Den Fall, den Annika Joeres für die Frankfurter Rundschau in Hagen aufklärt, ist wie ein geheimes Puzzle. Zuerst ist ein Mann tot. Ein Türke, offensichtlich total bekokst. Er starb auf der Polizeiwache. Er war gefesselt. Wehrlos. Und dann leblos. Annika hat sich gefragt, wie konnte das passieren? Die Antwort war: Das Kinn des Mannes wurde auf dessen Brust gedrückt. Daran ist er erstickt.
Ich habe einen Selbstversuch gemacht. Ich habe meinen Kopf auf die Brust runtergedrückt. Und versucht zu atmen. Aufgeregt. Hektisch. Ich habe keine Luft gekriegt. Je aufgeregter ich wurde. Umso weniger Luft habe ich bekommen. Mir wurde schlecht.
Wer das bei einem Menschen macht und weiter zudrückt, weiß, dass dieser Mensch sterben wird. Nein, das ist nicht das richtige Wort. So stirbt man nicht. Man verreckt elendig – hingerichtet, wie mit einer Garrotte.
Die Polizei in Hagen hat das getan. Sie hat den Kopf des Türken auf dessen Brust gedrückt. Und dann fixiert. Mir einer Kordel? Mit einem Band, mit Klebestreifen? Was weiß ich?
Ich weiß: Adem Özdamar ist verreckt.
Aber das ist nicht alles. Es geht weiter. Immer weiter. Der unglaubliche Fall führt Annika bis in die dreckigen Details. Es ist eine Geschichte, die man nicht in NRW erwartet.
Annika bekommt einen Anruf. Ein Mann will anonym bleiben. Er berichtet von einer weiteren Leiche. Wieder war die Polizei im Spiel. Wieder mit der gleichen Tötungstechnik. Diesmal ist ein Franzose verreckt. Er wurde vor einem Jahr umgebracht. In irgendeiner Klinik, gefesselt, erstickt. Drei Polizisten standen um ihn herum. Niemand hat über diesen Toten berichtet. Es war ein Schwarzer. Im Obduktionsbericht heißt es, der Franzose sei an einem Hirntod in Folge einer Reanimation zu Grunde gegangen. Wie zynisch ist das? Nur einer der tot ist, kann wiederbelebt werden. Die Mediziner verschieben das Ende des Menschen mit ihrer verquasten Formulierung auf einen Zeitpunkt, an dem die drei Polizisten ihre Hände schon wieder waschen konnten. Aber das ändert nichts daran. Die drei Männer haben diesen Tod auf dem Gewissen. Und dabei hilft ihnen kein Gutachten. Das müssen sie mit sich selbst ausmachen. Sie haben getötet.
Der Todesfall wurde verschwiegen. In Hagen, NRW, Deutschland. Die Staatsanwaltschaft sah keinen Grund weitere Einzelheiten zu dem Tötungsdelikt zu veröffentlichen. Ermittlungen? Hier ein paar Fragen, da ein Gutachten. Und den Mann verscharren, ohne das die Öffentlichkeit etwas davon erfährt. Das war es. Ein Menschenleben wurde eine Notiz in den Akten.
Wie gesagt, wir reden nicht von Simbabwe. Wir reden von Hagen, wo der Mann verschwand. Die Lokalpresse hat nicht von dem Toten berichtet. Und das obwohl die Hagener Polizei etwa sechs Pressemitteilungen am Tag raushaut. Vom Fahrradklau bis zum abgebrochenen Autospiegel.
Annika schreibt, die Umstände des Vorfalls erinnern bis ins Detail an den Tod von Adem Özdamar. Auch der 26-jährige Türke fiel im Februar auf einer Hagener Polizeiwache während der Fesselung ins Koma und verstarb wenige Wochen später. Sein Todesfall wird inzwischen von der türkischen Justiz untersucht, die Ermittlungen der deutschen Behörden dauern an.
Bei dem toten vergessenen Schwarzen bestätigt die Staatsanwaltschaft jetzt nur, dass der Mann sich in einer Hagener Klinik befand, als die Polizeibeamten ihn fixierten. Laut Oberstaatsanwalt Reinhard Rolfes litt er unter einer Psychose und weigerte sich, Medikamente einzunehmen. Drei Polizeibeamte sollen ihn daraufhin an Händen und Füssen gefesselt haben. Zur "Verhinderung von Beiss- und Spuckversuchen" wurde außerdem sein Kinn fixiert. Wie lange und wie sein Kinn fest gebunden und damit seine Atmung möglicherweise behindert wurde, will die Staatsanwaltschaft nicht Annika gegenüber beantworten.
Dabei ist unter Medizinern und auch Polizeibeamten die Gefährlichkeit dieser Maßnahme bekannt. Die Fixierung kann die Atmung behindern, auch die Zunge kann in den Rachen fallen und diesen gänzlich verschließen. Bei erregten Personen, wie es psychiotische Menschen sind, kann eine reduzierte Sauerstoffaufnahme schon nach einer Minute zu einem Herzstillstand führen.
Zahlreiche Fragen lässt die Staatsanwaltschaft Annika gegenüber offen. Wieso haben Polizeibeamte den Mann fixiert? Für Ärzte und Pflegepersonal auf psychiatrischen Stationen ist es Routine, dass sich Menschen mit Psychosen gegen ihre Medikamenteneinnahme wehren. Warum wurde sein Kinn fixiert? Schließlich war er an Füßen und Händen schon mit Fixierbändern gefesselt und nicht in der Lage, Beamte oder Pflegepersonal zu beißen.
Nicht einmal die Dauer der Ermittlungen will die Staatsanwaltschaft Annika gegenüber mitteilen. Sie beruft sich bei ihrer Verweigerung auf das "im allgemeinen Persönlichkeitsrecht wurzelnde Geheimhaltungsinteresse der beteiligten Personen". Staatsanwalt Rolfes sieht sich "außer Stande, weitere Angaben zum Tatort und zu den Beteiligten zu machen." Abgesehen davon, dass sich Polizeibeamte nicht auf das Persönlichkeitsrecht berufen können und auch die Person des Verstorbenen nicht durch Angaben seiner Todesumstände verletzt wird, hat die Hagener Polizei im Falle von Adem Özdamar sehr persönliche Umstände preisgegeben. Mehrfach gab sie an, er solle Kokain konsumiert haben.
Beauftragt mit der rechtsmedizinischen Begutachtung, die bei jedem Todesfall in Anwesenheit von Polizeibeamten obligatorisch ist, wurde wie im Fall Özdamar das Dortmunder Institut für Rechtsmedizin unter der Leitung Ralf Zweihoff beauftragt. Sie kamen in ihrem Gutachten über den verstorbene Franzosen und im vorläufigen Gutachten zu Adem Özdamar zu der gleichlautenden und entschuldigenden Formulierung: "Hirntod durch Herz-Kreislauf-Stillstand als Folge eines Zustandes nach Reanimation."
Auch hier reagierte die Staatsanwaltschaft erst auf den Druck der Öffentlichkeit. Schon einen Tag nach der Obduktion des Leichnahms von Adem Özdamar verlautbarte sie, es gebe keinerlei Anhaltspunkte für eine Schuld der elf beteiligten Polzisten am Tode des Deutsch-Türken. Nach kritischen Medienberichten vor allem durch Annika in der Frankfurter Rundschau und in türkischen Zeitungen wurde die Verkündung der endgültigen Ergebnisse immer weiter verschoben. Inzwischen sind zwei Monate vergangen. Weder die deutschen noch die türkischen Gerichtsmediziner wollen bislang ihre Ergebnisse veröffentlichen.
Es ist zu vermuten, dass der verstorbene Franzose keine Familie hinterlassen hat, die die Vorgänge um seinen Tod ans Tageslicht zerrt wie die Angehörigen von Özdamar. Sein Sterben war bislang nur eine interne Aktennotiz.
Und sein Name ist unbekannt. Die Staatsanwaltschaft will nicht sagen, wie der Mann heißt.
Annika bleibt am Ball. Sie sucht Zeugen. Sie will wissen, wie der Tote Franzose heißt. Sie will wissen, wer hat ihn getötet. Welche Polizisten sind an der Tat beteiligt? Sind es die gleichen, die auch Adem Özdamar auf dem Gewissen haben?
Und vor allem, warum wird soviel vertuscht?