Polen, Fußball, Ruhrgebiet?

Förderturm der Zeche Consolidation in Gelsenkirchen. Hier waren viele Spieler von Schalke 04 beschäftigt. Foto: Nick Stahlkocher Lizenz: CC BY-SA 3.0


Polnische Fußballspieler prägten den Fußball im Ruhrgebiet. Die scheinbare Erfolgsgeschichte ist aber auch eine der Diskriminierung.

Fußball ist ein Sport der Legenden. Auch und vor allem im Ruhrgebiet, wo, wie schon Franz Beckenbauer wusste, das Herz des Fußballs in Deutschland schlägt. Zwei Legenden sind bestimmend: Die Vereine im Ruhrgebiet wurden von Arbeitern gegründet und das Ruhrgebiet war immer schon ein von Toleranz geprägter Schmelztiegel, was sich ja an der Integration der Polen festmachen lasse. Gemein haben beide Legenden, dass sie mit der Wirklichkeit nicht viel zu tun, aber wahre Kerne haben.

Fußball war bis Ende des Ersten Weltkriegs vor allem ein Sport des Bürgertums, der zum Teil auch im Sportunterricht der Gymnasien unterrichtet wurde. Als zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch im Ruhrgebiet zahlreiche Fußballvereine gegründet wurden, ging die Initiative oft von bürgerlichen Anhängern dieses Sports aus: Heinrich Grütters, der Direktor des Essener Ruhrmuseums, schreibt in einem in dem Buch „Fußball im Ruhrgebiet – Mythos und Moderne“ erschienen Aufsatz: Die Initiative des 1904 gegründeten Vereins Westfalia Schalke sei von Lehrlingen Herdfabrik Küppersbusch ausgegangen. Fußball sei eine Art Yuppiesport gewesen. Denn kaum jemand, der auf einer Zeche arbeitete, absolvierte eine Berufsausbildung. Die meisten Bergleute waren „Hauer“ und hackten die Kohle aus den Flözen. Sie wurden ein paar Tage angelernt, dann ging es an der Arbeit.

An der Gründung von Borussia Dortmund 1909 war entscheidend der Hüttenbeamte Franz Jacobi beteiligt, der sich damit dem Fußballverbot widersetzte, dass in der Dreifaltigkeitsgemeinde galt, in dem er und andere Ur-Borussen aktiv waren. Unter den ersten BVB-Mitgliedern waren Stahlarbeiter, aber auch Brauergesellen, die aus dem seinerzeit armen Bayern ins damals reiche Dortmund gezogen waren. Ein im selben Jahr gegründeter Bayernverein unterhält bis heute eine Alm im benachbarten Witten.

Vereine wie Rot Weiss Essen, der VfL Bochum oder Rot Weiss Oberhausen gingen zum Teil aus klassischen Turnvereinen hervor oder kooperierten mit ihnen. Der langjährige Gelsenkirchener Lokalrivale von Schalke trug diese Geschichte bis zu seinem Ende 2007 im Namen: Spiel- und Turnvereinigung Horst-Emscher e. V..

Während des Ersten Weltkriegs gewann der Fußball unter den Soldaten fast aller Länder an Anhängern. Sie kickten in Kampfpausen hinter der Front und ab und an traten auch die Soldaten verfeindeter Staaten gegeneinander an: An Weihnachten 1914 spielten Briten und Deutsche an der Front in Frankreich miteinander Fußball.  Vor allem britische Soldaten stellten die Bälle und trugen so dazu bei, das Spiel unter den Deutschen bekannter zu machen.

Nach dem Ersten Weltkrieg begann dann der Aufstieg des Fußballs zu einem Massenphänomen. Die meisten „Ruhrpolen“ hatten da das Ruhrgebiet allerdings schon verlassen.

Ab 1870 zogen Polen aus dem vom Deutschen Reich besetzten Polen in Ruhrgebiet. Mit der Reichsgründung beschleunigte sich die Industrialisierung und Arbeitskräfte wurden gesucht. Die meisten Polen wurden diskriminiert: Sie sprachen kein oder kaum Deutsch, sahen die Deutschen in ihrer Heimat als die Besatzer, die sie waren und sie waren katholisch. Preußen, die Macht, die das Kaiserreich dominierte, war hingegen evangelisch, der Kaiser preußischer König auch das Oberhaupt der evangelischen Landeskirche.

Auch aus Polen zugewandert waren die Masuren gläubige Protestanten. Sie standen deutlich weniger unter Druck als die katholischen Polen. Spöttisch wurden sie zum Teil  „des Kaisers liebste Polen“ genannt.

1910 hatten 500.000 der drei Millionen Bewohner des Ruhrgebiets polnische Wurzeln. Nach Ende des Krieges ging diese Zahl schnell zurück. Je nach Quelle blieben nur 30-40 Prozent der Ruhrpolen im Revier. Die anderen zogen in die 1918 neu gegründete zweite polnische Republik oder machten von ihrem, ihnen von den Alliierten zugestandenen Recht Gebrauch, sich in den Bergbaugebieten in Frankreich oder Belgien niederzulassen. Das Ruhrgebiet war für die meisten Ruhrpolen nicht der Lebensmittelpunkt ihrer Wahl.

Viele Polen, die im Ruhrgebiet blieben, deutschten ihren Namen ein, um der Diskriminierunjg zu entgehen. Hermann Greszick, der Platzwart von Rot Weiss Essen, änderte Anfang der 30er-Jahren seinen Namen in Kress. Auch Spieler suchten sich neue Namen: Aus Regelski wurde Reckmann, Czerwinski hieß fortan Rothardt und Zembrzyki nannte sich Zeidler.

Lange wurden die Polen im Revier als „Pollacken“ beschimpft. Polnische Wirtschaft war ein Synonym für Chaos und noch in den 80er-Jahren bezeichnete man eine Frau, die Umgang mit angeblich zweifelhaften Männern hatte als „Polackenbraut.“

Dass nach dem Ersten Weltkrieg polnischstämmige Spieler in fast allen großen Clubs der Region spielten und es oft zu Ruhm brachten, ändere nichts am Umgang mit ihnen. Polen wurden diskriminiert und die polnischen Spieler trotzdem verehrt. Ihre Erfolge nutzten der Community wenig.

Nach 1918 änderte sich der Charakter des Fußballs. Wie überall in Europa wurde er nun zu einem Arbeitersport. Vor allem die Zechen unterstützten die Gründung der Vereine und das auf vielfältigen Weg: Spieler wurden zum Teil freigestellt und auf den Betriebsgeländen wurden Fußballplätze angelegt. Die damalige wirtschaftliche Stärke der Kohleindustrie wurde zum entscheidenden Faktor des Aufstiegs der Ruhrgebietsvereine, die bis in die 50er-Jahre anhalten sollte. Als in den 60er-Jahren die Professionalisierung des Fußballs mit der beginnenden Bergbaukrise zusammenfiel, endete die lange Ära des Erfolgs, der nun zunehmend durch Mythenbildung ersetzt wurde.

Diethelm Blecking schreibt in seinem 2019 erschienen Artikel „Polen und Masuren im Ruhrgebietsfußball“: „In der Gauligasaison 1937/38 spielten 15 Vereine aus dem Ruhrgebiet um die Gaumeisterschaft, dabei setzte jeder Verein mindestens einmal einen Spieler mit polnischer Namenswurzel ein: Rodzinski, Pawlowski, Sobczak, Lukasiewicz, Tomaszik, Piontek … Während der Gesamtsaison werden 68 Spieler dieser Kategorie erwähnt.“

Viele, allerdings zumeist nicht prominente Spieler, kickten auch in den Vereinen der Deutschen Jugendkraft (DJK) im Revier, dem 1920 gegründeten katholischen Sportverband, dessen martialischer Namen sich auf die Jugendbewegung der 20 Jahre und nicht auf den Nationalsozialismus bezog. Die Vereine waren in der Regel katholischen Gemeinden zugeordnet, also einem religiösen Umfeld, dem sich viel Polen verbunden fühlten.

Ein Grund, warum ab den 20er-Jahren zunehmend Arbeiter nicht nur auf die Tribünen, sondern auch Spielfelder zog, war die damals allerdings noch streng verbotene Möglichkeit, mit dem Kicken Geld zu verdienen und so sozial aufzusteigen. Über die Schalke Legende Ernst Kuzorra witzelte man damals am Schalker Markt: „Auf die Kohle, die der Ernst Kuzorra, er stammte aus Masuren, hochgeholt hat, konnze kein Funt Ärpsen heiß kriegen.“ (Mit der Kohle Ernst Kuzorra gefördert hat, kannst Du nicht einmal ein Pfund Erbsen kochen.). Die illegale Finanzierung der Spieler, die oft nur noch formal auf den Zechen arbeiteten und offiziell eine kleine Aufwandsentschädigung erhalten durften, aber eigentlich Profis waren, führte zum ersten großen Schalker-Skandal. Und der hatte einen tragischen Ausgang: Nachdem der Westdeutschen Spielerverband die Bücher von Schalke 04 geprüft hatte, kam er zu dem Ergebnis: „Die eingehende Prüfung der Kassenbücher mit den dazu gehörigen Belegen … hat im weitesten Maße Verstöße gegen die Amateurbestimmungen erwiesen.“ 14 Schalker, darunter Ernst Kuzorra und Fritz Szepan wurden zu Berufsspielern erklärt, acht Vorstandsmitglieder des Vereins aus dem Verband ausgeschlossen. Der Schalker Kassierer Wilhelm Nier ertränkte sich nach dem Urteil im Rhein-Herne-Kanal.

Kuzorra und Szepan sind bis heute die wohl bekanntesten polnischstämmigen Spieler des Ruhrgebietsfußballs. Schalke, stark unterstützt von der erst 1993 stillgelegten Zeche Consolidation, bei der auch viele Spieler beschäftigt waren, galt als der „Polackenverein“ schlechthin.

Für die Nazis war die polnische Dominanz bei Schalke, dem erfolgreichsten Verein zwischen 1933 und 1945, und anderen Mannschaften ein Problem, dass sie, wie der Historiker Diethelm Blecking beschreibt, durch Umdeutung lösten:

„Die Schalker Spieler Ernst Kuzorra, Fritz Szepan, Adolf Urban und Rudolf Gellesch, sowie der Düsseldorfer Stanislaus Kobierski, die Hamburger Paul Zielinski und Josef Rodzinski gehörten regelmäßig zum Kader der deutschen Nationalmannschaft. Spieler mit polnischer oder masurischer Familienbiografie bürgten so ausgerechnet in der Zeit des Dritten Reiches für die Spielstärke des Ruhrgebietsfußballs, besonders Schalkes, aber auch der deutschen Nationalmannschaft. Die nationalsozialistische „Volkstumsforschung“ löste dieses Dilemma dadurch, dass ihre Vertreter im Revier nur noch Masuren sichteten und diese für „ihrer Kultur und Denkungsart nach rein deutsch“ erklärten.“

Der Boom des Ruhrgebietsfußballs ging auch in den 50er-Jahren weiter. Und Spieler mit polnischen Wurzeln gehörten weiterhin zu den Leistungsträgern. Sie waren die Enkel der Polen, die im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert ins Revier kamen:

Bei den Sportfreunden Katernberg aus Essen standen damals Jerosch, Kosinski, Pisarski, Majewski, Mieloszyk, Radziejewski und Jankowski auf dem Platz. Als der Herner SV Sodingen 1955 in der Endrunde der Deutschen Meisterschaft spielte, hatte die Hälfte der Mannschaft polnische Namen: Sawitzki, Kropla, Lika, Nowak, Adamik, Dembski und Konopczinski. Die Geschichte der dritten Generation der Zuwanderung war immer noch im Fußball sichtbar. Auch Hans Tilkowski, in den 50er und 60er-Jahren Torwart bei Westfalia Herne und Borussia Dortmund, hatte ebenso polnische Wurzel wie Reinhard „Stan“ Libuda, die große, tragische Gestalt des Revierfußballs. Doch die Ära der Vereine aus dem Ruhrgebiet prägenden polnischen Fußballer endete nicht in den 60er-Jahren. Von 2010 bis 2014 schoss der polnische Stürmer Robert Lewandowski für die Borussen 74 Tore.

Er gehörte zusammen mit den ehemaligen Spielern der deutschen Nationalmannschaft Miroslav Klose und Lukas Josef Podolski zu den polnischen oder polnischstämmigen Spielern, die den Fußball in Deutschland auch im 21. Jahrhundert prägten. Im Gegensatz zu vielen ihrer Vorgänger leugnen allerdings weder Podolski noch Klose ihre Herkunft. In der Nationalmannschaft sprachen beide auch polnisch miteinander. Für Klose sind Besuche in Polen „Wie eine Kur“. Das Ruhige in seinem polnischen Wesen, sagte Klose 2006 dem Stern, wolle er auch seinen Kindern vermitteln. Lukas Podolski ist 2021 fußballerisch sogar in sein Geburtsland zurückgekehrt und das auf Dauer: Er hat in diesem Sommer seinen Vertrag beim polnischen Erstligisten Górnik Zabrze bis 2025 verlängert: „Ich bin hier aufgewachsen, das ist mein Klub, seit ich klein war.“

Der Artikel erschien in einer ähnlichen Fassung bereits in der Jungle World

Dir gefällt vielleicht auch:

Abonnieren
Benachrichtige mich bei
0 Comments
Oldest
Newest
Inline Feedbacks
View all comments
Werbung