Henryk M. Broder gehört zu den bekanntesten Journalisten Deutschlands. Mit seinen Stellungnahmen zu tagespolitischen Themen polarisiert er wie kein Zweiter. Es gibt nicht wenige Menschen, die seine Artikel im Spiegel mit einem großem Interesse und Freude zur Kenntnis nehmen. Vermutlich gibt es aber mindestens genauso viele Leser, die auf seine Polemiken mit ätzender Kritik, zuweilen auch mit Beschimpfungen und Drohungen reagieren. Es gibt indes nur wenige, so viel steht fest, die den Urteilen Broders gleichgültig gegenüberstehen.
Henryk M. Broder Lizenz: Lizenz: GNU Free Documentation License, Version 1.2 Foto: Sven Teschke
Zuletzt hatte es Schlagzeilen gegeben als Broder von Evelyn Hecht-Galinski, der Tochter des langjährigen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden, verklagt wurde. Broder hatte gesagt, „antisemitische und antizionistische Aussagen“ seien Hecht-Galinskis „Spezialität“, da sie Israels Behandlung der Palästinenser mit der Judenpolitik der Nationalsozialisten verglichen hatte.
Als ich die Lobby des Bielefelder Hotels Tulip Inn betrete, sitzt Broder auf einem Sessel und wird von einem Fotographen porträtiert. Er spielt vor der Kamera mit seinem Image als Hallodri und posiert als Teufelchen. Vor dem Gespräch frage ich mich, wie es sein wird, ein Interview mit einem solch streitbaren Geist zu führen. Ausgesprochen angenehm, kann ich nun sagen. Broder ist höflich, lädt zu süßem Earl Grey Tee und nimmt sich mehr als anderthalb Stunden Zeit.
Herr Broder, vor etwa zwei Wochen wurde bei Plasbergs Sendung „Hart aber fair“ über Israel und den jüngst zu Ende gegangene Krieg diskutiert. Der ehemalige Bundesarbeitsminister Norbert Blüm vertrat in der Sendung die Position, die Abriegelung des Gazastreifens durch Israel sei ein Verbrechen und kollektive Haft. Was hätten Sie ihm an der Stelle von Herrn Friedman entgegnet?
Ich war an dem Abend in Tel Aviv, ich hatte gute Laune, habe gut gegessen und wollte mir nicht die Laune durch Herrn Blüm verderben lassen. Ich habe später Ausschnitte im Internet gesehen.
Ich hätte ihm gesagt, dass er ein Rad ab hat. Und zwar schon eine ganze Weile ein Rad ab hat. Blüm hat zum Beispiel, noch bevor er als Antisemit bezeichnet wurde, gesagt, er könne kein Antisemit sein, da er Christ sei und als Christ glaube er an Jesus und Jesus sei Jude gewesen. Da kann man nur sagen: Guter junger Mann, es gibt eine tausendjährige Geschichte christlichen Antisemitismus, die erst vor kurzem, vor 50, 60 Jahren offiziell vom Vatikan beendet wurde. Mit so was kann man nicht debattieren. Selbst wenn Blüm sagen würde, 2 mal 2 ist vier, würde ich das gründlich nachprüfen.
Sie sagten, drei der Gäste seien Antisemiten gewesen. Nennen Sie Ross und Reiter!
Herr Plasberg war es nicht. Der nette Herr Dreßler war es auch nicht. Beim Rest vertrauen Sie auf den Würfelbecher.
Was halten sie von Friedmans Auftreten in den Medien?
Also Friedman und ich sind nicht die dicksten Freunde, das weiß man. Ich finde ihn einen sehr klugen, schlagkräftigen und gut informierten Mensch. Wenn er noch einen Hauch von Selbstironie besäße, wäre er noch besser.
Vor einigen Wochen hatte die Duisburger Polizei die Tür eines Wohnhauses eingetreten, um Israel-Flaggen aus der Wohnung zu entfernen, die von außen sichtbar waren. Aufgebrachte demonstrierende Türken, Palästinenser und Araber nahmen Anstoß an diesen Fahnen und bewarfen sie mit Messern und anderen Gegenständen. Dabei wurden verfassungsfeindliche Parolen gerufen.
Wie beurteilen Sie das Vorgehen der Polizei?
Also erst einmal hat der Duisburger Polizeipräsident sich kurz darauf entschuldigt. Ich würde das nicht überdramatisieren. Ich glaube, dass die Polizisten vor Ort einfach überfordert waren. Vor allem waren sie überfordert mit dieser Art der militanten Demonstration und da haben sie halt in einem kurzen Moment der Umnachtung und der Vernebelung Ursache und Wirkung verwechselt und sich nicht um die verfassungsfeindlichen Parolen gekümmert und nicht um die Rufe „Tod, Tod Israel“, sondern um den Studenten, der die Israel-Fahne rausgehängt hat. Das ist sozusagen der Hitze des Gefechts geschuldet. Unnett, aber ich würde es auch nicht überbewerten. Ich würde hier der Polizei ausnahmsweise keine bösen Motive unterstellen. Der Vorgang ist zwar peinlich, aber es beweist gar nichts.
Normalerweise ist der Begriff Toleranz positiv assoziiert. Man denkt an die offene Gesellschaft und an das Recht eines jeden, selbstbestimmt zu leben. Sie dagegen kritisieren in Ihrem neuen Buch die Toleranz. Warum?
Weil der Toleranzbegriff heute nicht mehr positiv besetzt werden kann. Toleranz ist heute Rücksichtnahme gegenüber Stärkeren, die sich auf Kosten der Schwächeren durchzusetzen versuchen. Der Toleranzbegriff stammt noch aus einer Zeit, als es darum ging, die Schwächeren gegenüber den Stärkeren zu beschützen. Heute beanspruchen militante Moslems, die es mir verbieten möchten, Mohammed-Karikaturen anzuschauen, dass ich ihnen gegenüber Toleranz praktiziere und auf diese Karikaturen verzichte. Gleichzeitig aber sind die mir gegenüber nicht bereit auf gewalttätige Ausschreitungen zu verzichten.
Das heißt, der Begriff Toleranz, den ich eigentlich sehr schätze, war sehr vernünftig, als die Gesellschaft vertikal organisiert war. Heute haben wir es mit horizontalen Gesellschaften zu tun, in der viele Gruppen miteinander und gegeneinander konkurrieren. Und da geht es um Rechte, um Ansprüche und um die Garantie dieser Rechte und nicht mehr um Toleranz.
Ich bin als Nichtraucher immer wieder von Rauchern aufgefordert worden tolerant zu sein und es hinzunehmen, dass diese mich vergiften. Wenn das der Begriff der Toleranz ist, dann tu ich mich dem gerne verweigern.
Ich möchte Sie nicht zum Regierungssprecher Israels machen. Es ist jedoch so, dass Ihre Ansichten, gerade Israel betreffend, in Deutschland von hohem Interesse sind.
(Unterbricht) Wenn ich etwas sage? Keiner hört hin, nicht mal meine Familie.
Es gibt massive Kritik an Israels Kriegsführung. Auch unter denen, die ein militärisches Vorgehen Israels gegen die Hamas grundsätzlich befürworten. Es wurde kritisiert, dass die militärischen Schläge Israels unverhältnismäßig gewesen seien und zudem verbotene Phosphorgranaten verwendet wurden. Was antworten Sie auf diese Art der Kritik?
Ich halte Kritik prinzipiell für legitim und sich zu fragen, ob Israel angemessen und richtig zurückgeschlagen hat, ist eine vollkommen legitime Frage, die weder antizionistisch, antisemitisch noch bösartig ist. Aber im Hintergrund der Frage steht dann natürlich auch die andere Frage, wie man auf acht Jahre Beschuss mit einigen tausend Raketen verhältnismäßig reagiert. Was wäre da die Verhältnismäßigkeit der Mittel? Unverhältnismäßig wäre es gewesen, sich ebenfalls hinzustellen und gezielt auf Gaza Raketen abzuschießen. Ich glaube, dass ein Staat, der versucht, seine Bürger zu schützen, in einer extrem asymmetrischen Situation ist. Dieser Staat kann das Richtige nicht unternehmen.
Auch ich hätte mir gewünscht, es hätte eine Intervention stattgefunden, die nicht rund 1400 Menschen das Leben gekostet hätte.
Nur: Auch wenn diese Frage vollkommen legitim ist, würde ich mich freuen, wenn diese Frage von Leuten gestellt würde, die auch danach fragen, warum gerade auf Ceylon heftige Kämpfe stattfinden, bei denen Hunderte von Zivilisten ums Leben kommen. Aber das hat sich bis heute nicht bis Deutschland herumgesprochen. Zudem würde es auch keine Sau interessieren, weil bei dieser Auseinandersetzung keine Juden beteiligt sind. Deswegen halte ich die Kritik einerseits für legitim, aber andererseits frage ich mich, woher die Schieflage kommt und ob es wirklich um die leidende palästinensischen Zivilbevölkerung geht oder nur um eine gewisse Genugtuung und Schadenfreude über die Brutalität der Israelis.
Die Hamas, so denke ich, weiß sehr genau um die moralischen Bedenken Israels…
Ja.
Sie deponiert ihre Waffen absichtlich in Krankenhäusern, Schulen und Wohnhäusern. Sie versucht dieses Verhalten auch noch religiös zu rechtfertigen, indem sie sagt, diese getöteten Kinder und Zivilisten seien Märtyrer und entsprechen Allahs Wille.
Ist diese Strategie der Hamas nur möglich, da der Koran explizit zum Töten aufruft?
Das weiß ich nicht. Mich interessiert nicht, was im Koran steht, weil auch in der Bibel, im alten Testament ziemlich schreckliche Sachen stehen. An die Idiotien im alten und neuen Testament muss sich kein Christ und kein Jude halten, da gibt es genug Priester und Rabbis, die sich um eine Interpretation bemühen, die der heutigen Moral entspricht. Der Koran ist nicht das Entscheidende. Auch die Bibel ist ein Selbstbedienungsladen für alle, die sich daraus bedienen wollen. Wenn Leute den Koran ernst nehmen, kann ich nur sagen: selber Schuld.
Ich habe wirklich ein tiefes Mitgefühl für diese armen Leute, weil sie wirklich schrecklich leiden. Andererseits: Wenn ich die Begeisterung sehe, wie sie ihre Kinder als Sprengstoff tragende Puppen verkleiden, Zweijährige mit Waffen hantieren und Hamas-Stirnbänder tragen und sich als Märtyrer anbieten, dann ist mir auch nicht klar, worüber sie sich beschweren, wenn sie wirklich zu Märtyrern werden. Außer dass sie auf der Klaviatur des schlechten Gewissens der Europäer spielen wollen – und zwar ziemlich erfolgreich.
Und wo wir schon mal bei der Hamas sind:
Es ist nun wirklich der größte Unsinn, wenn hier immer verbreitet wird, die Hamas sei demokratisch legitimiert. Natürlich ist die Hamas in einer demokratischen Prozedur gewählt worden. Es wird immer davon gesprochen, die Hamas hätte die absolute Mehrheit errungen, was kompletter Unsinn ist, wenn Sie sich die Ergebnisse anschauen. Die Hamas hatte 44% und die Fatah 38% der Stimmen.
Das heißt, so krass war der Abstand nicht. Nur durch ein trickreiches Wahlsystem konnte die Hamas die absolute Mehrheit der Sitze erringen. Im Übrigen hatte auch die NSDAP nie mehr als 33% oder 34% der Stimmen und hat es dann durch Koalitionen geschafft, an die Macht zu kommen.
Darüber hinaus zeichnet sich eine demokratische Wahl nicht nur dadurch aus, dass das Prozedere demokratisch war, sondern auch das Nachspiel demokratisch ist. Die Hamas verfährt rücksichtslos und brutal mit Ihren Gegnern, wie es eine demokratische Partei nicht tun kann.
Und was die Hamas als demokratische Partei vollkommen disqualifiziert, ist, dass sie sich weigert, die Verträge und Verpflichtungen der vorigen Regierung zu respektieren.
Als Helmut Kohl gewählt wurde, hatte er vorher den Wahlkampf gegen Helmut Schmidts Ostpolitik geführt. Und dennoch hatte er dann als Kanzler sämtliche Ostverträge der SPD übernommen. Das ist internationales Recht, das muss sein. Genauso hat dann Schröder, als er an die Regierung kam, selbstverständlich alle Verträge der CDU übernommen, obwohl er vorher im Bundestag dagegen gestimmt hat. Insofern kann bei der Hamas von einer demokratischen Partei, von demokratischen Wahlen und von einer demokratischen Machtausübung nicht gesprochen werden.
Die Hamas ist eine brutale Junta, die zu ihrem eigenen Volk brutal ist.
Was glauben Sie, gibt es noch eine Möglichkeit, dass Israel und die Palästinenser dauerhaft Frieden schließen? Wenn ja: Wiese sähe diese Möglichkeit aus?
Ich werde mich nicht blamieren und Pläne entwerfen. Ich habe neulich auf einer jüdischen Gesellschaft gesagt, ich hätte einen wunderbaren Plan für den Nahen Osten: Die Israelis laden die Führer der Hamas zu einem Essen nach Tel Aviv ein, fliegen 200 schwedische Nutten ein, filmen das Ganze und stellen es am nächsten Tag ins Internet – dann ist der Konflikt vorbei.
Mein jüdisches Publikum in Zürich war von diesem Vorschlag nicht sehr überzeugt.
Ich finde den Vorschlag klasse und denke, die Geschichte geht schon so lange schief mit vernünftigen Lösungsvorschlägen, dass man es zwischendurch mit unvernünftigen Vorschlägen versuchen sollte.
Aber nein, ich sehe zur Zeit keine Option. Worauf es ankommt, ist, den Konflikt zu minimieren, zu verwalten. Europa muss sich an den Gedanken gewöhnen, dass es Konflikte gibt, die nicht lösbar sind – zumindest über einen überschaubaren Zeitraum.
Gibt es auf Seiten der Palästinenser gesprächsbereite Personen, mit wem könnte Israel verhandeln?
Aber ja, Abbas zum Beispiel. Er hat offenbar seine Kontrolle in der Westbank etabliert, natürlich mit Hilfe der Israelis. Ich finde es übrigens sehr interessant, dass Abbas von vielen linksüberzeugten deutschen Gutmenschen inzwischen als Quisling, Verräter bezeichnet wird. Offenbar ist nach dem Verständnis einiger Deutscher ein Araber, der Juden nicht umbringen will, ein Verräter.
Es gibt genug Palästinenser, die vernünftig sind, das sind selbstverständlich nicht alle blutrünstige Idioten, im Gegenteil. Die Palästinenser wollen auch nur normal leben. Unter den Umständen, die die Hamas diktiert, ist das nicht machbar. Die Hamas ist eine kleine Bedrohung für Israel, aber eine enorme Bedrohung für die Palästinenser selber.
Spricht man mit Arabern über den Gaza-Krieg, so kommt man irgendwann zum Grundkonflikt, der die Ursache dieser ganzen Gewaltspirale markiert:
Israel beansprucht das Land für sich, von dem die Palästinenser glauben, es gehöre ihnen. Ist dieser Grundkonflikt überhaupt lösbar?
Nein, das ist ja das Problem. Die Europäer glauben, dass wir hier einen Konflikt über ein Stück besetztes Land haben wie Eupen-Malmedy oder der Konflikt in Schlesien. So geht es nicht. Nach Ansicht der Hamas und Hisbollah geht es um ganz Palästina. Wenn das die Forderung ist, gibt es nichts mehr zu diskutieren. Dann kann Israel nur noch sagen: Der letzte macht das Licht aus und übergibt die Schlüssel an Herrn Nasrallah. Insofern ist es ein Konflikt, der nicht um Territorien geht. Für die militanten Palästinenser und Araber wäre Palästina auch dann besetzt, wenn es um einen Streifen Strand in Tel Aviv gehen würde.
Es gibt viele Stimmen, die behaupten, man hätte Ägypten durchaus mit diplomatischen Anstrengungen dazu bewegen können, die über dreihundert Tunnel zu zerstören, über die die Hamas in Gaza ihre Waffen bezieht, die sie dann auf Israel abfeuerte.
Ich weiß nicht, ob es Sinn macht, Druck auf Ägypten auszulösen, weil es ein chaotisches Land ist, das nicht mal seine eigenen Affären geregelt bekommt.
Wenn Sie das von Intellektuellen gelesen haben, würde ich es per se nicht glauben.
Bernard-Henri Lévy hatte sich in dieser Richtung geäußert.
Ja, Ja. Aus irgendwelchen Kaffeehäusern in Paris und Tel Aviv kann man immer gute Ratschläge geben.
Die ganze Welt, so scheint es, erhofft sich von Barack Obama als neuen Präsidenten die Lösung aller Probleme. Schafft er es, für dauerhaften Frieden zwischen den Kriegsparteien zu sorgen?
Ich hoffe es sehr, aber ich denke nicht. Ich schätze Barack Obama sehr und habe mich gefreut, als er gewählt wurde. Aber ich glaube nicht, dass es Erlöser oder Zauberer gibt. Ich finde die Haltung der Europäer absolut infantil. So sehr er sich bemüht, Obama kocht auch nur mit Wasser. Ich denke, die Leute werden am Ende schrecklich enttäuscht sein.
Sie haben 2007 den Börne-Preis erhalten für ihr aufklärerisches Engagement. Sie sagen, Sie glauben nicht an Erlöser und Heilsbringer. Hier klingt die Philosophie Poppers an, auf die Helmut Schmidt sich während seiner Kanzlerschaft so stark berief. Schätzen sie Popper?
Ich habe Popper gelesen und schätze ihn sehr. Ich glaube, es bedarf in der Politik eines pragmatischen Gaunertums. Ich schätze im Prinzip jemanden wie den syrischen Präsidenten Assad, da er korrupt ist. Mit korrupten Menschen können sie nämlich Geschäfte machen. Mit „Idealisten“, wie es die Hamas sind und wie es die Waffen-SS war, können sie keine Geschäfte machen. Mit korrupten Leuten, die sich für Frauen, Geld und gutes Leben interessieren, können sie Geschäfte machen.
Aber das hat wiederum mit Popper nichts zu tun.
Der neue Präsident der USA repräsentiert eine ethnische Minderheit. Wann glauben Sie bekommt Deutschland seinen ersten jüdischen Bundeskanzler?
Das ist irrelevant. Das interessiert mich nicht. Ich bin mit Frau Merkel sehr zufrieden. Ich möchte einen fähigen Bundeskanzler. Es ist mir völlig egal, an welchem Tag der Kanzler betet oder eben nicht betet. Danach kann man ein Land nicht beurteilen.
Wie beurteilen Sie die Zurückhaltung der islamischen religiösen Führer in Deutschland? Könnten diese nicht durch öffentlich wirksame Statements zur Ruhe aufrufen? Warum distanzieren diese sich nur vereinzelt von deutschen Kundgebungen, bei denen die Hamas gefeiert wird?
Ja, das hat mich auch sehr gewundert. Was mich interessiert, ist, wie die Logistik des Protests funktioniert. Wieso haben auf einmal alle dieselben Plakate? Das muss doch irgendwo hergestellt worden sei. Die Parolen, die Schilder und die Choreografien waren die gleichen. Ich glaube nicht an Verschwörungen, aber irgendjemand hat sich bemüht, das Ganze zentral zu steuern.
Ich war auch erstaunt, dass von den islamischen Würdenträgern kaum etwas kam. Vielleicht sind sie nicht imstande, die eigenen Massen zu zügeln, aber so schlau, die Masse nicht anzufeuern.
Sie sprachen in den siebziger Jahren davon, dass negative Erfahrungen mit einer subtilen Form von Zensur bewirkten, dass Sie sich zweimal überlegten über bestimmte Themen zu berichten. Beispielsweise kirchenkritische Beiträge oder über Burda, der von der Arisierung der Nazis profitierte. Bei welchen Themen, glauben Sie, greift 30 Jahre später die Schere im Kopf der Journalisten?
Ich glaube nicht, dass es heute eine Schere im Kopf gibt. Außer über das Thema „Sex in der Ehe“ können Sie heute über alles berichten. Damals hat der Staat interveniert. Ich sehe heute etwas viel Schlimmeres: Es gibt zwar keine Zensur, keine Reichsschrifttumskammer, aber eine Gleichschaltung von innen heraus.
Es gibt niemanden, der die Sprachregelung vorschreibt, aber alle Medien sprechen verniedlichend von „selbst gebastelten“ Raketen der Hamas. Als würden Sie sich hinsetzen und Weihnachtssterne basteln und auf Nachbars Balkon werfen.
Es wird von allen unterstellt, dass die Hamas eine soziale Bewegung ist. Wie wäre es damit, wenn man sagt, dass die Hamas eine Gang ist?
Ich finde, es ist nicht verkehrt, anzumerken, dass die Hamas sich ein soziales Gesicht zu geben versucht. Erst durch diese Differenzierung, kann man verstehen, warum so viele Palästinenser die Hamas unterstützen.
Ja, das ist richtig. Aber die SA hat auch Suppenküchen betrieben. Zeigen Sie mir eine Diktatur, die sich nicht auch sozial zu profilieren versucht.
Nur die Betonung des sozialen Gesichts führt dazu, dass man meint, es handelt sich um eine Art Heilsarmee.
Zum zweiten Teil des Interviews geht es hier lang: klack