Da der Film gerade bei den Oscars abgeräumt hat, kann man ihn auch jetzt noch besprechen: Die letzte halbe Stunde ist die beste, weil wie von Zauberhand die Protagonistin ihre Beeinträchtigung überwunden hat, aber bis dahin hat man ja schon vier halbe Stunden des angestrengten Laienspiels ertragen müssen, ständig vor dem geistigen Auge sehend, wie die Schauspielerin Videos von Kindern studiert, mit viel Ernst und Eifer Bewegungen imitiert, sich Notizen macht, für diese Rolle, die so hart „Rolle“ ist, dass der Cringe darüber hundertmal mehr unangenehmes Herumrutschen auf dem Kinosessel verursacht als die permanenten Sexszenen oder aufgesägten Kalotten, die allesamt nur langweilen, weil keine Figur irgendwie sympathisch, glaubwürdig, unvorhersehbar wäre, kein einziger Mensch vorkommt, der ein Interesse an den Ereignissen begründen würde.
Meiner Meinung nach erkennt man gute Kunst daran, dass der Urheber verschwindet; das Werk, egal ob plakativ überzeichnet oder bescheiden und leise, sich als unabdingbar präsentiert, einfach da ist, als ob es nur so sein könnte. Während sich bei schlechter Kunst der Urheber zwischen Werk und Rezipienten drängt, so dass man ständig wahrnimmt, mit welchem Bemühen jetzt versucht wird, einen Effekt zu erreichen, wie man manipuliert werden soll und welche naheliegenden Ideen jetzt auch noch, selbstverständlich, umgesetzt werden. Jetzt noch eine lesbische Sexszene, na klar. Hier bitte ein philosophisches Zitat, um den gebildeten Teil des Publikums zu servilem Lachen zu bringen. Wie können wir Godwins Kindheitserlebnisse noch eine Stufe steigern, obwohl wir zwecks Schockeffekt schon hoch eingestiegen sind? Lass uns die Kulissen so Wes-Anderson-mäßig bunt überzeichnen, dann ist auch klar, dass das alles nicht realistisch ist und keiner kann uns vorwerfen, wenn’s unlogisch ist, aber gleichzeitig bringen wir ernste Themen rein.
„Poor Things“ ist 140-minütiges Bemühen. Aus jeder Einstellung spricht der ermüdende Versuch, etwas zu erschaffen – aber was erschaffen wird, ist eben nicht das erhoffte Werk, sondern die Dokumentation der Arbeitsschritte, die man sich dafür ausgedacht hat.
Natürlich ist die Idee reizvoll, dass jemand, der die gesellschaftlichen Konventionen nicht kennt, dadurch bestimmte Freiheiten erlangt. Aber dafür gibt es Alf!!!
Um auch etwas zum Inhalt zu sagen: Der Film vermittelt ein gewisses Gefühl von Rebellentum, weiblichem Empowerment und Anarchie, was man ihm zugute halten kann. Auch wenn er sonst kaum Gefühle auszulösen vermag, ist diese Teilaufgabe halbwegs gelungen.
Wenn man sich die Prämisse aber genauer anschaut, ist das doch sehr fragwürdig. Die Stärke Bellas speist sich aus zwei Quellen: der Ignoranz gegenüber gesellschaftlichen Konventionen und der starken sexuellen Begierde. Es wird viel Zeit darauf verwendet, zu zeigen, wie sie zwischenmenschliche Signale übersieht, ungehemmt eigenen Bedürfnissen folgt, frei ist von Ekel gegenüber Leichen und so weiter. Die Empathielosigkeit ist lustig und eine Stärke, wenn sie sich gegen Personen richtet, die zuvor als Arschlöcher markiert wurden. Aber natürlich stehen die Macher vor dem Problem, dass Erziehung nicht nur Unterdrückung darstellt, sondern auch sinnvolle Rücksichtnahme beibringen soll. Die Reifung zu einer empathischen Person mit moralischem Kompass wird dann über eine Erleuchtungssituation gelöst, die offenkundige Analogien zu Buddha aufweist. Allerdings wurde Siddhartha Gautama zeitlebens von allem Schrecklichen fern gehalten, während Bella die Kindheit damit zubrachte, Leichen zu fleddern. Er war auch schon ein junger Mann, der vielleicht keine Armut gesehen hat, aber den Umgang mit anderen Menschen in seinem Umfeld gelernt hat.
Dass der Anblick toter Babies, bei ihr, die bis dahin rücksichtslos ihre Bedürfnisse ausgelebt hat und frei von Schrecken mit menschlichen Kadavern gespielt hat, die gezeigte Reaktion auslöst, wirkt unglaubwürdig. Umso bombastischer wird es inszeniert, um zu übertünchen, dass es nicht nachvollziehbar vorbereitet wurde.
Die sexuelle Begierde ist als Prämisse noch seltsamer. Der Film geht davon aus, dass ein Kind, wenn man ihm nur einen erwachsenen weiblichen Körper geben würde, ein unbändiges Sexualleben entwickeln würde und dies wird dramaturgisch als Stärke eingesetzt. Tatsächlich ist es ja denkbar, kindliche Sexualität in einem Film zu thematisieren, allerdings kommt man dabei in extrem sensible Bereiche, die mit Missbrauch, Schuldgefühlen und Traumatisierung zu tun haben. Bella wird im Bordell nicht traumatisiert, und zwar, weil sie so gerne fickt, dass es für sie eine Win-Win-Situation darstellt. Stinkende Freier werden mit einer gewissen Naivität kommentiert, sind aber kein Problem. Selbst, dass sie auch brutalem Sex was abgewinnen kann, lassen sich die Macher nicht zu erwähnen nehmen. Was beweist, dass sie den Widerspruch selbst gesehen haben und versuchen, den Zuschauer mit einem Kniff darüber wegzutäuschen.
Bella knackt das System, in dem sie sich weder an den gesellschaftlichen Konventionen stört, noch irgendeinen Leidensdruck hat, wenn ihr Körper verkauft wird. Sie sagt zwar später, dass sie jetzt keine Lust mehr aufs Bordell hat, aber diese Aussage ergibt sich aus keinen negativen Erfahrungen, die man dem Zuschauer zugemutet hätte. Der Zuschauer ist in der Rolle, das Geschehen aus seiner gesellschaftlich geprägten Sicht „eigentlich nicht richtig“ zu finden und sich dabei zu ertappen, dass es doch irgendwie ganz reizvoll sein kann, wenn man diese Konventionen ignoriert.
Die Konvention, dass stinkende, brutale Männer Frauen in prekären finanziellen Situationen nicht für ihre sexuelle Befriedigung benutzen sollen, finde ich aber gar nicht so schlecht und ich glaube nicht, dass Kinder, hätten sie bloß einen weiblichen Körper und keine gesellschaftlichen Konventionen, den ganzen Tag von wechselnden Männern missbraucht werden wollen.