Per Sie, per Du – Hasnain Kazim kartografiert deutsche Leitkultur auf dem Klapprad

Buchcover „Deutschlandtour. Auf der Suche nach dem, was unser Land zusammenhält — Ein politischer Reisebericht“, Foto Copyright: Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Sehr geehrter Herr Kazim, guten Tag!

Gerade für Ruhrbarone ist Ihre Feststellung zentral: „Ich lerne: Man sollte nicht von der Gegend rund um den Bahnhof auf die gesamte Stadt schließen. In keiner Stadt. Vor allem nicht in Bochum.“ Entweder ist das sehr nett, Herr Kazim, oder Ihr typisch deutscher Humor?! Erstbegegnungen im Alltag während einer Radtour quer durchs Land einzugehen, dafür sogar den festen Job zu kündigen, ist in Zeiten gut gehüteter Bubbles ein respektables Vorhaben, um die eigene Sichtweise über deutsche Leitkultur auf den Prüfstand zu stellen. Gemeinsamkeiten zu finden, das wird in Ihrem Radelexperiment deutlich, pflegen Sie als eine positive Grundhaltung anderen, fremden Menschen gegenüber. „Zuversichtlich“ ist aus gutem Grund Ihr letztes Wort am Ende Ihrer Deutschlandtour.

Die Ruhr © Hasnain Kazim

Soll ich Ihnen verraten, wie ich auf Sie aufmerksam geworden bin? Nein, nicht bei Lanz, sondern nach meiner beruflichen Rückkehr nach Deutschland, jawohl aus dem wunderscheenen Österreich, hat Sie mir der Algorithmus in meine damalige Twitter-Timeline gespült. Meine erste und schärfste Kritik an Ihrem Buch lautet: Warum spielt Frau Dr. Bohne keine Rolle? Der geheime Star, die Expertin für Gesellschaftskritik, Personenschutz und Wurst, fehlt.

Wohin also geht die Reise, wenn ich anderen empfehle, die Nase in die Seiten Ihres Reports zu stecken? Wir hatten doch schon von Humboldt und Kerkeling. Nun, Sie treten in die Pedale und gehen ins Feld. Es zeigen sich ethnografische Züge, wenn Sie möglichst frei von Voreinstellungen, ihre eigene lebensgeschichtliche Prägung in der Beobachterrolle kurz skizzieren, regelmäßige Tagebucheinträge zwecks Datensammlung vornehmen und bei Wind und Wetter situationsbedingt vom groben Fahrplan abweichen, aber so nah wie möglich auf Ihrer Route bleiben. Ob Sie ggf. nach Erscheinen des Buches böse Zuschriften oder einen Shitstorm für Ihr Tun kassieren, kümmert Sie nicht. Sie radeln und sprechen mit – allen – Menschen.

Von der Elbe bis zur Donau, von der Ruhr über meinen geliebten Rhein bis zum Neckar, einige Buchpassagen haben mich zu meiner eigenen Überraschung amüsiert. Ihre kurzen Sätze sind knackig, spitz und Volltreffer, wie Ihre Tweets. Die Szenen und wie Sie mit den charakterisierten Protagonisten umgehen oder diese mit ihnen, trifft oft das Wesen deutscher Eigentümlichkeiten. Ich mag an Ihrem Reisebericht den internationalen Blick auf Heimat und das, was zur Heimat werden kann, ohne dass Sie Ihre tiefe Verwurzelung mit Deutschland infrage stellen.

Das Ausleuchten des eigenen Nestes ist kein Beschmutzen. Im Gegenteil kommt Ihre Wertschätzung für die Besonderheiten dieses Landes und unserer liberalen Demokratie gegenüber zum Ausdruck, ganz gleich wie schrullig manches hier ist. Befindet man sich erst einmal außerhalb deutscher Grenzen, so wie Sie lange Jahre in Islamabad als SPIEGEL-Journalist unterwegs waren, dann schmeckt man Ihre Schmacht auf einen prächtigen Jägerteller. Mich interessiert: Suchen Sie, Herr Kazim, auf Ihrer Radreise die deutsche Leitkultur oder sich selbst, oder beides?

Ich fühle mich jedenfalls gern auf die Reise an bekannte und unbekannte Orte von Ihnen mitgenommen. Welt(en) verstehen, im Plural denken, Perspektivwechsel betreiben, gleichzeitig einen klaren Wertekompass haben, vielleicht sind das besondere Fähigkeiten, die Sie in Ihrer Offizierskarriere auf der Gorch Fock gelernt haben? Im Grunde könnte Ihr Buch als eine Art Reiseführer dienen, nur dass ich ein schwerfälliges E-Lastenrad und kein Klapprad wie Sie habe. Und die Schotterwege in den Bundesländern sind Ihren Erfahrungen nach ausbaufähig. Umso beachtlicher, wie Sie zwischen Rad- und Bahnwegen meist bei bester Laune Ihre Lust auf Deutschland behalten und nicht längst Fernweh zur ÖBB anmelden.

Ich mag, dass Sie es mögen, wenn man Sie fragt, woher Sie kommen. Es darf doch wirklich kein identitätspolitisches Tabu mehr sein, weil es in anderen Ländern wie den USA eher eine Form der höflichen Interessensbekundung darstellt. Es bleibt der beste Einstieg in einen Small-Talk unter Fremden. Das musste sogar Wolfang Welsch mal zugeben, als es um eine Fußnote zur Transkulturalität ging.

Die soziohistorische Einordnung Ihrer Biografie ist eine wichtige Voraussetzung für die Leser, um ihr Motiv für die Radtour besser zu verstehen. Als Kind indisch-pakistanischer Eltern in Oldenburg geboren, eine Zeit lang in Karatschi groß geworden, wissen Sie, was eine knappe Kasse zu Hause bedeutet, im Dschungel von Behördendeutschland einer erfolgreichen Einbürgerung um die 90er Jahre entgegenzufiebern und dann diesen norddeutschen Schnack aus dem hintersten Dorf des Flachlandes, Hollern-Twielenfleth, zur Verwunderung aller („Deutschen“) stilsicher zu beherrschen. Sie erscheinen mir als der beste Botschafter deutscher Leitkultur, was auch immer das nun ist, von Nord nach Süd, von Ost nach West. Als ausgerechnet Sie in Bismarcks Hamburg als alter weißer Mann in einer Gesprächssituation bezeichnet werden, da lag ich nicht nur der phänotypischen Gründe wegen kurz unterm Tisch.

Wenn ich eins an Ihren Schilderungen des Politischen im Kleinen schätze, dann Ihr Klartext und Rückgrat, konkrete Fallbeispiele erfahrungsbasiert erläutern und mit dem nötigen Abstraktionsgrad in politische Schlussfolgerungen übertragen zu können. Wirbel für Wirbel aufrecht bleiben und mit geputzter Brille die Dinge erfassen, was Menschen unterschiedlichster Couleur umtreibt, ist eine Fähigkeit, die ich Ihnen abnehme. Sie hören zu, wo sich andere längst abwenden und in ihren Tesla steigen. Eigentlich schade, dass Sie sich nicht mehr in der FDP engagieren.

Sonnenseite und Schlagschatten, knietiefer Regenstand und steife Brisen, graue Wolkendecken und glasklarer Horizont, das Wetter wird zum Sinnbild deutscher Verhältnisse in Ihrer Reiseliteratur. Sie fürchten wirklich keine freundliche Ansprache Unbekannten gegenüber, weder bei den schrägsten Flitzpiepen in der S-Bahn noch bei Ömer. Er packt Sie ein wenig, wenn er Watzlawick-resistent auf Ihr Bekenntnis insistiert, ob Sie nun Muslim oder Deutscher seien.

Oh, wie schön ist Kobern-Gondorf! © Hasnain Kazim

Was ich noch an Ihrem Buch mag, Herr Kazim? Sie sind ein Foodie. Sie fragen zwischendurch: Was braucht der Mensch zum Glücklichsein? Hunde, na klar, und ich ergänze bei Ihrem geschätzten „Siegeszug der Eierschecke“: gutes Essen. Allein deswegen sollten wir mal gemeinsam essen, trinken, essen, trinken und über William Turner reden. Ihre Fußnote zur Sachertorte habe ich sehr gefeiert, ja eh. Allerdings, so ehrlich muss ich dann auch sein, bin ich zwar weite Strecken mit auf Ihre Reise gekommen, aber einige Kapitel davon in einem anderen Gefährt, in einem anderen Tempo, über eine andere Landkarte. Etwas unausgewogen schien mir eine AfD-Fixierung und ein – völlig berechtigter – Kampf gegen Rechts thematisch zu dominieren. Vermutlich liegt es statistisch betrachtet auf der Hand, wenn Sie einen ostdeutschen Fluss entlang radeln. Spätestens in einer urbanen Stadt wie Leipzig hatte ich mir aber gewünscht, dass Sie aus Ihrem Sattel kommen und in einer nötigen Vogelperspektive auf Deutschland schauen. Prompt sprechen Sie auch demokratiefeindliche Ideologien aus linker Richtung ungeschönt an, sodass junge Leser nicht behaupten können, sie hätten noch nie was über die RAF und ihre Erben gehört, wenn es mal wieder ahistorisch zu Sitzblockaden an Universitäten oder zu einem Repost einer missglückten Adidas-Werbung kommt.

Insgesamt ist Ihre „Erkenntnis im Entkommen“ auf dem Rad unterhaltsam, so der deutschen Leitkultur auf die Spur zu kommen. Unbemerkt spiegeln Sie aus Ihren Begegnungen, die Ihnen teils gezielt über Bekannte vermittelt wurden oder die durch Zufall entstehen, chronistisch die Themen der Stunde: Kunstfreiheit, Rassismus, Cancel Culture, Wokeness, wie an dem absurden Beispiel zum „Pinguin-Zoff von Stade“, Fachkräftemangel, Erinnerungskultur, kulturelle Aneignung, Föderalismus, Klimawandel, Bürokratie, Digitalisierung, Wohlstand, Islamismus, Antisemitismus, Gleichberechtigung, Bildung, KI, Seenotrettung, Corona, Extremismus, Infrastruktur, Wohnungsnot, Wiedervereinigung, Asylverfahren, Atomendlagersuche usw. Und für Ihre ehrlichste Aussage auf Seite 300 könnte ich Sie eh herzen: „Ich könnte kotzen.“

Irgendwann im Verlauf der langen Wegstrecke fügen sich die Teile zu einem Lagebild zusammen – ohne Anspruch auf eine absolute Wahrheit zu erheben. Es sind wichtige Einblicke in die deutsche Seele darunter, die man durch Ihr Buch gewinnen kann, wenn man allein das Eis Schlecken der Geschlechter in jeder Stadtmitte für selbstverständlich nimmt. Ich jedenfalls wünsche Ihnen viele Leser, oder hoffentlich bald auch Zuhörer – Ist ein Hörbuch in Planung? Bitte bitte gern doch! – Ihrer Reiseerlebnisse, und noch weitere gute Gespräche, die Sie, Herr Kazim, gewiss nicht scheuen.

Also, Hasnain, sach an, sagen wir nun Du? Gern bei Kaffee mit oder ohne Milsch.

Tschö, Servas & herzlichst

Anna

Hasnain Kazim auf dem Rad © Peter Rigaud

Ausgabe: Hardcover, mit Schutzumschlag, 352 Seiten, 13,5×21,5cm, mit Farbbildteil

ISBN:978-3-328-60177-7

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