Politik statt Evidenz bei WPATH-Leitlinie

Till Randolf Amelung Foto: Joanna Nottebrock


Die Standards of Care der World Professional Association for Transgender Health (WPATH) gelten in der Medizin als Leitstern, an dem sich international die Behandlung von Menschen mit Geschlechtsdysphorie in allen Altersstufen orientiert. Jüngste Vorkommnisse aus dem US-Regierungsgehege wecken jedoch erhebliche Zweifel an der medizinischen Evidenz. Von unserem Gastautor
Till Randolf Amelung.

Gerade rund um die Frage, wie Kinder und Jugendliche mit Geschlechtsdysphorie am besten behandelt werden sollten, toben hitzige Auseinandersetzungen. In den USA ist dieses Thema längst Teil eines politischen Kampfs zwischen Demokraten und Republikaner geworden. In den letzten Jahren haben republikanisch regierte US-Bundesstaaten Gesetze erlassen, die geschlechtsidentitätsbestätigende Behandlungen an Minderjährigen drastisch einschränken, gar unter Strafe stellen.

Verbote von identitätsbestätigenden Behandlungen

In derzeit 20 Bundesstaaten dürfen Minderjährige daher keine Pubertätsblocker, gegengeschlechtliche Hormone und chirurgische Eingriffe erhalten. Einige dieser Gesetze verbieten darüber hinaus noch Teilnahmen in Sportgruppen oder die Benutzung von Toiletten, die nicht dem biologischen Geschlecht entsprechen.

Die von Präsident Joe Biden geführte US-Regierung will hingegen die Rechte von Transpersonen stärken und hat daher beim Surpreme Court einen Berufungsantrag gestellt, der die gesetzlich erlassenen Verbote in den betreffenden Bundesstaaten blockieren soll. Laut „Zeit Online“ sollen die Verhandlungen im Herbst beginnen.

Politische Einflussnahme auf Leitlinien?

Nun gerät eine Beamtin der Regierung aber selbst in die Schlagzeilen: Rachel Levine, stellvertretende Gesundheitsministerin und Transfrau, soll die World Professional Association for Transgender Health (WPATH) Einfluss bedrängt haben, in ihrer achten Fassung der Standards of Care Altersgrenzen bei den Behandlungsempfehlungen für Minderjährige zu entfernen.

Das geht laut der „New York Times“ aus E-Mails hervor, die der kanadische Sexualforscher und Psychiater James Cantor als Teil seines Berichts eingereicht hatte, den er zur Unterstützung eines gesetzlichen Verbots geschlechtsangleichender Maßnahmen im US-Bundesstaat Alabama verfasste. Cantor, der frühe gender-affirmative Eingriffe mit Pubertätsblockern und gegengeschlechtlichen Hormonen ablehnt, wollte damit belegen, dass die WPATH die Ausarbeitung ihrer Standards of Care aus politischen und nicht aus wissenschaftlichen Erwägungen getroffen habe.

Die Standards of Care der WPATH sind international ein maßgeblicher Bezugspunkt, an dem sich die Behandlung von Transpersonen orientiert. Auch deutsche Leitlinien wie die sich in den letzten Abstimmungsprozessen befindliche S2k-Leitlinie für Kinder und Jugendliche mit Geschlechtsinkongruenz und -dysphorie verweisen auf die der WPATH.

Umstrittene Altersgrenzen

Ende 2021 veröffentlichte die WPATH ihren Leitlinienentwurf für die achten Standards of Care. Darin wurde noch empfohlen, das Mindestalter für Hormonbehandlungen auf 14 Jahre, für Mastektomien auf 15 Jahre, für Brustvergrößerungen oder Gesichtsoperationen auf 16 Jahre und für Genitaloperationen oder Hysterektomien auf 17 Jahre festzulegen.

In den im Sommer 2022 final veröffentlichten Standards of Care waren schließlich alle Altersgrenzen aus der Textvorlage gelöscht worden. In einer ausführlichen Reportage zeichnete die „New York Times“ im selben Jahr die schon damals offenkundige Kontroverse um die richtige Behandlung von geschlechtsdysphorischen Minderjährigen nach.

Widerstand kam demnach vor allem von transaktivistischen Akteuren, darunter auch Ärzten. Nach der transaktivistischen Lesart ist jede Form von Beschränkung auf einer Stufe mit Konversionstherapien (klassisch: Umpolungstherapie, um Homosexuelle zu heterosexualisieren) zu sehen. Man solle sicherstellen, dass Kinder und Jugendliche die Behandlungen erhalten, die sie wünschen und nicht, sie vor etwas zu schützen. Nun, zwei Jahre später, wird durch E-Mails bekannt, dass offenbar auch Regierungsangehörige wie Rachel Levine intervenierten.

Einflussnahme auf Studien

Kurz danach wurde eine weitere Aktion der WPATH bekannt, die Zweifel an der medizinischen Evidenz ihrer Standards of Care befeuern: Der Journalist Jesse Singal berichtet im „Economist“, dass  Verantwortliche der WPATH in die Erstellung von Metastudien zur Evidenz gender-affirmativer Behandlungen bei Minderjährigen eingegriffen haben sollen. Ihr Ziel: Für die eigenen Ziele ungünstige Ergebnisse zu verhindern. Laut Singal hätte die WPATH beim 2018 beim Evidence-Based Practice Centre der Johns Hopkins University solche Studien in Auftrag gegeben.

Doch die WPATH habe sich von Anfang an vorbehalten wollen, die Arbeit der Wissenschaftlern zu kontrollieren und auch bestimmen wollen, was veröffentlicht werden solle. Die Leitung des Evidence-Based Practice Centre sah die wissenschaftliche Unabhängigkeit in Gefahr. Laut „Economist“ sagte John Ioannidis von der Universität Stanford, der Leitlinien für systematische Übersichten mitverfasst hat, dass es zu voreingenommenen Zusammenfassungen oder zur Unterdrückung ungünstiger Beweise kommen könne, wenn sich Sponsoren einmischen oder ein Veto einlegen können.

Im Ergebnis wurde schließlich nur eine einzige Metastudie veröffentlich, an der laut nun offenbar gewordener interner Dokumente eine Person der WPATH an der Abfassung des Artikels und dessen endgültiger Genehmigung beteiligt gewesen sein soll.

Relevanz für deutsche Leitlinien

Die Geschehnisse in den USA sind auch für die Auseinandersetzung in Deutschland relevant. Die Autoren der deutschen S2k-Leitlinien und ihr Leiter Georg Romer sehen sich in Einklang mit internationalen Standards wie eben von der WPATH und betonen, sich auf den aktuellen Forschungsstand zu stützen. Doch auch hierzulande wächst die Kritik: zwei der beteiligten Fachgesellschaften haben ein Veto eingelegt und wollen die bisherige Fassung nicht mittragen.

Auf dem Deutschen Ärztetag wurde in diesem Jahr eine Resolution verabschiedet, die auf die schwache Evidenzbasis des gender-affirmativen Ansatzes verweist, mit dem zu schnell die Weichen für eine medizinische Geschlechtsangleichung gestellt werden. Nun bestärken die jüngsten Vorkommnisse um die WPATH die Kritik. Auf dieser Basis kann an der bisherigen Fassung der deutschen Leitlinien nicht länger festgehalten werden.

Till Randolf Amelung ist Redakteur des Blogs der Initiative Queer Nations e.V. Als freier Autor veröffentlicht er mit Schwerpunkt auf geschlechterpolitischen Themen auch in anderen Medien, zum Beispiel der Jungle World. Ebenso veröffentlicht er in wissenschaftlichen Sammelbänden wie dem Jahrbuch Sexualitäten der IQN. 2020 gab er im Querverlag den Sammelband Irrwege – Analysen aktueller queerer Politik heraus. 2022 erschien sein Essay Transaktivismus gegen Radikalfeminismus. Gedanken zu einer Front im digitalen Kulturkampf.

 

Der Text erschien in ähnlicher Form bereits auf Queer Nations

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