Martin Niewendick und Stefan Laurin waren auf dem Bundesparteitag der Piraten. Bei Kaffee und einem Gugelhupf haben sie ihre Eindrücke notiert.
Stefan Laurin: OK Martin. Parteitag der Piraten. In Bochum. Du kommst extra aus Witten angereist und was sehen wir im Ruhrcongress? 1800 Leute die miteinander über die Satzung streiten, sich Geschäftsfordnungsdebatten führen und dann auch noch sehr freundlich miteinander umgehen. Es war nett, aber es war auch ein wenig langweilig. Ich hatte nie das Gefühl das ich gerade miterlebe, wie die spannende, neue Politik von Morgen erfunden wird.
Martin Niewendick: Naja, was hätte auch passieren sollen? Die großen und kleinen Revolutiönchen finden wohl eher am Rande statt. Was mich gewundert hat: Die Partei, so heterogen sie auch ist, ist verdammt alt, verdammt biodeutsch und überraschenderweise auch sehr weiblich. Das passte so gar nicht zu den Vorurteilen, die man sonst von der Partei hat – nämlich jung, bunt und männlich. Aber es stimmt, Überraschungen haben wir nicht wirklich erlebt…
Stefan: Was mir aufgefallen ist: Im Foyer gab es keine Stände von Unternehmen oder Lobbyisten. Die Piraten haben keine Sponsoren, sie sind Selbstzahler. Wenn sie wollten, hätten sie von Microsoft bis Bitkom die ganze Halle voller zahlungskräftiger Unterstützer. Haben sie aber nicht, weil sie es nicht wollen. Klar, sie sind älter als man erwartet und auch weiblicher, aber ihre Unabhängigkeit ist gelebt.
Martin: Mir stellt sich dabei die Frage, wie groß der Einfluss von Leuten ist, die schon eine politische Vorgeschichte bei anderen Parteien haben. Irgendwelche Karrieristen also, die es bei den Sozen oder sonstwo nie auf eine Liste geschafft haben. Die wollen natürlich ihre Agenda durchsetzen und sind alles andere als „frisch“. Das erschwert natürlich die Suche nach neuen Ideen und Visionen.
Stefan: Das stimmt, so Leute stören, auch wenn sie ein bisschen Organisationserfahrung mitbringen. Ich würde sagen, dass die Parteihopper keine große Chance haben. Wer schon bei den Grünen, der Linkspartei, der SPD , der CDU oder der FDP gescheitert ist, trägt so etwas wie ein Kainsmal des Versagers mit sich. Vielen von denen sieht man ja den frustrierten Deppen an, der einfach nur nach seiner nächsten Chance sucht, doch noch irgendwann wichtig zu werden. Die Leute sind gut, wenn sie selbstlos im Hintergrund agieren und peinlich, wenn sie ins Rampenlicht drängen.
Martin: Bei ein paar Leuten klappt’s ja einigermaßen. Wir haben ja zum Beispiel Anke Domscheidt-Berg gesehen, die Frau von diesem Wikileaks-Gründer. Die hat übrigens mal irgendwo gesagt, sie würde nie von den Grünen zu den Piraten wechseln – kurze Zeit später ist sie dann konvertiert. Die ist schon eine Nummer dort, aber das ist wohl eher dem Promi-Faktor geschuldet. Apropos Promi-Faktor: War Jörg Tauss eigentlich da? Der ist ja auch ein gutes Beispiel, dass das mit dem Promi-Faktor auch mal nach hinten losgehen kann.
Stefan: Tauss habe ich nicht gesehen. Stimmt, Domscheidt-Berg ist eine Ausnahme. Die gab es ja immer mal. Die meisten Hopper, glaube ich, werden nicht rocken. Was mir gut gefallen hat war, das Themen wie Freiheit und Selbstbestimmung hochgehalten wurden. Die beiden Wort fielen zumindest oft. Und alles wirkte ziemlich hierarchiefrei: Kein Personenkult wie bei SPD oder CDU, wo sich ja kaum jemand wagt, den Kadern zu Widersprechen und es gab auch nicht diese Oberlehrerstimmung, die es bei den Grünen gibt. Ohnehin sind ja Systemadministratoren angenehmere Gesprächspartner als Pädagogiklehrer. Bedenklich fand ich jedoch auch bei den Piraten die Vorliebe für Funktionskleidung. Ästhetisch ist da noch Luft nach oben.
Martin: Funktionskleidung? Ich hatte eher den Eindruck, viele Piraten greifen blind in ihren Wäscheberg und ziehen einfach irgendwas an. Oder auch mal einfach weniger, wie dieser Typ, der die ganze Zeit barfuss unterwegs war. Echt mutig im November. An der Kleidung konnte man manchmal auch sehen, wie ihre Träger politisch drauf sind. Da gab es die typischen Nerds mit Lustigerspruch-T-Shirts, aber auch viele Antifa-Logos sind mir aufgefallen. Witzig fand ich, die ganzen Vögel mal offline zu sehen, auf die sich die Medien immer stürzen. Zum Beispiel dieser Lockenkopf „Oliver“ vom Wahlplakat, oder Gerwald Claus-Brunner, der Abgeordnete aus Berlin. Der scheint Latzhosen und Palitücher in allen Farben zu besitzen. Das mit dem Palituch kam übrigens in Berlin nicht so gut an, dafür hat ihn Charlotte Knobloch ja kritisiert. Aber beim Thema Israel/Antisemitismus bleiben die Piraten ohnehin zuverlässig im Gespräch.
Stefan: Ich weiß nicht, wie ich das zu bewerten habe. Viele Äußerungen fallen scheinbar ohne jedes politische und geschichtliche Bewusstsein. Zumindest wenn man es freundliche bewerten will. Tut man es nicht, kommt man auf eine ziemlich hohen Idiotenanteil. Eigentlich nichts ungewöhnliches: Neue Parteien ziehen Schwachmaten an wie Scheiße Fliegen. Das war bei den Grünen und der Linkspartei auch nicht anders.
Martin: Ja, die Grünen… Wenn man sich wirklich auf einen Vergleich der Piraten mit den frühen Grünen einlässt, sieht die Prognose für die Piraten wohl eher düster aus. Die Grünen stehen ja inzwischen für die neue Spießigkeit, einen urbanen Konservativismus. Ich bin gespannt, wie ernst die Piraten ihr Credo noch meinen, dass ihr Ziel sei, sich überflüssig zu machen.
Stefan: Ich würde hoffe ja, bei allen Problemen, die ich mit den Piraten habe, von ihnen ein paar Anstöße ausgehen: Mehr individuelle Freiheit, das Erkennen der Bedeutung der Digitalisierung in allen Lebensbereichen. So eine Stimme wie die der Piraten ist in einer Zeit, in der wir die Renaissance des starken Staates erleben, der ja auch widerwärtig bleibt, wenn er sich als verlogen-wohlmeinender Lehrer gibt, eigentlich sehr nötig. Aber, um es mal auf Haschdeutsch zu sagen, diese Schwingungen habe ich nicht verspürt.
Martin: „Wir halten uns an das Grundgesetz – Da sind wir konservativ“ ist ja auch so ein Wahlspruch der Partei. Bei soviel Anbiederung an den gängigen Polit-Betrieb kommt’s mir hoch. Unterm Strich heißt das ja nichts anderes als „Habt keine Angst vor uns, wir beißen nicht!“ Das ist zwar – wie so vieles, was man von den Piraten hört – nicht repräsentativ für irgendwas. Es zeigt aber, dass es durchaus Kräfte gibt, die eben nicht die „freie Gesellschaft“ anstreben, sondern sich etablieren wollen. Und wenn sich eine Partei „etabliert“ hat, muss man sie nicht mehr wählen. Ich würde mir schon wünschen, dass die Piraten ein wenig bissiger werden.
Stefan: Niemand hat je behauptet, dass sie nicht zum Grundgesetz stehen würden – von daher habe ich das Plakat auch nicht verstanden. Ja, etwas mehr Biss würde ihnen gut tun. Sie versuchen im Augenblick vor allem skandalfrei und unangreifbar zu sein. Schöner wäre, wenn sie mit Ideen die anderen Parteien zwingen würden, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Das ist den Grünen gelungen und zum Teil auch der Linkspartei. Nur wenn das gelingt, können sie erfolgreich sein und Wahlen gewinnen. Die Zeit, in der es reichte Projektionsfläche und unzufriedene Wähler zu sein, geht zu Ende. Vielleicht sollten sie wirklich mehr auf Freiheit und Netzpolitik setzen. Das sind ja Themen, in denen die anderen nicht wirklich viel zu bieten haben. In NRW arbeitet Rot-Grün an einer Staatspresse. Die Piraten müssten die Partei sein, die dagegen auf die Barrikade geht.
Martin: Ja, erstaunlicherweise hört man von der Partei dazu wenig. Dabei ist die Freiheit der Presse ja unweigerlich mit der Freiheit im Netz verknüpft. Da kommt dann wieder das alte Problem der Piraten zum Vorschein: Haben wir nicht diskutiert, also sagen wir auch nichts dazu. Dass es so auf Dauer nicht geht, ist ja inzwischen von ungefähr jedem Beobachter schon gesagt worden. Neue Impulse waren heute wirklich nicht zu spüren. Die braucht die Partei aber dringend, denn ein Scheitern im Bund 2013 wird die Partei in die politische Bedeutungslosigkeit führen.
Zitat: „Was mich gewundert hat: Die Partei, so heterogen sie auch ist, ist verdammt alt, verdammt biodeutsch und überraschenderweise auch sehr weiblich.“
Nanu, noch älter und biodeutscher als die Grünen geht doch wohl nicht, oder?
@Nansy: Natürlich nicht so alt wie die Grünen. Und natürlich auch besser gekleidet.
Was sind denn „biodeutsche“? Deutsche ohne Migrationshintergrund oder Ökofuzzis?
Was das Grundgesetz-Wahlplakat angeht: Ich hab das als Seitenhieb auf die „etablierten“ Parteien (insbesondere die CDU) verstanden, die ja gerne mal Grundrechte aushöhlen und mittlerweile in schöner Regelmäßigkeit vom BVerfG auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt werden müssen.
Das sich eine Partei generell an das Grundgesetz hält ist in Zeiten von ESM und Fiskalpakt schon etwas revolutionäres.
Auch die Idee: Ein Europa zu schaffen mit starken europäischen demokratischen Bürgern finde ich gut.
Den Menschen wieder in den Mittelpunkt der Gesundheitspolitik zu stellen ist bei der Pharmalobby und den heutigen „Göttern in Weiß“ auch schon eine Revolution.
Die vielen Beschlüsse schließen die weißen Flecken im Parteiprogramm und lassen piratige Politik konkreter werden.
ich bin ehrlich gesagt, erstaunt, dass der Slogan „Wir halten uns an das Grundgesetz – da sind wir konservativ“ offenbar von keinem der beiden „Ruhrbarone“ verstanden wurde. Was ist denn daran so schwierig? Ein zentraler Grund für die Gründung der Piraten war doch gerade, dass die etablierten Parteien in allem, was irgendwie mit Internet zu tun hat, doch sehr hemdsärmlig (um es mal vorsichtig zu formulieren) mit Grundgesetz und rechtsstaatlichen Prinzipien umgegangen sind. Man erinnere nur an Netzsperren, Vorratsdatenspeicherung, Kriminalisierung von „Hackertools“ (wie z.B. der Software. die man unter Linux braucht, um legal gekaufte DVDs abzuspielen), u.s.w.
Die Piraten wollen mit dem Slogan unterstreichen, dass sie Prinzipien
des Grundgesetzes wie Rechtsstaatlichkeit anders als CDU/CSU, SPD etc. auch mit netzaffinen Themen ernst nehmen. Mit den Anbiederung an den
gängigen Politikbetrieb hat das ganz offensichtlich überhaupt nichts zu tun.
@BioBlubb: „Biodeutsche“ sind in Deutschland geborene Deutsche deutscher Herkunft. Die linke Szene nutzt den Begriff neuerdings total gerne als Kategorie ohne dabei zu verstehen, dass sie damit unwissentlich auf eine „Blut und Boden“-Ideologie rekurriert.
@ Ben: Der Begriff wird ja nicht affirmativ, sondern lediglich deskriptiv gebraucht. Und dieser Begriff ist eben in einigen Diskursen hilfreich. Aktuelles Beispiel: Burschenschaften. Alle vereint ihr Deutschnationalismus. Viele leben diesen rassistisch aus und schließen Menschen aus, die nicht „biodeutsch“ sind. Stichwort „Arierparagraph“. Andere dagegen beziehen ihren Deutschnationalismus auf Geschichte, Politik und Kultur. Wer sich zur „deutschen Leitkultur“ bekennt, kann mitmachen. Unabhängig von seinen Vorfahren.
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Zum Thema „Biodeutsch“:
Wozu diese sehr eigentümliche Einführung einer zusätzlichen Kategorisierung von Menschen?
1: Woran erkennt man Biodeutsche? An den Blonden Haaren und den blauen Augen?
2: Woran erkennt man Nicht-Biodeutsche? An der Knoblauchfahne und am Akzent?
3: Wieviele Generationen Biodeutsche in der eigenen Familie sind nötig um Biodeutsch zu sein?
4: Ab welcher Anzahl Nicht-Biodeutscher in der eigenen Familie zählt man selbst nicht mehr als Biodeutsch?
5: Wie lange (historisch betrachtet) muss die Familie der Biodeutschen schon auf „biodeutschem“ Boden sesshaft sein (oder welchen Zeitraum)?
6: Wie lange braucht der Nicht-Biodeutsche Körper um Biodeutsch zu werden?
etc …
Der Begriff hat nichts verloren bei aufgeklärten Menschen, denn er beschreibt eben nicht, er verklärt.
Bei solchen Begriffen kann ich jedenfalls nur kotzen.
Der äußere Blick richtet sich auf Unwichtiges wie Piraten-Prommis oder Dress-Code. Dazu Aussagen wie[sic]… Ohnehin sind ja Systemadministratoren angenehmere Gesprächspartner als Pädagogiklehrer… Bedenklich fand ich jedoch auch bei den Piraten die Vorliebe für Funktionskleidung. Ästhetisch ist da noch Luft nach oben… Sie versuchen im Augenblick vor allem skandalfrei und unangreifbar zu sein.
Unter Satire, okay.
Die innere Sicht sagt mir, was bei den Piraten-Crews an Basis- und Direktdemokratischem Spirit – bis zur Kotzgrenze – im Moment konstruiert wird hat aus meiner Sicht ein – [sic]alternativloses – Alleinstellungsmerkmal, ist zukunftsweisend.
Die Haltung der Piraten zu Themen wie Wirtschaft, Arbeitsmarktpolitik etc. ist in Bochum erweitert worden. Die Architektur des Programms wird im Fluss bleiben.
Harmonische Systeme sind dumme Systeme. Harmonisch veranlagt sind die Piraten nicht, ob sie bissig rüberkommen ist Latte.
Vernetzung macht all diese Dinge möglich, aber nicht unbedingt einfach.
Glückauf