Wenn Daten und Empirie die Reizwörter des Abends sind, dann findet man sich treffsicher in einem Saal personifizierter Wokeness wieder. Emilia Roig, eine Expertin bzw. eine „renommierte Expertin“, wie sie sich auf ihrer Website selbst bezeichnet, traf am zweiten Festivaltag auf Philipp Hübl im Kölner Comedia Theater. Svenja Flaßpöhler, die Teil der Programmleitung ist, bemühte sich als Moderatorin, nicht nur die inhaltliche Stringenz, sondern auch die Etikette guten Philosophierens zu rahmen. Von unserer Gastautorin
Doch Hübl als der weiße männliche Forscher verkörperte diejenige Projektionsfläche für die Berufsaktivistin Roig, mit der sie nicht mit, aber auch nicht ohne kann. Schließlich soll das eigene Geschäftsmodell der Dauerempörung aufgehen und es ging in weiten Teilen an dem Abend auf. Roig beherrscht eine intellektuelle Polemik – mit Dr.-Titel, das musste auch wiederholt vor sich hergetragen werden – die das wissenschaftsaverse Publikum nach jedem postkolonialen Buzzword ein „Whoohoo“ quietschen ließ.
Die Location in der Kölner Südstadt bietet Kulturveranstaltungen für junge Leute an, was ich am WC für alle hätte übersehen können. Schnell füllte sich der Zuschauerbereich. An der Klamotte, der Frisur und dem Brillengestell wurde unverzüglich deutlich, wir befinden uns unter Emilias Claqueuren. Es brauchte nicht einmal pinke Pali-Tücher, als postfeministische Fashionistas der dritten Generation den Ort als den ihren markierten. Dritte Generation deshalb, weil hey non-binäre Einhörner:innen, Judith Butlers Quark haben wir schon 1997 in der Landei-Uni gelesen und nicht erst 2024 als die Verheißung der einzigen Weisheit entdeckt. Spannung lag jedenfalls in der Luft und nahm auf den roten 90s Ledersesseln Platz. Die zwei Diskutanten waren körpersprachlich gesehen bereits ein erzählendes Gleichnis, noch bevor Flaßpöhler das Thema einführte. Eigentlich sollte es in den nächsten 60 Minuten um die Frage gehen, was Haltungen seien, so die Moderatorin. Gerechtigkeit als das zentrale Handlungsmotiv der Gegenwart sollte nun entlang der besten Argumente durch Roig und Hübl für das Publikum kritisch erörtert werden. Aber das Thema entglitt Flaßpöhler gleich im Auftakt, weil sie ausgerechnet Sylt als ersten anschaulichen Diskussionsanlass wählte. Sylt, Sie wissen schon, die böse Chiffre des strukturellen Rechtsrucks in unserem schönen Deutschland, wozu sich doch auch Tagesschau und der Kanzler äußerten. Waren Sie empört, Frau Roig? Mais naturellement. Die französische Politologin konnte es kaum erwarten, ihrer Empörung mit dem Vokabular des progressiven Lagers Ausdruck zu verleihen, um ihre Attitude auf das Publikum überspringen zu lassen. Es brauchte insgesamt keine 14 Minuten zur Punktlandung: Roig sieht den Rassismus von Sylt bis in die obersten Machtstrukturen und ja, natürlich ist das seit Langem ein Problem in meinem Mutterland, weil Deutschland kolonial und lalala sei, schon riefen ihre Fans: „Whoohoo.“ Und ich fragte mich: Von welchem Deutschland redet die Französin bittschön? Von Duisburg und den 40% von DAVA aus dem Stand heraus bei der Europawahl wohl kaum.
Hübl hingegen forderte dazu auf, das zweifelsohne unschöne Video aus einer Partygastronomie auf der friesischen Insel als Anlass zu nehmen, nach Diagnosen im Plural zu suchen. Er sah im Umgang und den unverhältnismäßigen Reaktionen auf das Video einen Kontextzusammenbruch, weil man sich in Zeiten des sogenannten Moralspektakels, wie sein aktuelles Buch heißt, nicht mehr recht traue, zunächst einmal viele mögliche Blickwinkel zuzulassen. Stattdessen betreibe man ein schützendes Reputationsmanagement. Das bedeutet, dass die Gegenüberstellung, was daran nun ein subjektiver oder objektiver Tatbestand sei, wie es in der gerichtlichen Praxis üblich sei, vermieden werde. Man wolle keinesfalls in den Verdacht geraten, so Hübl, dass man nicht die Protagonisten im Sylt-Video aufs Schärfste verurteile. Und schon war es da, das erste Augenkullern des Abends von Emilia Roig. Hübl hatte es offenbar gewagt, mindestens genauso viel Redezeit – ohne Unterbrechung durch Roig – für sich zu beanspruchen und dann noch den Sachverhalt in angemessener Philosophenmanier auf einem Philosophiefestival zu erklären.
Roig nahm unverzüglich Anlauf und kritisierte das situierte Wissen westlicher Forscher als göttliches Auge, wobei Hübl sich überrascht davon zeigte, dass er ein göttliches Auge habe. Die promovierte Aktivistin stellte umgehend klar: Wie leben in einer kapitalistischen Gesellschaft. Ab hier braucht man eigentlich nicht viel mehr wissen, weil es immer dieselben Kritikketten an der neoliberalen Ordnung hagelt. So auch in der ersten halben Stunde des Abends: Kolonialismus, Patriarchat, Intersektionalität, Asylpolitik, Monetarismus … ja gut, auch wenn Roig selbst eine Menge Reichweite als Influencerin generiere, sei es bei ihr aber wirklich nicht monetär motiviert, jetzt wirklich. Salven wurden verschossen, bis hin zur Disqualifizierung ihres Diskussionspartners, weil Hübl ohne jegliche Erfahrung an struktureller Diskriminierung weiß und männlich sei. Das Publikum war verzaubert und Hübl das notwendige Übel des Abends, um die eigene moralische Überlegenheit als PoC zu demonstrieren. Nennt man das ein faires Gefecht unter Wissenschaftlern?
Auch in der zwischenmenschlichen Stilistik verweigerte Roig Hübl ihren Blick, sobald dieser zu argumentieren begann. Während Hübl eine tiefe rationale Bestandsaufnahme und soziale Verhältnisse empirisch zu erfassen forderte, gab Roig das beste Beispiel eines Moralspektakels ab: genervtes Seufzen, gesprächsdominierende Handgesten und ein habitualisierter Augenaufschlag, sobald die bösen Wörter wie Studie, Daten oder Tatsache von Hübl fielen. Denn eines war für Roig klar, eines war für ihre Fans im Saal klar, eines musste doch für die gesamte Welt klar sein, warum es soziale Ungerechtigkeit überhaupt gibt: Es ist das Patriarchat.
Ab dem Zeitpunkt war es unerheblich, ob Svenja Flaßpöhler zurück zum Thema navigieren wollte. Sowohl Roig als auch Hübl verkanteten sich an methodologischen Detailfragen, wobei es Hübl an dem Abend war, der immer wieder besonnen auf die notwendige Methodenkritik abhob, um mit besseren Daten bessere Forschungsfragen stellen zu können. Sei nicht die beste Beschreibung der Welt das Ziel von Forschung?
Universal eingesetzt, hielt Roig wieder mit dem Patriarchat dagegen. Zu dem Zeitpunkt hätten die zwei Sachbuchautoren auch über Mickey Mouse diskutieren können, um am Ende doch Roigs letztes Wort zu hören: Ja, aber das Patriarchat.
Spätestens ab dem Moment war auch Flasspöhler die Redundanz durch das einzige Argument „Patriarchat hier, Patriarchat dort, Patriarchat everywhere“ zu fad und rief formale Voraussetzungen des Miteinander Diskutierens in Erinnerung. Sie konstatierte, dass der Blick der beiden Sachbuchautoren auf die Wirklichkeit nicht unterschiedlicher sein könnte. Als Flaßpöhler den in Hübls Buch vorgebrachten Toqueville-Effekt aufgriff, der besagt, dass je gerechter eine Gesellschaft ist, umso sensibler sie auch für Ungerechtigkeiten sei, sprang Roig förmlich aus der IKEA-Beistelltischchen-Kulisse: „So, ich fange bitte an!“ Wie will da ein weißer männlicher Diskutant widersprechen vor den Augen eines hochsensiblen DEI-Publikums (psssst, DEI steht für Diversity, Equity and Inclusion; ich sag es nicht weiter, falls Sie es noch nicht wussten). Noch bevor das erste konzise Argument kam, jubelte das Publikum: „Whoohoo.“ Um 18.40 Uhr köchelte der Laden. Zu meiner Verwunderung klatschten mittlerweile vermehrt Zuschauer bei Hübls ausdauernder Selbstkontrolle, nicht genauso unflätig wie Roig zu reagieren, wie sie es ganz selbstverständlich für sich gegenüber Hübl beanspruchte. Manche Dinge gehören sich im Umgang miteinander einfach nicht, erst recht nicht als Promovierte, die Augenhöhe auf der Bühne einfordert. Jetzt fällt das Wort, wozu ein Moderator bei einem Sachanliegen nie gezwungen sein sollte: Stopp!
Flaßpöhler versuchte, die Diskussion in eine andere Richtung zu lenken, weil es sich nur noch um das Patriarchat kreiste, womit sie sich einen knackigen Queen E-Kommentar einhandelte.
Als Moderatorin führte sie mit Bedacht aus und richtete ihr Interesse an Roig: Wenn unter der Annahme, dass das Patriarchat da sei und wir in der Gesellschaft es abschaffen wollten, wie Roig es in ihrem Buch, mit der Abschaffung der Ehe propagiert, verschwinde dann wirklich das Patriarchat? Roig stellte klar, dass ihr gefordertes Ende der Ehe eher als ein Paradigmenwechsel verstanden werden solle. Die Ehe sei ein politisches Regime, das auf Ungleichheit von Mann und Frau basiere und eine scheinbar naturgegebene Weltordnung zementiere, um auch Hetero-Pärchen-Regime zu demonstrieren. Es sei aus Sicht von Roig legitim und an der Zeit, die Ehe als patriarchale Institution zu entlarven. Und da war es wieder: Dieses Mal das Adjektiv von Patriarchat. Auch jedes Mittel sei in diesem Zusammenhang legitim, so Roig.
Die richtige Moral, wieder ein Raunen im Publikum, sei laut Hübl bei moralischen Anliegen auch gute Gründe für den Aktivismus zu sehen. Allerdings gäbe es zwei Ebenen in der Unterscheidung: Moral und Taten bzw. Sache und Inszenierung (vor allem auf Social Media). Das hat zur Folge, dass Aktivismus allein schon aus praktikablen Anwendungsgründen Eindeutigkeit fordere, während die Wissenschaft nach Verfeinerung durch neue Daten, oh oh, schon wieder Raunen, suche.
Abschließend fragte Flasspöhler, ob Roig und Hübl denn auch kleine Fortschritte in der Gesellschaft sehen? Roig musste zwangsläufig Zugeständnisse machen, um sogleich wieder ihre postkolonialen Progressivitätsmarker keck zu setzen: Ein Positivblick sei ihr deshalb verwehrt, weil es historisch betrachtet Kämpferinnen ohne Doppelpunkt nur unter erheblichem Aufwand gelang, kleine Fortschritte für heutige Frauen zu erlangen, sie aber doch immerzu marginalisiert wurden. Historisch, strukturell und systemisch betrachtet könne daher nie ein akzeptabler Zustand für Frauen in unserer Gesellschaft erreicht werden. Das Geschäftsmodell, Sie verstehen?! Ganz schräg und verkürzt verlief dann auch Roigs Transfer bezüglich ihrer fehlenden Bereitschaft, miteinander in den Diskurs zu treten zwischen Feminist:innen und Maskulinisten bzw. Nazis. Wie auch immer sie nun wieder bei den Nazis landete, entgegnete Hübl: „Natürlich gibt es immer auf beiden Seiten Meinungen. Aber nicht jede Meinung ist gut begründet.“
Wer noch bis zum 18.Juni 2024 Gespräche ähnlicher Art erleben möchte, sollte sich um Karten kümmern. Die phil.Cologne ist gut besucht und startete am Dienstag zum zwölften Mal mit seinem achttägigen Programm in Köln.
Programm und Infos: https://www.philcologne.de/de/
Emilia Roig: Das Ende der Ehe. Für eine Revolution der Liebe (2023), im Ullstein Verlag (https://www.ullstein.de/werke/das-ende-der-ehe/hardcover/9783550202285)
Philipp Hübl: Moralspektakel. Wie die richtige Haltung zum Statussymbol wurde und warum das die Welt nicht besser macht (2024), im Siedler Verlag (https://www.penguin.de/Buch/Moralspektakel/Philipp-Huebl/Siedler/e598760.rhd)
Mir ist nicht bekannt, dass Emilia Roig „als Feministin“ sich laut und klar und deutlich mit den Überlebenden des grausamen Massaker von 10/7, bei dem u.a. Frauen vergewaltigt, verstümmelt und ermordet wurden, oder mit den seit über 8 Monaten in brutaler Hamas-Geiselhaft gehaltenen Frauen, Kindern und anderen Menschen solidarisiert hätte.
Ich weiß drei andere Dinge über Emilia Roig: sie hat 1. „als Jüdin“ in einer DLF-Sendung wiederholt und schrill und vollständig begriffslos behauptet, Israels legitimer Verteidigungskrieg gegen den Terror der Hamas-Diktatur mit ihrem Vernichtungs-Antisemitismus sei „Mord“ (an vorzugsweise Kindern natürlich, denn so sind sie die Zionisten wie jeder Antisemit …äh… Antizionist, der Al Jazeera und TikTok konsumiert, weiß), und sie hat 2. letztes Jahr am Black Friday eine Verschwörungstheorie auf Instagram geteilt, nach der die Zionisten die Welt beherrschen oder so (sie hat sich – für Letzeres – entschuldigt, also alles wieder gut, – easy, funktioniert bei Geraldine Rauch ja auch), und ihre Instagram-Seite ist 3. voll von der Lüge eines „Genozids“ in Gaza. Jüdischer Vater hin oder her – wahrheitswidriger Antizionismus ist halt gerade das große Ding.
Man bringt sich am besten in Sicherheit und versucht bei Verstand zu bleiben, während man auf wenn schon nicht bessere, dann doch vielleicht wenigstens vernünftigere Zeiten hofft. Deshalb besser nicht zur Philcologne oder ähnliche Veranstaltungen, sondern lieber eine Runde im Park spazieren gehen und zur Beruhigung ganz tief in den Bauch atmen. Oder falls mal irgendwo eine stattfinden sollte, zu einer israelsolidarischen Demo gehen.