Physiotherapie in Zeiten von Corona: „Wenn jeder seinen Beitrag leistet, werden wir es schaffen.“

Iris Tögemann. Foto: privat

Iris Tögemann ist bereits seit 28 Jahren im Bereich der Physiotherapie tätig. Derzeit ist sie selbstständig in Selm. Harte Arbeit ist ihr dabei nicht fremd, wie sie betont. Seit langer Zeit kämpft sie in ihrem Bereich um eine Verbesserung der Zustände.

Die aktuelle Corona-Krise hat sie arg getroffen, wenn auch zum Glück bisher noch nicht existenzbedrohend. Trotzdem steigt auch in ihr in diesen Tagen die Wut über viele Entwicklungen und Zustände auf. Bei den Ruhrbaronen hat sie ihrem Unmut nun einmal kräftig Luft gemacht.:

„Fachkräftemangel im Bereich der Physiotherapie

Diverse Experten haben bereits vor über zehn Jahren davor gewarnt, dass wir an den heutigen Stand der Patienten-Unterversorgung im Bereich der Physiotherapie /Logopädie/ Ergotherapie /Pflege etc. kommen. Ich gehöre noch zu der alten Riege der Krankengymnasten mit 2-jähriger Ausbildung und einem Anerkennungsjahr.

Durch die Veränderung unserer Ausbildung auf drei Jahre an einer privaten oder staatlichen Schule, entfällt derzeit das Anerkennungsjahr. Fazit: 3 Jahre Schulgeld zahlen, keine Mitarbeiter für die Krankenhäuser im Anerkennungsjahr, nach altem System waren es nur 2 Jahre und es gab den ersten Verdienst im Anerkennungsjahr.

Neuerdings kann man den Bereich noch als Studium belegen, den Bachelor machen. Also gehen viele Therapeuten nach der klassischen Ausbildung weiter, weil sie meinen der Verdienst ist höher, oder sie wollen gar nicht am Patienten arbeiten, sondern Weiterbildungen geben etc..

Wir brauchen aber Kräfte am Patienten und nicht Statistiken

Wir sind aus Berufung Krankengymnasten geworden und wussten, dass der Beruf schlecht bezahlt ist, die Ausbildung teuer ist und das zusätzliche Weiterbildungen dazu kommen.

Teilweise können Eltern sich die Ausbildung nicht leisten. Nun wird seit letztem Jahr die Ausbildung gefördert und die Schulen ziehen die Preise hoch. Aber unsere Jugend ist der Verdienst zu niedrig, was ich gut nachvollziehen kann.

Du machst eine 3-jährige Ausbildung ohne Vergütung, zahlst Schulgeld und wenn du fertig bist musst du noch eine Zusatzausbildung machen.

Ein Lehrgang für manuelle Lymphdrainage kostet ca. 1.200 Euro und dauert vier Wochen (mit Prüfung). Für die Abrechnung der Leistung erhältst du weniger als für eine Krankengymnastikbehandlung (vom Zeitwert her), wofür du keine weitere Ausbildung brauchst. Das muss man nicht verstehen.

Vom Stundensatz her lagen wir weit unter einem Handwerkersatz und bei denen wird das Verbrauchsmaterial zusätzlich berechnet, obwohl wir ein Examen gemacht haben, Zusatzausbildungen haben usw..

Nun wurde zwischen 2017 und 2019 unsere Vergütung um ca. 30% erhöht. Wenn man bedenkt, das sonst unsere Erhöhungen um 0,8-1,5 % pro Jahr betragen haben, ist das ein Witz in Bezug die letzten 30 Jahre.

Wir waren bis letztes Jahr im Bereich der Mindestlohngruppe angesiedelt. Unsere Verbände vereinen sich nicht für Gebührenverhandlungen. Jede Kasse hatte ihre eigenen Honorare. Die Privatkassen haben nun seit 1993 ihre Beihilfe-Sätze auch erhöht.

Wenn du wirtschaftlich arbeiten willst, musst du die kürzeste Zeittaktung abrechnen. Aber wo bleibt dabei der Patient, die Qualität und Quantität der Behandlung, und wo der Therapeut?

So will keiner Arbeiten, und unsere Jugend erst recht nicht

Kürzlich sagte eine Bewerberin zu mir, dass ich mit meiner Einstellung zum Beruf und Patienten zur der aussterbenden Art der Physiotherapeuten gehören würde. Ich war entsetzt! Wozu macht man so eine fachliche Ausbildung, wenn man sie nicht anwendet? Aber wenn das Geld stimmt, dann ist das egal, oder wie?

Aus einer Statistik habe ich entnommen, dass inzwischen offenbar bereits ca. 50 % der Physiotherapeuten zuletzt den Beruf gewechselt haben, 30 Prozent überlegen aktuell wohl es zu tun und nur der Rest will es dauerhaft bleiben.

Neue Mitarbeiter zu finden ist schwer. Krankenhäuser können besser bezahlen als wir kleinen Praxen. Die Großen sind in der Lage noch Fitness anzubieten etc..

Bei den ambulanten Praxen kommen noch die vielen kurzfristigen Absagen der Patienten dazu. Ja, krank kann natürlich jeder einmal werden, aber ob es dann auch wirklich immer so ist, wie behauptet wird?

Die Pläne sind stets voll und dann hast du am Ende der Woche pro Tag regelmäßig 2-4 abgesagte Termine. Wenn man Pech hat, dann komme sie so kurzfristig, dass man sie nicht neu vergeben kann. Das heißt für den Inhaber, dass beispielsweise bei einem Team von sechs Therapeuten – eine Vollzeitkraft hätte gleich zu Hause bleiben können. Sowas ist natürlich wieder ein weiterer Einnahmeverlust. Therapieberichte, die wir schreiben müssen, werden mit 1 (!!!) Euro pro Stück vergütet. Hast du davon viele, dann musst du dafür weitere Behandlungszeit blocken um sie zu schreiben. Und dann must du ja auch noch die Dokumentation der Behandlung, Befunderhebung, Aufklärung, Therapiematerialienverbrauch pflegen.

Fazit für kleine Praxen oder Solobetriebe: Ein großer Teil der Arbeit, wenn der jeweilige Mitarbeiter dann vielleicht selber auch noch viel krank ist, geht vielfach schon in den unwirtschaftlichen Bereich hinein.

Und nun kommt auch noch Corona

Kaum zu glauben, aber diverse Praxen machen prophylaktisch zu. Viele Therapeuten haben Angst. Patienten haben auch Angst. Ich kann das grundsätzlich verstehen. Ich gehöre selbst zur Risikogruppe. Da trifft auch auf 80 bis 90 % meiner Patienten zu.

Ich verstehe die Praxisschließungen trotzdem nicht. Wir sind medizinisch und in der Hygiene geschult, haben unsere Auflagen von der BG und dem Gesundheitsamt. Schutzausrüstung sollte ausreichend vorhanden sein. Klar, kann es mit der Zeit evtl. irgendwann einmal nicht mehr für alle ausreichen.

Die komplette Praxisstruktur muss umgeworfen werden um eine wirksame Kontaktreduktion durchzuführen. Das Alles ist sicherlich nicht leicht zu bewältigen in großen Praxen. Wir gehören zur natürlich kritischen Infrastruktur des Gesundheitswesens.

Ich habe das Glück zurzeit alleine zu arbeiten. Dadurch habe ich bisher nur geringe Ausfälle im Terminplan. Aktuell sind das rund 10-20 Prozent. Bis jetzt zumindest!

Geändert hat sich schon, dass nur noch telefonische Anmeldungen möglich sind um keine unnötigen Laufkundschaft zu haben. Mit Erkältungssymptomen ist der Eintritt in die Praxis verboten. Regelmäßige Handdesinfektionen sind auch obligatorisch in diesen Zeiten.

Einen 100%igen Schutz gibt es dabei aber natürlich nicht. Ich trage einen Mundschutz und auch Handschuhe. Die Kabine wird nach einer Behandlung erst nach einer 25 bis 45-minütigen Pause (nach Belüftung) wieder genutzt.

Viele sind verunsichert und haben Angst

Es gibt Praxen, die jetzt in Kurzarbeit gehen, weil wir Selbstzahlern absagen müssen, oder zahlreiche Patienten große Angst haben zu uns zu kommen.

Ich bin selber kürzlich gefragt worden, warum ich noch arbeite. Ich wäre doch Mutter und müsste mich auch selber schützen. Ja gut, dass tue ich auch, indem ich meiner Sorgfaltspflicht bestmöglich nachkomme.

Aber hier geht es schließlich auch um meine Existenz. Ich habe bereits 2018 ein jahrelang bestehendes Team verloren, ohne genau zu wissen warum. Nun hat die Bedrohung eine Namen „Corona“.

Aber sie macht mir keine Angst, weil es entsprechende Verhaltensrichtlinien gibt. Wenn jeder seinen Beitrag dazu leistet, werden wir es auch schaffen. Vielleicht hilft es den Egoismus ein Stück weit zur Seite zu schieben, an die alten Werte zu erinnern und zu vertrauen….

Ich bin froh und dankbar so tolle Patienten zu haben, die mir vertrauen und mir in dieser schweren Zeit helfen meine Praxis fortbestehen zu lassen.

Es gibt Patienten die verletzt sind, ihre Lymphdrainage brauchen und vieles mehr, die froh sind noch eine geöffnete Praxis zu haben, in der Ihre Schmerzen gelindert werden.

Zum Thema Soforthilfe

Wenn ich nicht nach ‚§28 Schutzmaßnahme‘ schließen muss, oder mein Patientenstamm doch Angst bekommt, werde ich von dieser Hilfe am Ende nicht viel haben.

Aber ich habe auch so schon meine Verluste. Ich werde diese aber wohl erst wirklich bemerken, wenn ich meine Überschüsse, die ich für die Steuern meinen Urlaub in diesen Tagen bilden müsste, in Kürze komplett aufgezehrt habe. Dann müsste ich sogar an meine geringen Rücklagen für mein Kind oder für eventuell drohende Reparaturen, um die Verluste dann weiter aufzufangen.

So gesehen kann ich zurzeit sogar noch froh sein aktuell keine Mitarbeiter zu haben, obwohl ich schon seit Monaten quasi ohne Pausen durcharbeite um der Nachfrage irgendwie gerecht zu werden.

Ich suche Personal und finde keines. Wenn in Zukunft dann noch bestehende Praxen wegbrechen, wer soll nach Corona die Patienten behandeln?

Meiner Meinung nach sollten sich unsere Berufs-Verbände endlich zusammenschließen und geeint für uns kämpfen.

Mein Kind ist derzeit in der Notbetreuung, wofür ich sehr dankbar bin. Aber es ist traurig, dass unser Essenslieferant aus Gründen der Wirtschaftlichkeit zurzeit nicht mehr liefert. Wo ist da die Solidarität? Er möchte doch auch, dass seine Kunden in dieser Zeit noch bei ihm einkaufen.

Ich arbeite an zwei Tagen in der Woche bis zum Abend und wäre wirklich froh zu wissen, dass mein Kind auch an diesen langen Tagen gut versorgt ist.“

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