Ralf Bönt ist Schriftsteller und Gründungsmitglied im PEN-Berlin. Der Verband steht seiner Ansicht nicht nur wegen einen Antrags zum Thema Gaza vor einer Richtungsentscheidung.
Die Bundesregierung aufzurufen, alles in ihrer Macht Stehende daran zu setzen, einen Waffenstillstand in Gaza zu erwirken, – wer wollte den nicht unterschreiben? Dazu einladen werden am 1. November auf der Vollversammlung der Schriftstellervereinigung PEN Berlin, die dieses Mal in Hamburg stattfindet, ein Gruppe um die Autoren Tomer Dotan-Dreyfus und Susan Neiman, die zusammen mit der aktuellen Sprecherin des PEN Berlin, Eva Menasse, das Zentrum der kritischen Haltung gegenüber Israel bildet. Schon im letzten Jahr gab es helle Aufregung um diese Haltung. Prominente und in den Worten Menasses wortgewaltige Kolleginnen wie Ernst Piper und Sara Rukaj traten leider aus dem Verein aus und beraubten sich damit ihrer Stimme. Eine äußerst umsichtig auf Facebook vorgetragene Anregung Stephan Wackwitz‘, nach dem Schwarzen Schabatt eine Solidaritätsadresse für Israel auszusprechen war ebenso erfolglos wie mein gleichlautender interner Versuch, den ich unter anderen mit Menasse besprach.
Allerdings war die von Thea Dorn orchestrierte Lesung unter dem Titel „Nie wieder ist jetzt“ unter Teilnahme von Herta Müller, Seyran Ateş, Ulrich Matthes und anderen so gut besucht, dass manche Gäste im Foyer der Übertragung auf Bildschirme folgten. Gelesen wurden Texte u.a. von Jean Améry, Hannah Arendt und der wertvolle Aufsatz Jean-Paul Sartres, in dem er die Haltung der Antisemitinnen durch die „Furcht vor dem Menschsein“ kennzeichnet: „Der Antisemit ist der Mensch, der ein unbarmherziger Felsen, ein rasender Sturzbach, ein vernichtender Blitz sein will: alles, nur kein Mensch.“
Leider geriet dieser in Ton und Haltung so angemessene Abend in der Diskussion der folgenden Wochen ein bisschen in Vergessenheit und das Wort vom Antisemitismus unter schrecklichen Abnutzungsverdacht. Eva Menasse etwa vertrat in ihren burschikosen und ständig die Kategorien wechselnden Argumentationen die Ansicht, es gäbe anders als behauptet harmlosen Antisemitismus. Solche Impulse sind schon wichtig, um automatisiertes Sprechen, Denken und Urteilen unmöglich zu machen und die öffentliche Debatte am Leben zu erhalten. Ihr Beispiel, es gäbe etwa Leute, die ihren Kindern die Heirat mit Juden untersagten, klingt aber nur harmlos. Unter Antisemitismus sind auch nicht Abneigung gegen religiöse Symbole an sich oder Vorbehalte gegen die rechte Regierung in Israel gemeint, sondern der Hass auf alle Juden. Der macht bekanntlich keineswegs vor Gewalt Halt. Muss man wirklich an das Progrom vom 4. Juli 1946 erinnern, dem im polnischen Kielce über 40 nach dem Krieg heimgekehrte Juden zum Opfer fielen, um den Kontext des Schwarzen Schabatt herzustellen? Antisemitismus will zerstören. Es gibt keine harmlose Variante und auch keine niedliche, wie man beim Lesen des ganzen Antrages von Dotan-Dreyfus, Neiman und ihren Kolleginen kurz zu denken geneigt sein könnte.
Denn der Antrag listet viele Journalisten und Schriftsteller unter den palästinensischen Opfern auf und zitiert den FOX Reporter Trey Yingst mit der Forderung, dass Journalisten geschützt werden müssen, insbesondere palästinensische Journalisten. Yingst betont allerdings auch, dass dieser Krieg am 7.10.23 von der Hamas begonnen wurde, ohne dass dies im Antrag Erwähnung fände. Es muss hier nicht wiederholt werden, wie die Hamas an dem Tag vorging.
Da der Antrag weit mehr als ein Dutzend palästinensische Opfer und keine israelischen bei ihren Namen nennt, sollen hier aber Shai Regev und Ayelet Arnin erwähnt sein. Die beiden jungen Frauen wurden auf dem Supernova Music Festival getötet. Vivian Silver, 1949 geboren und 2019 mit dem Bremer Friedenspreis geehrt, war Geschäftsführerin des Negev Institute for Strategies of Peace and Development, einer NGO mit Sitz in Beʾer Scheva, die sich für ein Zusammenleben von Juden und Arabern engagiert und über 45.000 Mitglieder hat. Sie lebte in dem Kibbuz Beʾeri, bis die Hamas sie am Schwarzen Schabatt tötete.
Ich möchte gerne davon abraten, die Mitgliedschaft des PEN Berlin, die Öffentlichkeit und die Bundesregierung zu Bemühungen um einem Waffenstillstand zu drängen, ohne diese Toten zu erwähnen. Ich rate auch davon ab, den Verlust von Bibliotheken, Verlagshäusern und Kulturzentren zu betrauern ohne dazu zu sagen, um welche Kultur es sich dabei handelt. Der Journalist Andrian Kreye beschrieb in seinen „Berichten aus der Kampfzone“ schon vor vielen Jahren, wie die Hamas den Märtyrerkult in Gaza durchgesetzt hat, und wie bestimmend er heute ist. Die bestimmende Asymmetrie im Gazakrieg ist nicht die Überlegenheit des israelischen Militärs, die man mit einer romantischen Volte zur Ungerechtigkeit an sich verklären kann, wie Noam Chomsky es tut. Die bestimmende Asymmetrie ist die Todesverliebtheit, besser gesagt: die Verachtung des Lebens eines dem Märtyrerkult verfallenen Volkes, das ein das Leben liebendes Volk angreift. Perfekt illustriert hat das Ismail Haniyya, als er nach dem Tod seiner Söhne hoch erfreut Mittel- und Zeigefinger gespreizt am Krankenbett seiner Frau in die Kamera hielt. Wieso eigentlich benennt man nicht deutlicher die Gewalt gegen die israelischen Soldatinnen, die in dieser Haltung der Geiselnehmer zum Tragen kommt?
„Jedes Mal,“ schrieb Kreye über den Märtyrerkult, „preisen die Imame von Gaza die Namen der neuen Märtyrer. Der Tod des Helden als Schlüssel zum Paradies. So wie der japanische Kaiser seine Kamikaze-Bomber in die Schlacht schickte und die iranischen Ayatollahs ihre Kinder. Es wird keinen Frieden geben. Die Märtyrer gehorchen dem Wort Gottes. Damit kann man nicht verhandeln.“ Es ist leider noch schlimmer, man kann in einem derart gestalteten Krieg vor dem Völkerrecht und der Moral des Westens keinen Stich machen. Der Märtyrerkult lässt keine Wahl, er bringt unsere Vorstellungswelt zum Zusammenbruch, die jüdische Maxime, eben gerade ein Mensch zu sein, muss hier versagen. Und doch, das ist allen klar, muss irgendwann verhandelt werden. Nachdem der Kult gebrochen wurde. Das geht offenbar nur militärisch.
Deshalb ist es tragisch, wenn im Antrag von Dotan-Dreyfus, Neiman und Kolleginnen zum Drängen auf Waffenstillstand der Eindruck erweckt wird, das israelische Militär habe das Ziel die Kultur von Gaza zu zerstören und dies nach einem uns Schriftsteller besonders angehenden Zivilisationsbruch klingt. Das freie Wort gibt es zum einen dort nicht, und die Charta des PEN – man kann es offenbar nicht oft genug sagen – gibt zum anderen den Kampf gegen den Missbrauch der Redefreiheit zur Aufgabe, um eben diese zu schützen. Einfach gesagt: Lügen fallen nicht unter Schutz, vor allem nicht – auch das muss man offenbar extra sagen – wenn sie Menschenleben kosten, und zwar auf beiden Seiten.
Man muss nun auch nicht lange suchen, um unter den im Antrag betrauerten Autorinnen befürchtete Belege der bekannten Probleme zu finden. Der prominenteste unter ihnen ist Refaat Alareer, ein palästinensischer Lyriker, Schriftsteller, Essayist, Aktivist und Hochschullehrer. Alareer wurde am 6. Dezember 2023 bei einem israelischen Luftangriff in Gaza zusammen mit seinem Bruder, dessen Sohn, seiner Schwester und deren drei Kinder getötet. In einem BBC-Interview hatte er zuvor den Schwarzen Schabatt als „einen Präventivschlag des palästinensischen Widerstands“ bezeichnet, der „legitim und moralisch“ gewesen sei. Er verglich das Massaker, dem unter vielen anderen die Friedenspreisträgerin Vivian Silver und die Journalistinnen Shai Regev und Ayelet Arnin zum Opfer fielen, mit dem Aufstand im Warschauer Ghetto von 1943, der die größte jüdische Widerstandsanstrengung während des Holocaust darstellte. Ein BBC-Sprecher erklärte später, Alareers Kommentare seien beleidigend gewesen und die BBC beabsichtigen nicht, ihn erneut als Kommentator einzusetzen.
Es ist an sich schon ein wenig rührend, wenn Schriftsteller mitten in einer großen politischen Katastrophe, wie der Gazakrieg eine ist, den Verlust von Bibliotheken neben den von tausenden Menschenleben stellen. Doch damit könnte man leben. Das Problem nicht nur unterkomplex darzustellen, sondern derart verzerrt, wie Dotan-Dreyfus, Neiman und Kolleginnen es tun, ist aber nicht zustimmungsfähig. Es gibt auch keinen niedlichen Antisemitismus. Nun bleibt zu hoffen, dass der Antrag, der keine Silbe über die Geiseln verliert, als reine Provokation verstanden und abgelehnt wird. Übrigens stellt sich Eva Menasse, wie verschiedene Seiten kommunizieren, nicht zur Wiederwahl. Der PEN Berlin steht damit vor einer Richtungsentscheidung. Es sollte die alte sozialdemokratische Regel gelten: Man droht nicht mit Austritt, sondern mit Eintritt.