der FAZ Amok gelaufen. Sie hat eine Einstweilige Verfügung vor dem Landgericht Hamburg, Pressekammer Richter Buske, durchgesetzt. Für die Einstweilige Verbotsverfügung hat Koch-Mehrin die oben genannte eidesstattliche Versicherung abgegeben, die ihr nun zum Verhängnis zu werden droht. Denn wer eine falsche eidesstattliche Versicherung abgibt, kann erheblich bestraft werden.

In Deutschland steht im Paragraph 156 des Strafgesetzbuches:

Wer vor einer zur Abnahme einer Versicherung an Eides Statt zuständigen Behörde eine solche Versicherung falsch abgibt oder unter Berufung auf eine solche Versicherung falsch aussagt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“

Genau das droht jetzt, wie ich das überblicke, Koch-Mehrin, wenn ein Gericht feststellt, dass die eidesstattliche Versicherung falsch war: bis zu drei Jahre Knast oder Geldstrafe.

Und wer wegen eines falschen Eides verurteilt ist, hat es schwer als Politiker. Nicht umsonst heißt es gewöhnlich am Beginn einer eidesstattlichen Versicherung:

Mir ist bekannt, dass die nachfolgende eidesstattliche Versicherung zur Vorlage bei einem deutschen Gericht bestimmt ist und die Abgabe einer – auch fahrlässig – falschen eidesstattlichen Versicherung strafbar ist.“

Koch-Mehrin kannte also das Risiko.

Der Knackpunkt ist dabei ein ganz spezieller. Wenn man sich die Plakate von Koch-Mehrin ansieht, mit denen sie versucht, Stimmen für ihre Europaspitzenkandidatur zu gewinnen, dann sieht man das Bild einer stolzen Frau. Sie will den Eindruck erwecken, sie verträte die Interessen der Bürger in Europa gut. In dieses Image scheint es nicht zu passen, wenn herauskommt, dass jemand nur irgendwas unter 45 Prozent der Plenarsitzungen in der EU besucht. Egal aus welchen Gründen.

Eigentlich hätte man erwarten können, dass Koch-Mehrin diese Wahrheit im Wahlkampf wegsteckt. Doch die FPD-Dame scheint punktgenau da getroffen worden zu sein, wo es wehtut. Sie war bereit, eine möglicherweise irreführende eidesstattliche Versicherung abzugeben, um diese Wahrheit aus der Welt zu schaffen. Sie hat das EU-Parlament unter Druck setzen lassen, um diese Wahrheit zu vertuschen.

Damit nicht genug. Seit dieser Bericht in den Ruhrbaronen hochgefahren ist, setzen uns die Anwälte von Koch-Mehrin zu. Sie sagen, wir würden uns strafbar machen, wenn wir schreiben, dass es einen Widerspruch gibt zwischen den Zahlen in der eidesstattliche Versicherung und den offiziellen Zahlen des EU-Parlamentes. Sie drohen offen mit einer Strafanzeige, wenn wir fragen, ob hier eine falsche strafbewehrte eidesstatliche Versicherung vorliegt.

OK. Ich denke, diesen Konflikt halten wir aus. Dabei spielt es in meinen Augen keine Rolle, ob Koch-Mehrin wegen Kinderzeiten fehlte. Das ist OK, jeder hat Verständnis dafür, dass sie wegen ihrer Kinder Fehlzeiten hat. Aber darum geht es doch gar nicht. Es geht um die Frage, warum muss sie ihre Anwesenheit aufpusten. Warum sagt sie dann nicht: Hey, ich war zwar nicht 100 Prozent der Sitzungen anwesend, aber immerhin 62 Prozent, wenn man meine Fehlzeiten als Mutter berücksichtigt.

Warum musste sie diese Zahl noch treiben? Was hat sie dazu gezwungen?

Mich interessiert vor allem eines:

Warum die eidesstattliche Versicherung?

Die Rechtsanwälte von Koch-Mehrin erklären die Geschichte so:

Zunächst habe Koch-Mehrin die Versicherung abgeben müssen, um im Verfahren gegen die FAZ einen gerichtsverwertbaren Beweis in der Hand zu haben, um die Einstweilige Verfügung durchzukriegen. Und dann sagen sie:

Die Zahlen von Frau Koch-Mehrin basieren auf den ihr zum Zeitpunkt der Abgabe der eidesstattlichen Versicherung zugänglichen offiziellen Listen der EU-Verwaltung. Dies war am 5. Mai 2009. Der offizielle Launch der EU Seite war erst am 14. Mai 2009. Aus den Zahlen die Frau Koch-Mehrin vorliegen ergibt sich eine Präsensquote von mindestens 73,95 Prozent.

Da frage ich mich, wieso entsteht der Widerspruch zwischen ihren Zahlen und den Zahlen der EU-Verwaltung? Die EU bezieht sich ausdrücklich in ihren Zahlen auf die Anwesenheitslisten.

Auch das versuchen die Anwälte zu erklären: Zu den ursprünglich auf der EU-Webseite veröffentlichten Zahlen von 120 Tagen seien weitere 24 Fälle dokumentiert worden, bei denen Koch-Mehrin nachweislich der Protokollabstimmungen im Plenum war, nicht jedoch in der Anwesenheitsliste aufgeführt worden sei. Anders formuliert heißt das: Koch-Mehrin soll im Parlament gewesen sein, sich nicht in die Anwesenheitsliste eingetragen haben und trotzdem abgestimmt haben. Tja. Die Anwälte haben dazu lange Listen vorgelegt. Was ein Politiker halt seine Anwälte machen läßt, wenn man ihn mit der Hand in der Keksdose erwischt.

Wie dem auch sei: Die ganze Nummer ist hochgradig peinlich – und sie kann Koch-Mehrin das Amt kosten. Denn die Diskrepanz zwischen den Zahlen in der eidesstattlichen Versicherung und den offiziellen Zahlen in der EU bleibt. Ich weiß nicht, ob jemand eine Anzeige wegen einer falschen eidesstattlichen Versicherung stellen muss, oder ob das ein Delikt ist, das von Amts wegen verfolgt wird. Wer weiß, was passiert? In England treten die Politiker in diesen Tagen wegen Kleinigkeiten zurück. Weil sie Steuergelder im Tausend-Pfund-Bereich privat verschwendet haben.

Dies ist bei Koch-Mehrin nicht der Fall. Trotzdem ist die Frage offen, ob sich eine Spitzenpolitikerin kleinliches Gefeilsche politisch leisten kann – um Anwesenheitszeiten, die je nach Zählung zwischen 39 und 75 Prozent liegen.

Wie arg die Dinge stehen, kann man einer Talk-Runde des SWR sehen, in der Koch-Mehrin vor wenigen Tagen mit ihren Anwesenheitszahlen konfrontiert wurde. Sie antwortete irgendwas zu ihrer Rechtfertigung in der Aufzeichnung und versuchte nachträglich über Ihre Rechtsanwälte die Ausstrahlung der Sendung zu verhindern. Dazu später mehr.

Wer weiß, was passiert? Vielleicht kann die FDP-Politikerin ja auch mit Druck erreichen, dass die EU ihre Zahlen korrigiert. Und so der Unterschied verschwindet. Und sie mit einem blauen Auge davon kommt.

Ich denke, in der FAZ wird man noch manches zu dem Thema lesen können. Denn die Verhandlung zu dem Zahlentheater hat Koch-Mehrin heute in Hamburg verloren. Die einstweilige Verfügung gegen die Zeitung wurde zurückgenommen.

Die Frankfurter haben also Feuer frei.

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„Zwischen Minderwertigkeitskomplex und Größenwahn?

Knapp einen Monat, bevor das Kulturhauptstadt-Jahr 2010 beginnt, wird am 5. Dezember 2009 auf dem Gelände der Zeche Zollverein in Essen-Stoppenberg das Ruhr Museum eröffnet. 7.000 Exponate warten dann – verteilt auf drei Ebenen – auf die Besucher. 1.000 von ihnen sind Leihgaben aus anderen Museen des Reviers.

Dass das Ruhr Museum das große Heimatmuseum des Ruhrgebiets wird, hört sein Direktor Prof. Dr. Ulrich Borsdorf nicht gerne: „Heimatmuseum klingt mir zu betulich. Wir wollen kein Museum sein, das unkritisch die eigene Heimat feiert, auch wenn das Ruhrgebiet die Heimat des Museums ist. Wir haben uns dafür entschieden, es als Regionalmuseum neuen Typs zu bezeichnen, denn das Ruhr Museum zeigt nicht nur eine große Anzahl an Exponaten, sondern hat auch unter museologischen Gesichtspunkten ein innovatives Konzept.“

Und das geht über das Konzept des Vorgänger-Museums, des ebenfalls vom Historiker Borsdorf geleiteten Essener Ruhrlandmuseums, hinaus, auch wenn es Ähnlichkeiten in den Konzepten gibt: „Wir haben auch im Ruhrlandmuseum versucht, menschliche Kultur-und Naturgeschichte in Bezug zueinander zu setzen. Was dort aber nur in Ansätzen zu erkennen war, werden wir im neuen Haus konsequent umsetzen können.“

Perspektiven Das neue Konzept wurde gemeinsam mit zahlreichen Historikern und Kulturwissenschaftlern auf Konferenzen und Symposien diskutiert und erarbeitet. Borsdorf: „Wir präsentieren die Mythen, Bilder und Phänomene des Ruhrgebiets, die ungeheuren Dimensionen der Erdgeschichte, die lange Geschichte der Industrialisierung ebenso wie deren Folgen und zukünftigen Perspektiven in einem einzigen Museum. Das hat es noch nicht gegeben, aber wenn man die Geschichte des Ruhrgebiets erzählen will, kommt man darum gar nicht herum. Ohne die Kohle, die ihre Ursprünge in der Karbonzeit hatte, hätte es das Ruhrgebiet nie gegeben.“
Trotz der Vielzahl des Exponate wird die Ausstellung Lücken aufweisen: „Es gibt Phasen in der Geschichte des Ruhrgebiets, von denen es außer ein paar Fotos und Zeitungsartikeln wenig gibt, was man zeigen und berühren kann. Der Ruhrkampf oder Phasen in den 20er Jahren, was sehr bedauerlich ist, weil sich erst in dieser Zeit ein Bewusstsein dafür entwickelt hat, dass hier etwas Neues, in seiner Dimension Einzigartiges entstanden ist.“

Gedächtnis
Über drei Ebenen erstreckt sich das Ruhr Museum – und man betritt es in der Gegenwart des Ruhrgebiets: „Die erste Ebene widmet sich dem kommunikativen Gedächtnis der Menschen. Was hier zu sehen ist, kann immer noch von Zeitzeugen erklärt werden.“
Es sind die letzten 90 Jahre, die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg – hier werden Phänomene des Ruhrgebiets gezeigt, die jeder, der hier lebt, gut kennt. Es geht um die Buden des Ruhrgebiets, die vom Verkauf von Klümpchen, Bier und Kippen leben und denen es wohl aufgrund liberalisierter Ladenschluss-Zeiten in letzter Zeit an Käufern mangelt.
Hier finden sich Exponate aus den Arbeitersiedlungen des Reviers, die nach wie vor die Architektur des Ruhrgebiets in weiten Teilen prägen, aber auch Darstellungen der unterschiedlichen geologischen Zonen der Region. Und natürlich die Industrie-Architektur und
die Versuche, sie mit neuen Inhalten zu füllen – Zollverein selbst ist hierfür in seiner Ambivalenz als öffentlich geförderte Kulturstädte ohne ernsthafte privatwirtschaftliche Perspektive natürlich ein gutes Beispiel.

Moderne
Die zweite Ebene ist dem kulturellen Gedächtnis vorbehalten: „Hier sehen wir die Geschichte des Ruhrgebiets vor dem Ersten Weltkrieg – und vor allem aus der Zeit vor der Industrialisierung.
Die Besucher erfahren, wie das Ruhrgebiet aussah, bevor es das Ruhrgebiet wurde: Die ersten Siedlungsspuren in der Region, die öde Sumpflandschaft des Emschertals, in dem die Wildpferde weideten, sind hier ebenso Thema wie die spannende Geschichte des Ruhrgebiets im Mittelalter
mit seinen Fehden, Klöstern und dem Aufstieg erster Städte zu bedeutenden Zentren.
Auf der dritten Ebene wird dann die Geschichte des modernen Ruhrgebiets gezeigt, sein Aufstieg zum wichtigsten industriellen Zentrum Europas, seine Rolle während der Kriege und auch die Geschichte der Arbeitskämpfe gegen den Niedergang seiner
Industrien. „Wir werden hier Bezüge zwischen den Geschehnissen herstellen. Die Bombenangriffe auf das Ruhrgebiet stehen in direkter Verbindung zu seiner Rolle als Rüstungszentrum, und die Opfer das Naziregimes sind die direkte Folge der vielen begeisterten Nazis, die es auch im Ruhrgebiet gab,“ erklärt Ulrich Borsdorf das Konzept.

Zukunft
Aber damit wird die Ausstellung nicht aufhören. „Wir wollen einen Blick in die Zukunft
des Ruhrgebiets werfen, und weil wir als Historiker keine Zukunftsforscher sind, werden wir uns den Themen widmen, die heute schon in die Zukunft verweisen,“ kündigt Borsdorf an. Ein Beispiel dafür wird der Emscher Landschaftspark sein.
Auch wenn das Projekt erst im kommenden Jahrzehnt fertig wird, und mit etwas Pech vielleicht sogar noch später, verändern die Arbeiten an ihm schon heute das Gesicht des Ruhrgebiets.
Abwasserkanäle verschwinden in Röhren, neue Klärwerke werden gebaut und in Dortmund ist die Emscher schon wieder fast so etwas wie ein richtiger Fluss.
Als stadtnahes Gewässer, so der Plan der Emscher-Genossenschaft, wird sie zwar nie wieder ein unregulierter Fluss werden, dafür aber sauberes Wasser führen und an ihren Ufern eine hohe Wohn- und Freizeitqualität bieten.

Mythen
„Und dann sind da noch die Mythen des Ruhrgebiets. Ihnen haben wir den Flur gewidmet“, erklärt Borsdorf und weiß: „Mythen gibt es hier viele.“ Der Krupp-Mythos, der heute noch in der Person von Berthold Beitz und der Krupp-Stiftung weiterlebt und immer weniger mit den real existierenden Krupps zu tun hat. Oder der Mythos der harten Arbeit, der das Selbstverständnis des Reviers und seiner Menschen über alle Klassenschranken geprägt hat. Der schöne
Satz „Ein Junge aus dem Revier muss hart arbeiten und hart trinken können“ wäre so in Frankfurt, München oder Stuttgart undenkbar.
Bei uns trifft er immer noch auf Zustimmung. Und das hat mit einem anderen Mythos zu tun, der im Ruhrgebiet präsent ist: Der Männlichkeit. Aus diesen Mythen, zu denen auch der Fußball im Ruhrgebiet und Begriffe wie Feuer, Kohle Solidarität und Heimat gehören, setzt sich das Selbstbewusstsein der Menschen im Ruhrgebiet zusammen – und wie immer bleiben diese Mythen prägend, auch wenn ihre Ursprünge von Jahr zu Jahr weiter in der Vergangenheit
versinken.

Strukturwandel
Borsdorf: „Nicht alle dieser Mythen sind alt. Einer ist wirkungsmächtig und neu: der Mythos des Strukturwandels.“ Dabei, so verkündet das Konzept des Ruhr Museums von Ende 2005, „changiert die Botschaft in einer seltsamen, aber vielleicht für die Mentalität des Ruhrgebietes typischen Ambivalenz zwischen Minderwertigkeitskomplex und Größenwahn: Dem Wunsch nach `endlich so wie überall` und dem Vergleich mit anderen Metropolregionen wie Berlin oder Paris folgt in stereotypischer Regelmäßigkeit die eingeübte Meldung von Rekordzahlen und Superlativen: die dichteste Museumslandschaft Deutschlands, die größte Hochschulregion in Europa und das attraktivste Kulturangebot überhaupt.“
Hier – wie bei anderen Themen auch – zeigt das geplante Ruhr Museum Chancen für eine Selbstreflexion des Ruhrgebiets auf, denn natürlich wird das neue Heimatmuseum selbst auch jenen Mythos des Strukturwandels verkörpern, zum Ausdruck bringen und verstärken, dem es seine eigene Entstehung verdankt.

Fotos: Bilddatenbank Zollverein

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?Wir sind Profis im Wandel?

Der Bochumer Historiker Klaus Tenfelde, Professor für Sozialgeschichte und soziale Bewegungen an der Ruhr-Universität Bochum und zugleich Leiter des Instituts für soziale Bewegungen arbeitet an einer Geschichte des Ruhrgebiets. In diesem Jahr hofft er das Werk abzuschließen.

Foto: Klaus Tenfelde

Die Geschichte des Ruhrgebiets begann in Kalkriese. Dort, im Osnabrücker Land, fand im September des Jahres 9 nach der damals von niemand beachteten Geburt Christi die Schlacht zwischen einem Heer aus verschiedenen germanischen Stämmen und drei römischen Legionen statt. Die Gegenspieler: Arminius, ein Cheruskerhäuptling, der Jahrhunderte später zu Hermann dem Cherusker verklärt werden sollte, und der römische Senator Publius Quinctilius Varus. Die Schlacht endete mit einer verheerenden Niederlage der Römer. Und die hatte Konsequenzen: Die Großmacht gab ihre östlich des Rheins gelegenen Stellungen wie Haltern an der Lippe auf. Der Rhein wurde für Jahrhunderte zu einem Grenzfluss.

Geschichtswerk
Mit der Errichtung dieser römischen Grenze begann die Geschichte des Ruhrgebiets, auch wenn sich die Region damals nicht von anderen Landstrichen unter germanischer Herrschaft unterschied. „In dem Text Über Ursprung und Leben der Germanen von Tacitus finden wir die erste schriftliche Erwähnung der Region, die später einmal das Ruhrgebiet werden sollte“, erklärt Professor Dr. Klaus Tenfelde. „Und mit schriftlichen Dokumenten beginnt die Geschichte, alles davor ist Archäologie.“

Tenfelde ist Professor für Sozialgeschichte an der Ruhr-Universität Bochum und Direktor des Instituts für soziale Bewegungen. Im kommenden Jahr wird er sein Buch über die Geschichte des Ruhrgebiets veröffentlichen. Zwölf Kapitel auf 600 Seiten wird das Werk umfassen. Zusätzlich gibt Tenfelde das Historische Lesebuch Ruhrgebiet heraus mit einem Umfang von 18 Kapiteln und 900 Seiten in zwei Bänden. Noch nie wurde die Geschichte des Ruhrgebiets in ihrer Gänze so umfassend wissenschaftlich über alle Epochen hinweg beschrieben. Beide Werke sind nicht nur von regionalhistorischem Interesse – dafür ist die Bedeutung des Ruhrgebiets für die deutsche Geschichte zu groß. Was im Ruhrgebiet geschah, hatte spätestens seit der Mitte des vorletzten Jahrhunderts mindestens deutschland- und oft europaweite Bedeutung.

Grenzland
Davon war das Ruhrgebiet in seinen Anfängen allerdings weit entfernt. Erst einmal war es Grenzland – und die wichtigen Entwicklungen geschahen auf der anderen Seite. Mit dem Toleranzedikt von Nikomedia, das die Christenverfolgung im römischen Reich beendete, begann sich westlich des Rheins ab 311 die Christianisierung zu beschleunigen.
Trier und Köln waren schon Bistümer, Mainz wurde es kurz darauf. Doch mit dem Ende des weströmischen Reiches zu Beginn des fünften Jahrhunderts endete in Germanien die Christianisierung – zumindest vorübergehend.
Erst im achten Jahrhundert wurde auch östlich des Rheins und damit auch im Ruhrgebiet mit militärischer Unterstützung des Frankenkönigs Karls des Großen massiv missioniert.
Um 800 gründete Liudger in Werden das erste Kloster der Region. Kurz darauf folgte die Gründung des Bistums Münster.
Unter dem Schutz der Franken weitete sich das Christentum aus. Tenfelde: „Die heutige Trennung Nordrhein-Westfalens in die beiden Landschaftsverbände Rheinland
und Westfalen geht auf die Antike zurück, auch wenn die heutigen Grenzen den damaligen
nicht ganz entsprechen.
Das Rheinland ist das ehemalige römische Herrschaftsgebiet, das heutige Westfalen der Raum, in dem die germanischen Stämme herrschten, über die wir noch immer kaum etwas wissen, weil sie keine Texte hinterlassen haben und weil die Römer sich nur wenig Mühe gaben, sie differenziert
zu betrachten. Für sie waren das alles nur Barbaren.“

Stadtlandschaft
Im Heberegister des Klosters Werden werden erstmals Ruhrgebietsstädte wie Throtmanni (Dortmund), Altenbochum und Hernes (Herne) erwähnt.
Doch die Mönche des Klosters, deren zum Teil auch weltliche Macht bis ins 19. Jahrhundert andauerte, waren nicht die einzige Macht im späteren Ruhrgebiet, das damals, so Tenfelde, begann eine Stadtlandschaft zu werden. Aus den kleinstädtischen Strukturen ragte schon früh Dortmund heraus. Dortmund war Freie Reichsstadt, und die Verfassung, die sich seine Bürger im Hochmittelalter gaben, war Vorbild für etliche andere Städte. Die große Zeit Dortmunds endete erst mit dem 30-jährigen Krieg: „Von diesen Zerstörungen hat sich die Stadt bis zur Industrialisierung nicht mehr erholt. 80 Prozent der Einwohner starben, die Stadt wurde mehrmals verwüstet“, erklärt Tenfelde.
Auch nach dem 30-jährigen Krieg hörten die Feldzüge nicht auf, aber Geschichte fand woanders statt. Zwar war das Ruhrgebiet eine relativ besiedelte Region mit zahlreichen kleineren Städten, aber mit der Bedeutung süddeutscher Stadtregionen konnte man nicht mithalten. Daran änderte auch der Abbau von Kohle nichts, der schon für das 13. Jahrhundert nachgewiesen werden kann. Kohle wurde nur in geringen Mengen gefördert und war als Brennstoff auch längst noch nicht begehrt. So probierten die Kölner Bäcker zwar in der frühen Neuzeit Kohle zur Befeuerung ihrer Backöfen aus, setzten dann aber wegen der Geruchsbelästigung oft wieder auf Holzkohle.

Kohleförderung
„Die Kohleförderung im Mittelalter dürfen wir uns nicht so vorstellen wie in der Zeit der Industrialisierung. Es wurden nur geringe Mengen Kohle benötigt und entsprechend wenig wurde vor allem im Tagebau und in sehr kleinen Stollen abgebaut. Es fehlten die Abnehmer für die Steinkohle.
Das änderte sich mit zwei Erfindungen, die wie ein Katalysator für die Industrialisierung waren und eng zusammenhingen: Die Dampfmaschine und die Eisenbahn. „Die Eisenbahn führte zu einer großen Nachfrage-Steigerung an Stahl für Schienen. Das sorgte wiederum für eine Steigerung der Kohleproduktion, denn Kohle brauchte man für die industrielle Stahlproduktion.
Und auch die Züge benötigten Kohle. Im Vergleich mit England kam die Industrialisierung
in Deutschland mit erheblicher Verzögerung in Gang, doch sie sorgte dafür, dass das Ruhrgebiet entstand, das wir heute kennen.“ Noch Anfang des 19 Jahrhunderts wohnten im heutigen Ruhrgebiet kaum mehr als 200.000 Menschen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war ihre Zahl auf mehr als vier Millionen gestiegen. In den alten Kernstädten des Ruhrgebiets waren die Veränderungen anfangs kaum zu spüren.
Tenfelde: „Die neuen, großen Industriegebiete entstanden nicht innerhalb der mittelalterlichen Stadtmauern von Dortmund, Essen oder Duisburg, sondern vor deren Stadttoren: In Hörde, Altendorf, Stahlhausen oder Marxloh entstanden die ersten großen Stahlwerke und Zechen.
Kleine Orte wie Gladbeck wuchsen von Dörfern mit wenigen hundert zu Städten mit 80.000 Einwohnern heran.

Zuwanderung
An den Sozialstrukturen änderte sich jedoch zuerst wenig: „Die alten Eliten behielten lange Zeit das Ruder in der Hand. Zwar änderten sich innerhalb sehr kurzer Zeit die Lebensumstände, aber als Ansässige profitierten sie von der Industrialisierung.
Wer Grund und Boden besaß, konnte sehr schnell reich werden. Zum einen stiegen die Grundstückspreise, zum anderen erweiterte sich der Markt für die Händler und Handwerker. Politisch konnten sie ihre Macht durch das preußische Drei-Klassen-Wahlrecht erhalten. Die meisten Zugewanderten durften nicht wählen – erst ab etwa 1900 verdiente ein Arbeiter so viel, dass er steuerpflichtig und damit auch wahlberechtigt wurde.“
Mit der Industrialisierung begann sich das Ruhrgebiet von seiner Umgebung zu unterscheiden, es entstand ein Ballungsraum mit Millionen von Menschen, die begannen, ein neues Kapitel in der Geschichte der Region zu schreiben. Die alten Bezüge Westfalen und Rheinland fingen an, ihre Bedeutung zu verlieren. Etwas Neues war dabei, zu entstehen. Doch die Zuwanderung in das Ruhrgebiet verlief nicht linear: Boomphasen wurden von Krisen wie der Rezession von 1874 abgelöst. Und längst nicht alle, die kamen, blieben: Millionen arbeiteten für eine kurze Zeit im Revier und verließen es wieder. Eine Familie zu gründen, war nicht einfach: In Essen kamen um 1860 auf 100 Männer im heiratsfähigen Alter kaum 60 Frauen.

Rationalisierung
Besonders hoch war die Fluktuation unter den Polen. 450.000 von ihnen lebten zum Ende des Ersten Weltkriegs 1918 im Ruhrgebiet.
Sie kamen aus dem preußischen Teil Polens, das als Staat erst 1919 wieder gegründet wurde. „Die Polen hatten nach dem Versailler Vertrag drei Möglichkeiten: Sie konnten im Ruhrgebiet bleiben, sich in Europa einen neuen Wohnort suchen oder nach Polen zurückkehren.“ Sie entschieden sich zu gleichen Teilen für die verschiedenen Optionen.
In den 20er Jahren wuchs das Ruhrgebiet weiter – und wurde immer wieder von Krisen wie dem Ruhrkampf 1920 und der Ruhrbesetzung 1923 erschüttert.
Als sich Deutschland Mitte der 20er Jahre dem Weltmarkt öffnete, begann eine erste Entlassungswelle im Bergbau. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, schlossen die Bergbau-Unternehmen nicht nur zahlreiche kleinere Zechen, sie rationalisierten auch massiv in den großen Bergwerken. Am ständigen Anwachsen der Bevölkerung änderte das jedoch nichts.

Benachteiligung
Unter den Nazis litt das Ruhrgebiet stark. Die Strukturen der Arbeiterbewegung, egal ob sozialdemokratisch, kommunistisch, anarchistisch oder katholisch, wurden brutal zerschlagen. Tausende von Oppositionellen starben in den Konzentrationslagern.
Im Krieg war das Ruhrgebiet als eines der wichtigsten Zentren der Rüstungsindustrie Ziel der alliierten Bomberverbände. Wie alle deutschen Ballungsgebiete wurde es zum größten Teil zerstört.
Nach dem Krieg konnte die Industrie jedoch schnell wieder aufgebaut werden. Der wirtschaftliche Wiederaufstieg des Ruhrgebiets begann – bis in den 50er Jahren die Krise des Bergbaus begann.
„Die war zwar ein großer Einschnitt, aber bis in die 80er Jahre hinein war die Arbeitslosigkeit im Ruhrgebiet kaum höher als im Bundesdurchschnitt und die Produktivität des Ruhrgebiets sogar überdurchschnittlich.
Erst seit der Wiedervereinigung geht es mit der Region bergab.“ Das ist kein Zufall, sagt Tenfelde, denn auch die öffentlichen Investitionen fließen seitdem verstärkt in den Osten und nicht ins Ruhrgebiet: „Wir haben eine strukturelle Benachteiligung, das muss sich ändern, um einen Kurswechsel im Ruhrgebiet zu erreichen.“

Wandel
Die Veränderungen seien nicht das größte Problem: „Wir sind den Wandel von Strukturen
gewohnt wie keine zweite Region. Wir können damit umgehen.“ An seinen Problemen, so Tenfelde, sei das Ruhrgebiet zum Teil selbst schuld: „Lange Zeit war es politisch nicht gewollt, dass Wohneigentum entsteht. Der Mieter war das Ideal. So hat das Ruhrgebiet über viele Jahrzehnte die Aufsteiger aus dem Facharbeiter-Milieu, die es gebraucht hätte, an sein Umland verloren.“
Aber im Alter, da ist sich Tenfelde sicher, werden sie zurückkommen: „Der nächste Wandel, der auf das Ruhrgebiet wartet, ist der demografische Wandel. Hier haben wir eine Vorreiterfunktion innerhalb der traditionellen Industrieländer. Wir sollten das nicht als Katastrophe sehen, die auf
uns zukommt, sondern als eine Chance, die wir ergreifen müssen. Aber wir werden das schaffen. Im Wandel sind wir Profis.“

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Wetterbusiness – oder der Handel geht weiter

Handel treibt die Welt voran. Die eine Börse brennt noch wegen der geplatzten Immobilien-Derivate, Credit-Swaps, und Sinnlos-Futures, da geht es an der anderen Börse weiter. Es geht um Wetter-Derivate. Wetter-Was? Richtig, Derivate. Das haben sich vor gut zehn Jahren ein paar Börsenjungs in Chicago ausgedacht. Man handelt Wolkenwände und Sonnenschein. Damit können sich Reiseunternehmen gegen Hagel in der Südsee versichern, oder Gasversorger gegen Hitzewellen in Kanada. Fast alle großen Versorger sind mit dabei, die großen Versicherer, eigene Hedge-Fonds, etliche Banken und Broker. Im vergangenen Jahr wurden weltweit 32 Mrd US-Dollar umgesetzt. Tendenz steigend. Noch ist dort alles ein solider, auf Wissen basierender Handel, doch scheinen Fundamente für einen neuen Wahnsinnshandel gelegt zu sein.

Der Wettermann vom RWE heißt Eric Stein. Er sitzt vor seinen sechs Computer-Bildschirmen in Essen-Altenessen, mitten im größten Energiehandelsraum Europas. Stein schaut gespannt auf eine Animation. Irgendwo über der Arktis zieht ein Hoch auf. Satellitenaufnahmen raffen das Wetter in Sekundenclips. Es sieht so aus, als spielten Kinder mit Farbklecksen. Blau ist kalt, Rot ist heiß. Jetzt kann Eric Stein sagen, mit welcher Wahrscheinlichkeit es morgen in Duisburg regnet, in Brüssel hagelt oder in Warschau schneit. Doch so richtig interessant ist das Wetter über London, oben an der Themse, mitten in England. In der Waschküche Europas macht Eric Stein nämlich Geld. Der RWE-Wettermann handelt mit Regen und Sonne. Mit Eis und Sturm. Oder anders ausgedrückt: Eric Stein handelt Wetterderivate.

Bei diesen Luft- und Wassergeschäften bestimmen vor allem die Temperaturen die gehandelten Werte. Sie werden addiert zu einem so genannten CAT. Ist es im Mai etwa tagsüber durchschnittlich 10 Grad warm, macht das 310 CAT. Ein CAT ist standardmäßig 1000 britische Pfund wert.

Rechnet die Chicago-Wetter-Börse mit Regen und Kälte, fallen die CAT-Kurse, bei Hochdruck und Sonne ziehen sie an. Gehandelt werden Wetter-Verträge über einen CAT-Kurs. Jeder Händler, der einen Vertrag verkauft, muss diesen bis zum Ende des Monates zurückkaufen, um das Geschäft zu schließen. Ansonsten wird über die Börse abgerechnet, die als so genannte Clearingstelle alle Verträge untereinander ausgleicht. Wer näher an der Realität war, gewinnt.

Ein Beispiel für einen Wetterhandel:

Ein Händler spekuliert darauf, dass der September im Schnitt maximal 16,5 Grad warm wird. Das entspricht 496 CAT. Für diesen Betrag hat er einen Vertrag über das Septemberwetter verkauft. Um das Geschäft zu schließen, muss der Händler den Vertrag zurückkaufen, oder ihn Ende September gegenüber der Börse ausgleichen. Je kälter der Monat wird, um so höher wird der Gewinn des Händlers. Je wärmer der September wird, umso höher sein Verlust.

Würde der Monat nun durchschnittlich 16 Grad warm, macht das 480 CAT. Wenn der Händler seinen Vertrag nicht zurückkaufen würde, müsste er Ende September folglich an die Börse 480.000 Pfund zahlen, um das Geschäft auszugleichen. Für den Wetterfrosch wäre das gut. Sein Bruttogewinn läge bei 16.000 Pfund.

Ist der September aber 17 Grad warm, würde der Kurs auf 510 CAT steigen. Dann müsste der Händler 510.000 Pfund an die Börse zahlen. Sein Verlust läge damit bei 14.000 Pfund.

Am Besten wäre es jedoch für den Händler, wenn er jemanden findet, der mit einem noch kälteren September rechnet. Spekuliert jemand etwa auf einen Temperaturschnitt von 15 Grad, könnte der Händler seinen Vertrag für 450 CAT oder 450.000 Pfund zurückkaufen. Der Gewinn des Wetterdealers würde damit auf 46.000 Pfund klettern.

Zusammengefasst könnte man auch sagen, die Börsianer zocken. Und das mitten in einer Weltwirtschaftskrise, die von haltlosen Derivatgeschäfte und dubiosen Swaps ausgelöst wurde.

Fast alle Riesen sind dabei. Neben RWE handeln die Versorger Electricite de France und British Gas. Dann tummeln sich auf dem Parkett Versicherer wie die AXA oder die Swiss Re, aber auch Hedge Fonds wie Citadel oder D.E. Shaw sind dabei. Die Gewinne spezialisierter Wetterbroker, wie dem britischen Cumulus Weather Fund, liegen bei bis zu 26 Prozent des eingesetzten Kapitals – im Jahr. Früher war das ein Anlass zur Freude, heute kann das auch ein Grund zur Sorge sein. Können die Wetten auf Hitzewellen die nächste Finanzkrise auslösen, nur weil es im Sommer schneit?

Eric Stein widerspricht heftig: „Wir wetten nicht“, sagt er. Die Wettervorhersage auch im launischen London ist eine wissenschaftliche Angelegenheit, basierend auf fixen Daten, langen Erfahrungen und ausgetüftelten Klimamodellen. Stein untersucht das Klima beim RWE mit drei weiteren Kollegen. „Wir wissen, wie sich das Wetter entwickelt. Und wenn wir glauben, klüger als der Markt zu sein, kaufen wir.“ Es gibt Futures auf das Monatswetter in Atlanta. Es gibt Wochenoptionen auf das Klima in New York. Selbst der Regen in Portland kann gehandelt werden. In Europa lässt sich der Himmel über Barcelona verfeilschen, über Rom und Essen. Selbst auf die Saison in Tokio kann man Optionen lösen.

Ein einfaches Geschäft? Eine Mail poppt auf dem Bildschirm von Eric Stein auf. Ein Broker aus New York bietet einen Juni Future auf das Wetter in London Heathrow. Der Broker will die Monats-Temperatur für 489 CAT kaufen. Das heißt: er glaubt an 16,3 Grad in Londoner Schnitt, das ist warm, aber keine Hitzewelle. Verkaufen will er deshalb für 526 CAT – das macht 17,5 Grad im Juni-Schnitt.

Nach Ansicht von Eric Stein ein schlechtes Geschäft. Aktuell rechnet der Wettermann mit einer Juni-Temperatur von 17 Grad. Das entspricht eine m Preis von 510 CAT. Verkauft nun Eric Stein seinen Wettervertrag für 489 CAT, macht er einen Verlust von 21.000 Pfund – wenn seine Berechnungen eintreten. Kauft er für 526 CAT, macht er im gleichen Fall einen Verlust von 16.000 Euro. Der Käufer müsste schon mehr als 510 bieten, damit Stein mit ihm ins Geschäft kommt. Mit anderen Worten. Das Angebot ist für die Tonne. Eric Stein schließt die Email.

Es gibt nicht wirklich viele gute Geschäfte mit dem Wetter. Auf dem Tisch des Meteorologen Stein steht ein Leitzordner. Schwarz. Beschriftung: „Trade Tickets“. Hier werden die Deals abgeheftet. Schwarz auf weiß, dann hoch gebracht zur Buchhaltung. Dort eingespeist in ein Handelsbuch. Passend gemacht für die Konzernrechnung, gegengecheckt auf ihren Wert und auf ihr Risiko. Und dann wird abgerechnet. Hat Eric Stein gut gelegen, macht er Gewinn. Gab es Regen statt Sonnenschein, steht ein Minus im Buch. In diesem Monat hat er gerade mal ein knappes Duzend Verträge abgeschlossen.

Der Klimahandel über die Börse ist nach Ansicht von Stein trotzdem ein einträgliches Geschäft. „Der Handel ist völlig transparent. Jeder hat die gleichen Voraussetzungen, es kann keinen Insiderdeals geben.“ Die Wetterstationen erheben exakte Daten, die großen staatlichen Wetterdienste erstellen auf dieser Grundlage Modelle, zu denen jeder Interessent gleichberechtigt Zugang bekommt. „Unsere Aufgabe ist es, diese Modelle zu vergleichen, und Voraussagen zu treffen“, sagte Stein. Und wenn er Gewinn macht, ist das auch ein Gradmesser für die eigene Arbeit. Nur wer sich mit dem Wetter gut auskennt, verdient.

In den vergangenen Monaten hat das Geschäft mit den Wetter-Derivaten erheblich zugenommen. Ein Grund ist die Absicherung der Geschäfte über die Börse. Die Chicago-Exchange übernimmt das Kreditrisiko. Zudem kann jeder Händler anonym seine Handelsscheine einlösen. Das ist gerade für Energieversorger wichtig, die sich nicht in die Karten schauen lassen möchten. Wenn sie mit Kälte rechnen, wird beispielsweise die Kohle für die eigenen Kraftwerke teurer. Warum also das eigene Wissen ausspielen?

Auch Stein will nicht alles offen legen. Beispielweise behält er für sich, wie viel Geld er im Wetterbusiness macht. Nur soviel: „Es geht nach oben.“ Stein sagt. „Wir sind ein Handelsdesk.“

Dabei ist Stein nicht nur als Wetterhändler für das RWE tätig. Seine Prognosen unterstützen die Stromhändler bei ihrem Job. In der Essener RWE-Tradinghalle sitzt Steins Team direkt hinter den Energiedealern. Stein bringt ihnen jeden Morgen seine Prognosen rüber. Er erläutert ihnen am Tisch die Aussichten für den kommenden Tag. Dazu hängt er die aktuellen Klimadaten an eine rote Säule mitten in der Halle.

Viel Wind in Spanien? Das heißt, die Rotoren der Andalusischen Windparks drehen sich wie verrückt. Der Ökostrom drückt die Leistungen der Kohlekraftwerke nach unten. Die Preise in Spanien fallen.

Einen noch größeren Einfluss auf die Erlöse der Versorger hat die Temperatur. Im Winter bedeutet ein Grad unter der Normaltemperatur, dass ein Gigawatt Strom in Mitteleuropa zusätzlich erzeugt werden muss. Das entspricht der Leistung von einem Kernkraftwerk. Und die Temperatur kann dabei von Stunde zu Stunde wie ein Lämmchen springen.

Vor Eric Stein steht eine Starbuckstasse. Auf seinen Bildschirmen springt ein Schoner mit dem Bild von Monty Burns an. Das ist der Betreiber des Atomkraftwerkes in den Simpsons Comic-Strips. „Wir bereiten die Händler auf Gefahren vor“, sagt Stein. Noch ist der Handel mit Wetterderivaten nur ein Nebengeschäft. Aber wenn es nach Stein geht, wird es mehr. Ein Mann geht an seinem Tisch vorbei. Er schaut Stein an und fragt: „Können wir am Wochenende grillen?“

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