„Kinder werden heutzutage vom Leben entfremdet“ Der Diplom-Psychologe Hubert Couturier, Lehrer für Psychologie und Sport an einem Wattenscheider Gymnasium, bietet seit über 25 Jahren einen psychologischen Beratungsdienst für Schüler an. Zusätzlich führt er eine therapeutische Praxis in Hattingen. Im Gespräch mit den Ruhrbaronen berichtet er von den Belastungen der Jugendlichen, dem Verlust der Selbstständigkeit und dem Weg hin zu einem freien Denken.
Ruhrbarone: Herr Couturier, was sind – aus Ihrer Erfahrung – Probleme, mit denen sich Schüler heutzutage auseinandersetzen?
Hubert Couturier: Natürlich kann ich hier nur die Probleme ansprechen, denen ich auch konkret in meinem Beratungsdienst begegne. Aktuell – besonders angesichts der verkürzten Schulzeit bis zur Stufe acht – gehören mit Sicherheit die stetigen Arbeitsüberlastungen und zu hohen Leistungsanforderungen zu den Hauptproblemen. Diese stehen wiederum in Verbindung mit fehlender Unterstützung von Seiten der Eltern oder des sozialen Umfeldes. Gerade die Vereinsamung, die viele Schüler empfinden, ist da eine massive Belastung. Der Zehnjährige, der mich aufsucht, ebenso wie der Abiturient fühlt sich häufig allein. Allein gelassen mit den Anforderungen, die an ihn gestellt werden, und allein gelassen mit der Angst, diese nicht bewältigen zu können. Die Angst zu versagen ist ein Thema, das über der gesamten Problematik im Lebensbereich Schule stehen kann. Es ist die subjektive Angst von Schülern, den Anforderungen ihres Lebens nicht gewachsen zu sein.
Woher kommt dieser Druck?
Der Druck kommt von mehreren Seiten – von Eltern, der Gesellschaft, aber auch von den Lehrern. Er summiert sich und baut aufeinander auf. Systematisch wird den Kindern eine Zukunftsangst suggeriert und schon in jungen Jahren verinnerlicht. Du musst Top sein, um es in dieser Gesellschaft zu etwas zu bringen.
Wie äußert sich dies bei den Kindern?
Sie setzen sich ab einem bestimmten Punkt selbst unter Druck. In meinen Beratungsgesprächen höre ich immer wieder den Satz: „Ich muss gute Noten schreiben, damit ich später einen guten Beruf bekomme.“ Die Kinder haben in einem dafür untypischen Alter bereits eine Leistungsorientiertheit angenommen, der sie oftmals nicht gerecht werden können.
Hat diese Belastung in den vergangenen Jahrzehnten zugenommen?
Selbstverständlich. Die Probleme der Jugendlichen hängen mit den gesellschaftlichen Entwicklungen zusammen. In den vergangenen sieben bis acht Jahren ging das gesellschaftliche Denken deutlich in die Richtung: Du musst Leistung erbringen und Karriere machen, damit du etwas bist! Von allen Seiten strömt dieser Gedanke auf die Kinder ein. Vor 20 Jahren kam es beispielsweise kaum vor, dass Kinder im Alter von 10 bis 14 Jahren bereits konkrete Vorstellungen ihres Lebensweges und ihrer späteren Berufe hatten. Heute begegne ich Elfjährigen, die mit absoluter Überzeugung sagen: „Ich werde Diplom-Ingenieur.“ Noch bevor Kinder in der Lage sind, sich mit ihrer Zukunft auseinander zu setzen und Erwartungen kritisch zu hinterfragen, sehen sie sich in einen Leistungsbunker gepfercht.
Demnach sind Jugendliche heute höheren Stressbelastungen ausgesetzt?
Auf jeden Fall! Stress hat mit dem Empfinden von Druck zu tun. Ursprünglich kommt dieser Druck von außen, allerdings wird er mit der Zeit von den Kindern verinnerlicht, weiterproduziert und damit auch potenziert. Selbst in Fällen, in denen keine übersteigerten Erwartungen von Seiten der Eltern wirken, setzen sich die Kinder zum Teil selbst diesem hohen Maß an Belastung aus.
Wie gehen diese Kinder dann mit dem Stress um?
Sie haben zum Teil so gut wie keine Freizeit, weil ihre schulischen Anstrengungen derart ausgedehnt werden, dass kaum Platz für Freiräume bleibt. Sie bekommen – ob aus eigenem Antrieb oder von Seiten der Eltern – Förderunterricht verordnet. Aus meinem Beratungsdienst kenne ich beispielsweise keinen Schüler, der nicht wenigstens in einem Fach Nachhilfe bekommt. Und das unabhängig von der Note. Eine Schülerin, die ich derzeit betreue und die in all ihren Fächern zwei bis drei steht, nimmt in drei Fächern Nachhilfe.
Was hat das für Konsequenzen, wenn einem Kind die Freizeit genommen wird?
Den Kindern fehlt einfach ein Entwicklungsraum. Ein Bereich, in dem sie durch eigenes Erfahren lernen können – durch eigene Entscheidungen, die sie selbstbestimmt fällen ohne die Vorgabe von Erwachsenen. Das Kind entscheidet, mit wem es sich umgibt, wo es hingeht, gegen welche Regeln es verstoßen möchte oder nicht. In der Schule wird letzten Endes nur durch Vorgaben gelernt. Es ist ein klar verordnetes Lernen. Das selbstständige Lernen allerdings, das so nur in der Freizeit möglich ist, ist für das Kind notwendig, um eine Freiheit des Denkens zu entwickeln.
Das hat zur Folge?
Die Kinder werden – ich will es mal marxistisch formulieren – entfremdet, entfremdet vom Leben. In jedem Falle werden sie aber, wenn man es weniger pathetisch sagen möchte, realitätsfern. Und daraus bildet sich wiederum weitergedacht eine sehr schmalspurige Lebensperspektive.
Welche psychischen Erkrankungen resultieren aus einer derartigen Entwicklung?
In erster Linie sicherlich Depressionen. Dann Ängste und Angststörungen, häufig beides zusammen.
Auf welche Anzeichen sollten Eltern und auch Lehrer achten?
Pauschal gesagt auf Veränderungen. Ein Warnsignal ist, unabhängig von den Entwicklungen in der Pubertät, die natürlich mit Veränderungen einhergehen, wenn relativ plötzlich das Verhalten eines Jugendlichen umschwenkt. Beispielsweise im Umgang mit anderen Personen, das kann Isolation vom Freundeskreis bedeuten aber auch ein hohes Maß an Aggressivität und Streitsucht. Meistens bewegen sich die Verhaltensänderungen zwischen den Polen: extremer Rückzug oder extreme Offensivität. Der Schüler gerät aus seiner Mitte, driftet in Randbereiche ab. Plötzliche und deutliche Leistungsabfälle sind ebenfalls Indikatoren für Probleme.
Eine Schwierigkeit für Außenstehende, Warnsignale zu erkennen, ist jedoch, dass häufig Veränderungen geschehen, die nicht direkt beobachtet werden können, die sich dann leider erst rückblickend aufzeigen lassen.
Führen diese Verhaltensänderungen nicht auch wieder zu neuen Problemen und damit zu Stress?
Natürlich. Fällt jemand aus der Norm und verhält sich in den Augen der anderen unnormal, neigen einige Kinder dazu, diesen zu mobben. Mobbing in unterschiedlichen Varianten hat in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Das betroffene Kind wird ausgegrenzt, fühlt sich noch stärker isoliert, allein gelassen und erfährt damit wieder ein zusätzliches Maß an Stress.
Kommt es auch zu Burnout-Fällen bei Jugendlichen?
Durchaus. Wenn Kinder einfach nicht die Talente haben, um ihren Anforderungen gerecht zu werden und dennoch weiter unter Druck gesetzt und vergeblich in Förder- und Nachhilfeunterricht geschickt werden, dann geben sie irgendwann auf, wirken schlapp und ausgelaugt. Im Extremfall verlieren sie jegliche Perspektive. Zum Teil wäre es in diesen Fällen sinnvoller, einen Schulwechsel vorzunehmen. Viele Eltern halten allerdings weiterhin an der Schulform Gymnasium fest. Zum Teil ist es mein Eindruck, dass es den Eltern is wichtiger ist, dass ihr Kind einen erwünschten Abschluss erlangt als dass es dem Kind gut geht. Dies muss so nicht immer beabsichtigt sein, dennoch ist es das Resultat. Leider gehen einige Eltern kaum auf Vorschläge ein, die eigentlich zum Wohle des Kindes gedacht sind.
Was raten Sie Schülern, um diesem Druck zu entgehen? Was sind also Präventionsmaßnahmen, um nicht in einer psychischen Erkrankung zu enden?
Das Erste wäre, die Belastungen durch sinnvolle Arbeitsstrukturierung zu senken. Schüler sollten für sich eine Art Zeitmanagement entwickeln, das heißt, Hausaufgaben zu erledigen oder zu lernen, wenn sie es wirklich wollen. Sie sollten anfangen ihren Tagesablauf selbst zu strukturieren und Entscheidungen treffen. Natürlich kollidiert das häufig mit den Vorschriften der Eltern und ist in vielen Fällen schwer umzusetzen. Auch die Schule hat da Probleme, dies den Eltern zu vermitteln. Sie haben zu Hause einfach die „Territorialgewalt“.
Wenn die Schüler dann vor ihren Aufgaben sitzen, sollten sie nicht blind durcharbeiten, sondern zeitlich dosieren, auch mal Pausen einplanen und sich Erholungen gönnen. Die Jugendlichen müssen lernen ihre Freiräume, also ihre Freizeit zu schützen. Gegebenenfalls müssen dafür unnütze Tätigkeiten, wie den halben Nachmittag spielend vor dem Computer zu verbringen, reduziert werden.
Dies hilft jedoch nur den Schülern, denen es an Zeit fehlt. Was ist mit den Kindern, die gewisse Erwartungen einfach nicht erfüllen können?
Ein neues Zeitmanagement ist der erste Schritt, um Belastungen zu reduzieren. Ebenso ist es notwendig für das Kind, die Leistungserwartungen, die gestellt werden, für sich zu relativieren, das bedeutet, eine kognitive Umstrukturierung vorzunehmen. Es ist nicht schlimm, wenn mal eine Klassenarbeit schief läuft, oder es mal eine schlechte Note gibt. Es gilt sich von dem gesellschaftlichen Denken freizumachen, immer nur der Erste sein zu müssen. Gerade Kinder im kritischen Alter von 10 bis 14 Jahren schauen bevorzugt Sendungen wie DSDS oder Germanys Next Topmodel. Was dort gezeigt wird, ist eine entwürdigende Art mit Menschen umzugehen, die den Ansprüchen nicht genügen. Dies verinnerlichen die Kinder. Über längere Zeiträume hinweg zeigt diese Infiltration des Denkens natürlich immer größere Auswirkungen.
Der Schüler will lernen. Wie geht er es am Besten an?
Das Kind muss anfangen, den Weg des Lernens nicht als notwendiges Übel zu empfinden, sondern als Weg, etwas zu entdecken. Es sollte verinnerlichen, dass es aus eigener Kraft etwas erreichen kann und daraus Freude und Bestätigung ziehen. Reframing ist in diesem Zusammenhang ein wichtiger Bergriff. Der Schüler stellt etwas, hier das vorgegebene Lernen an der Schule, in einen anderen Rahmen. Er lernt nicht, weil es von außen verlangt wird, sondern weil er persönlich etwas davon hat. Da kann auch mit (Selbst)Belohnung, also einer gewissen Form der Konditionierung gearbeitet werden. Wenn das eine erledigt ist, gönne ich mir etwas Gutes. Lernen sollte als positiv empfunden werden.
Dieser Ansatz verlangt allerdings Eigeninitiative des Schülers. Was sind Gründe, warum viele Kinder sich ihrer Situation ergeben?
Da der Druck von außen auf die Kinder einwirkt – also external erzeugt wird – neigen Schüler immer stärker dazu, ihre Misserfolge auch external zu attribuieren und sie eben nicht internalen Faktoren zuzuschreiben wie der erbrachten Leistung oder dem eingesetzten Lernaufwand – welche für das Kind veränderbar wären. Die Schüler werden von außen bestimmt, bekommen die Noten, die Rückmeldungen von anderen. Wenn dazu gehäuft Sätze vorkommen im Sinne von „Du bist zu mehr nicht fähig“, legt das dem Schüler natürlich nahe, dass an seiner Situation nichts zu ändern ist. Es wird den Kindern systematisch ein Gefühl der Hilflosigkeit vermittelt, welches wiederum eine der klassischen Ursachen einer Depression ist. Die externale Kausalatttribuierung führt ganz einfach zu einer Abnahme der Selbstständigkeit und damit letztlich auch der Bereitschaft selbst zu denken. Es kommt ja schließlich eh alles von außen.
Wie ist dem zu entgegnen?
Die Kinder lernen einfach nicht Verantwortung für sich und ihre Taten zu übernehmen. Hier wäre es wichtig, dass Eltern sich sukzessive im Laufe der Entwicklung des Kindes zurücknehmen, ihnen Eigenständigkeit zugestehen. Das gelingt leider nicht immer, weil Eltern oftmals der Auffassung sind, sie müssten Kontrolle ausüben, damit ihr Kind Leistung erbringt. Diese Vorwegnahme von Entscheidungen ist das Schlimmste für eine freie Entwicklung der Kinder hin zur Selbstständigkeit und zieht sich leider durch alle Bereiche: Der Lehrer macht Vorschriften, ebenso die Eltern. Indirekt wird auch durch die Gesellschaft und die Medien Druck ausgeübt. Es ist einfach immer schwieriger geworden, überhaupt Entscheidungen zu treffen.
Ein gesellschaftliches Problem also?
Wir reden hier ja von Randbereichen. Es ist immer ein Zusammenspiel von mehreren Faktoren, sowohl von gesellschaftlichen als auch familiären. Es gibt auf der einen Seite die vernachlässigten Kinder, auf der anderen die überbehüteten. Zwischen diesen zwei Extremen, zwischen Über- und Unterforderung, bewegen wir uns. Im Falle der überbehüteten nehmen die Eltern den Kindern jede Entscheidung vorweg, im Falle der vernachlässigten können die Kinder überhaupt nicht entscheiden, weil sie von Anfang an mit Entscheidungen überfordert worden sind, anstatt behutsam an sie herangeführt zu werden. Das ist in den vergangenen Jahren massiver geworden, die Randbereiche – meiner Erfahrung nach – größer.
Ich glaube allerdings, dass alle Kinder nach einer gewissen Zeit der Anleitung Verantwortung für sich übernehmen. Nur dann können sie merken, dass sie ihr Leben selbst in der Hand haben und entsprechend etwas ändern können.
Was wären Präventionsmaßnahmen von Seiten der Behörden beziehungsweise der Schulen?
Abstrakt gesagt Freiräume für die Kinder zu schaffen, ihnen die Möglichkeit bieten, überhaupt Entscheidungen treffen zu können und ihnen die entsprechende Zeit dafür zuzugestehen. Und das meine ich nicht im Sinne irgendeiner Kuschelpädagogik, es geht vielmehr darum der Entwicklung und den Bedürfnissen der Kinder gerecht zu werden.