Manchmal ist es schwer, die Wahrheit zu finden. Wer ist Täter und wer Opfer? Auch im Fall der Uniklinik Münster, Fachbereich für Herztransplantationen, ist das so. Ich kann in die Details eindringen. Versuchen zu verstehen, und dann kommt eine neue Wendung. Was ist passiert, was ist wahr?
Die Uniklinik in Münster Foto: Münster
Vor wenigen Wochen ging ein anonymer Brief bei der Staatsanwaltschaft Münster ein. Ein Insider beschrieb dort Unglaubliches. Es ging um tote Patienten, einen arroganten Leitenden Arzt sowie Mitwisser in weiß. Der Brief spielte mit den Urängsten der Menschen in einer Klinik. Kann sich ein Patient auf seinen Doktor verlassen, wenn er bewusstlos und nackt auf einem OP-Tisch liegt? Wenn sein Herz herausgeschnitten wird?
Der namenlose Briefeschreiber jedenfalls raubte den Glauben an die perfekte Versorgung in Münster. Er beschrieb in 25 Einzelfällen teilweise detailreich angebliche Fehler und ärztliche Anmaßung. Ein Mann erhielt vermeintlich ein viel zu schwaches Frauenherz und wird noch 15 Mal nachoperiert, bis er an Blutvergiftung stirbt. Nach einer anderen, zunächst glatten Transplantation sei Blut aus einer Naht an der Lungenschlagader geflossen und der verantwortliche Arzt habe das ganze Herz einfach wieder herausgeschnitten. Insgesamt warf der Anonymus der Klinik vor, für 13 Leichen verantwortlich zu sein. Eine Art Mord im OP, zumindest aber Totschlag, so glaubte der Briefeschreiber zu wissen. Und die Täter dabei alles zu vertuschen.
Die Schreiben gingen auch an Angehörige der Toten, an Mitarbeiter der Klinik und an das Düsseldorfer Wissenschaftsministerium. So als wolle der Schattenmann sicher gehen, dass seine Botschaft bei den Betroffenen ankommt und der Klinik weh tut.
Die Staatsanwaltschaft reagierte auf die Schreiben. Mitte Juli wurde die Herzchirurgie der Klinik durchsucht. Damit nicht genug: Etliche Polizisten und Staatsanwälte durchkämmten die Wohnungen und Dienstzimmer von zwei duzend Ärzten. Etliche Patientenakten wurden sichergestellt und die Öffentlichkeit informiert. Ein Skandal.
Seither werden die Unterlagen geprüft. Es wird in den Dokumenten nach Fehlern gesucht, nach Zweideutigkeiten, nach offenen Fragen. Aber sind diese überhaupt zu finden, und die Vorwürfe gerichtsfest zu beweisen?
Man ahnt nur, wie schwierig diese Fragen zu beantworten sind. Immer wieder unterliegen Opfer von Behandlungsfehlern vor Gericht, wenn sie sich wehren wollen. Sie müssen einen Arzt verklagen, dem sie eben noch vertraut haben. Sie müssen beweisen, dass der Herr Doktor Murks gemacht hat. Selbst beste Gutachter können selten einen bewussten Fehler nachweisen. Noch schwieriger ist es, wenn kriminelle Mediziner Akten frisieren.
Selten gibt es harte Beweise, wie beispielsweise eine Tonbandaufnahme aus einem anderen Verfahren, das der Welt vorgespielt wurde. Auf dem Band aufgezeichnet: ein Streit zwischen einem Chirurg und einer Mitarbeiterin im OP. Die Mitarbeiterin weigert sich dem bewusstlosen Patienten mehr Betäubungsmittel zu spritzen. Der Arzt flucht, schmeißt das Skalpell weg und haut ab. Man hört sogar die Tür zuknallen.
In Münster ist der Fall allerdings nicht so eindeutig. Die Klinik streitet alle Vorwürfe kategorisch ab. Das erwartet man. Aber man erwartet nicht, dass der leitende Oberstaatsanwalt Wolfgang Schweer berichtet, wie sich Ermittlungen zum Teil in Luft auflösen: Eine angeblich an den Operationsfolgen verstorbene Frau erfreue sich etwa „bester Gesundheit“.
Gibt es also vielleicht gar keinen Skandal? Diesmal führen die Spuren weiter zurück. Sie führen in die Intrigenwelt einer deutschen Klinik, in das soziale Geflecht der Ärzte und Schwestern. Die Spuren führen zu der renommierten Herzchirurgin Sabine D., die auf der Karriereleiter nach oben wollte.
Sabine D. war die designierte Nachfolgerin des aktuellen Leiters des Transplantationszentrums. Sie sollte Chefin werden anstelle des Chefs. Doch irgendwas ging schief. Es kam zu Differenzen. Die Klinik kündigte ihr im Winter den Vertrag wegen „unüberbrückbarer Differenzen”.
Intern ist die Rede davon, dass die Doktorin im Hebst vergangenen Jahres der Rektorin der Uniklinik ein Schreiben über angebliche Mängel in der Herzchirurgie vorlegte. Vorwürfe gegen ihren Chef, dessen Nachfolgerin sie werden sollte. Dieses Schreiben soll nach Informationen der Staatsanwaltschaft nahezu deckungsgleich mit den anonymen Schreiben gewesen sein, die bei Angehörigen der toten Patienten eingingen – auch dort war immer wieder die Rede von unhaltbaren Zuständen.
Erstaunlich auch, dass die Anklagebriefe kurz nach der Kündigung von Sabine D. bei der Staatsanwaltschaft und den Hinterbliebenen eintrafen.
Schon bald hatte die Klinik Münster den Verdacht, Opfer einer Rachekampagne zu sein. Die Rektorin erstatte Anzeige wegen Verleumdung und übler Nachrede. Zuerst gegen Unbekannt. Später gegen Sabine D.
Schließlich ging alles schnell. Im August vernahm die Polizei die Herzchirurgin. Im September durchsuchte sie die Wohnung der Frau und ihres Lebenspartners. Sie beschlagnahmte USB-Sticks, Datenträger, Computer und Schreiben.
„Wir haben eine Reihe von Indizien und, wie wir meinen, Beweise”, sagt Oberstaatsanwalt Schweer. Damit meint er, dass er sicher ist, in Sabine D. den Anonymus erkannt zu haben.
Aber heißt das auch, dass alle Vorwürfe falsch sind?
Die Staatsanwaltschaft sagt, sie habe die Ermittlungen wegen der Todesfälle nicht eingestellt. Spätestens Anfang Oktober erwartet Oberstaatsanwalt Schweer ein Gutachten. Zwei externe Fachleute und vier Wissenschaftler der NRW-Landesregierung wollen klären, was sich tatsächlich hinter den Todesfällen verbirgt. Böse Gerüchte einer gescheiterten Karrierefrau oder ein Klinikskandal. Noch ist die Wahrheit schwer zu erkennen.
Doch Oberstaatsanwalt Schweer ist optimistisch: „Warten wir es ab, wir kriegen alles auf den Tisch.“