Der Holocaust-Überlebende Shmuel Reinstein wollte seinen 90. Geburtstag eigentlich im Rahmen eines Überlebendentreffens in Deutschland feiern. Nun macht ihm Corona einen Strich durch die Rechnung. Ein Porträt von unserem Gastautor Oliver Vrankovic.
Shmuel Reinstein wurde 24. April 1930 in Strzemieszyce geboren. Er überlebte die Konzentrationslager Auschwitz, Gross Rosen, Buchenwald und Flossenbürg. Einen Tag vor seinem 15. Geburtstag – am 23. April 1945 – wurde er zusammen mit seinem älteren Bruder Meir vom Todesmarsch Richtung Dachau befreit. Nach dem Krieg verbrachte Shmuel einige Wochen im DP Zentrum Kloster Indersdorf, bevor er als Zionist ein illegales Flüchtlingsschiff Richtung Palästina bestieg.
Seinen 90. Geburtstag wollte Shmuel im Rahmen eines Überlebendentreffens in Indersdorf und Flossenbürg feiern. Die Zeitgeschichtsforscherin Anna Andlauer vom Heimatverein Indersdorf: “Es war geplant, dass Shmuel mit Familie an seinem 75. Befreiungstag zunächst in Indersdorf sein würde. Wir wollten zusammen essen, singen und tanzen. An seinem Geburtstag hätten wir ihm morgens beim Frühstück das erste Ständchen gesungen. Weitere Überlebende wollten da sein und mitfeiern […] Nach dem Mittagessen mit Geburtstagskuchen wären wir nach Flossenbürg gefahren, wo beim Empfang der Überlebenden die internationale Jugendbegegnung was singen wollte.”
Wegen der Corona Krise wurde das Treffen abgesagt und Shmuel und seine Frau Aviva sind bei sich zu Hause isoliert. Aus Indersdorf werden ihn an seinem 90. Geburtstag Videobotschaften auf seinem ipad erreichen.
Shmuel Reinstein: Ein bewegtes Leben
Im Januar 2019 erzählte mir Shmuel, wie der Kontakt zu Anna Andlauer zu Stande kam. Im Arbeitszimmer seines Hauses in Givatayim zeigte er mir bei Kent Zigaretten und schwarzem Kaffee das Titelbild einer Beilage der Yedioth Achronot vom 13.01.2010, auf dem vier Dutzend s/w Aufnahmen junger Menschen zu sehen sind, die ein Schild mit ihrem Namen in die Kamera halten. Die Bilder sind alle in Indersdorf entstanden und in der dreiseitigen Beilage der Yedioth wurde gefragt, ob Jemand eine der Personen identifizieren könne.
Shmuel Reinstein war das achte Kind jüdischer Händler und sein Vater, der Eier und Butter nach Deutschland verkaufte, verstarb früh und seine ältesten Brüder führten den Handel weiter. In der Familie wurde Jiddisch, Polnisch und Deutsch gesprochen.
Als die Deutschen 1933 die Stadt eroberten, wurden Shmuel, seine Mutter und seine Geschwister, die noch bei der Mutter wohnten aus ihrem Haus in der Hauptstraße der Stadt geworfen um Platz für Volksdeutsche zu machen. Die Familie mietete zwei Zimmer eines Hauses auf dem Gelände einer Brauerei, die wenig später in die Hände des SS Offiziers Huber fiel. Dieser annektierte mit der Fabrik die Fünf Zimmer Fabrikantenwohnung und war fortan der Nachbar der Familie Reinstein. SS Huber hatte einen Faible für Hasen und Shmuel begleitete Adolf, den gleichaltrigen Sohn des SS Offiziers manches Mal beim Futter holen.
Die Deutschen Besatzer drangsalierten die Juden mit immer mehr Verboten und Restriktionen und unterstützt durch die Denunzianten begann die Verschleppung der versteckt lebenden Juden. Als Adolf Shmuel verriet, dass sein Vater seiner Mutter gesagt hat, dass die Nachbarn am nächsten Tag dran sein werden, ging Shmuel mit dieser Information schnell zu seiner Mutter. Diese verlor darauf keine Zeit und floh mit den Kindern vier Tage lang in den Wald.
Zurück in der Stadt wurden sie mit den Juden der Stadt gezwungen ins Ghetto zu ziehen. Die Polen, so erzählt Shmuel, krallten sich derweil den Besitz der Juden. Die ständige Verschärfung der Repressionen ging weiter. Jüdische Schulen wurden verboten. Die Deutschen verlangten nach Gold, Kupfer und Pelzen. Die Juden wurden gezwungen, Hunderte junge Frauen und Hunderte junge Männer zur Zwangsarbeit an die Deutschen zu überstellen. Wer den Forderungen nicht nachkam wurde deportiert.
Besuch in Strzemieszyce
Als die Deutschen mit der von ihnen installierten polnischen Hilfspolizei eine Aktion durchführten waren Shmuels älterer Bruder und seine Frau bei der Zwangsarbeit und ihr Baby bei Shmuels Mutter. Mit Lautsprechern wurden die Juden zum Appellplatz beordert. Shmuel tauchte zu früh aus seinem Versteck auf und wurde zum Appellplatz gebracht, von die Deportationen bereits im Gang waren. Seine Mutter, die sich und das Baby ebenfalls versucht hat zu verstecken, sah er nie wieder und hat nie erfahren, wo sie umgebracht wurde. Die Deutschen führten am Appellplatz eine Selektionen durch und schickten ihn auf die Seite der Nicht-Arbeitsfähigen. Sein Bruder Meir war bei den Arbeitsfähigen. Shmuel rannte und entkam ins Haus seiner Großmutter, das direkt am Appellplatz lag und wurde dort mit Hunden aufgespürt.
Im Jahr 1992 nahm Shmuel alle seine Nachkommen mit nach Strzemieszyce um ihnen das Haus zu zeigen und den Treppenaufgang, unter dem er versucht hatte sich zu verstecken. Sein Enkel Assaf Yablon sagt: “Dies war eine unvergessliche Zeit für uns als Familie.“
Zurück am Appellplatz gelang es Shmuel, besessen vom Gedanken an Flucht, eine Unaufmerksamkeit des Wachmanns, der fortan ein Auge auf ihn hatte, auszunutzen und sich zu seinem Bruder zu schleichen, der in sofort mit einem Mantel eines Freundes bedeckte. Dann aber wurde eine weitere Selektion durchgeführt, bei der nach Alter und Beruf gefragt wurde. Der 11 1/2 – jährige Shmuel antwortete: 17 und Hilfsklempner. Mit anderen Arbeitsfähigen wurde er nach Auschwitz gebracht, wo ihnen eine Nummer eintätowiert wurde. Wie sein Bruder Meir kam er in Arbeitslager Blechhammer. Shmuel gab sich fortan als Schreiner, Installateur und Klempner aus und wurde einige Male vom Judenältesten davor gerettet, aufzufliegen.
Der Tag in Blechhammer begann um Vier mit einem Becher lauwarmem Wasser und dem Appell, der bis Viertel vor Sieben dauerte. Dann holte die SS die Zwangsarbeiter ab. Einmal als Shmuel beim Straßenbau eingeteilt war und Steine nicht zur Zufriedenheit des Aufsehers klopfte, schlug der ihn mit dem Gewehrkolben und verletzte ihn. Ein holländischer Kriegsgefangener, der die Szene sah, rettete Shmuel davor an Ort und Stelle erschossen zu werden, indem er dem Aufseher sagte, dass er den Jungen als Helfer für Waldarbeiten brauche.
Von Blechhammer kamen Shmuel und sein Bruder Meir nach Gros Rosen und von dort nach Buchenwald. Dort bekam Shmuel die Kleidung eines politischen Häftlings und war fortan politischer Häftling. Von Buchenwald wurden Shmuel, der sich fortan Lolek nannte, und Meir nach Flossenbürg deportiert, wohin auch Insassen aus anderen Konzentrationslagern verlegt wurden.
Im KZ Flossenbürg
Im Hauptlager Flossenbürg, wo sich zu der Zeit ca. 15.000 Häftlinge befanden, wurden Shmuel und sein Bruder als politische Gefangene mit ca. 2000 Polen und Ukrainern in eine Baracke gequetscht. Von Mitgefangenen bezichtigt Jude zu sein musste sich Shmuel vor einem SS Mann auf einen Tisch stellen und die Hose runter lassen. Shmuel lies sich Zeit, wusste aber dass er seinem Tod nicht entkommen würde. Sein unbeschreibliches Glück war ein Fliegeralarm. Der SS Mann rannte und Shmuel und sein Bruder übernachteten fortan in der Eiseskälte neben der Baracke. Als Shmuel im Dezember 2018 von Flossenbürg als einem „ganz furchtbaren Ort“ erzählt, macht er eine Pause und starrt ins Leere. „Es da vieles“, so sagt er, „das zu brutal ist, um erzählt zu werden“. Und es wurde klar, dass Shmuel vielleicht nie Alles erzählen wird, was er durchmachen musste.
Als dir Amerikaner Bayern eroberten, wurden die Häftlinge aus Flossenbürg auf verschiedenen Evakuierungsmärschen Richtung Dachau geschickt, um sie dem Zugriff der US Armee zu entziehen. Die Todesmärsche zogen eine Blutspur durch die Oberpfalz. In dünner Häftlingskleidung und mit Holzschuhen in der Kälte und im strömenden Regen durch Felder und sumpfige Wiesen, war es vielen Häftlingen nicht möglich, Schritt zu halten. Wer zurückfiel wurde gnadenlos erschossen. Shmuel erzählt, wie sie auch durch Dörfer getrieben wurden, in denen die Bevölkerung die ausgemergelten Häftlingen gesehen hat. Nicht selten wurden Menschen vor den Augen von Dorfbewohnern umgebracht. Nach Kriegsende wurden Tausende Tote entlang der Routen der Todesmärsche entdeckt. Es gab kein Dorf, in dem nicht ein Dutzend Leichen zurückblieben, erzählt Shmuel. Wenn er heute hört, dass die Deutschen nichts wussten, kann er nur ungläubig den Kopf schütteln. Shmuel lief in den ersten Reihen um hier und da zu riskieren, vom Wegrand etwas Essen aufzupicken ohne zurückzubleiben.
Als sie bei Regensburg Panzer hörten und SS Männer desertierten, wussten sie dass ihre Rettung nahe ist. Die amerikanischen Befreier, so erinnert sich Shmuel, gaben den geschundenen Menschen, die den Todesmarsch überlebt hatten, Kekse und Schokolade. Shmuel und sein Bruder fanden in Regensburg erst ein leeres Haus ohne Essen, dann ein leeres Haus mit Essen. Doch das Leiden war nicht vorbei für die Beiden. Sein Bruder war an Typhus erkrankt und musste mit einem Krankenwagen abgeholt werden. Shmuel machte sich auf die Suche und fand seinen Bruder schließlich in Neunburg vorm Wald, wo in der Schule ein Krankenhaus für Typhus eingerichtet wurde. Shmuel legte sich zu seinem Bruder ins Bett, wo er von einer entsetzten Krankenschwester entdeckt und vertrieben wurde. Allerdings wurde ihm erlaubt im Gebäude in einem anderen Stockwerk zu bleiben.
In Neunburg knüpfte Shmuel Kontakt zu Amerikanern, die sich seine Geschichte anhörten und entsetzt waren. Shmuel erklärte den in Neunburg stationierte Amerikanern, wie sie SS Leute anhand ihrer Tätowierungen identifizieren konnten. Die Amerikaner riegelten darauf die Kirche während des Gottesdienst ab und kontrollierten jeden Kirchgänger. Ein Oberst der US Army schrieb ihm einen Brief, in dem stand, dass jeder Amerikaner dazu angehalten ist ihm zu helfen. Als seine amerikanischen Freunde nach Japan verlegt wurden, wollte Shmuel mitkommen, doch ihm wurde gesagt es sei zu gefährlich.
Aufenthalt in Indersdorf
Greta Fischer, eine Mitarbeiterin der UNRRA entdeckte ihn später auf der Straße und brachte ihn in das von ihr geleitete DP Kinderzentrum Kloster Indersdorf, wo er einige Wochen blieb. Im Oktober 1945 wurden Shmuel und Meir auf eine Ausreiseliste nach England gesetzt. Doch Meir fand bei einem Ausflug nach München heraus, dass eine Schwester von ihnen den Holocaust ebenfalls überlebt hatte und im DP Feldafing war. Da sie nicht auf die Ausreiseliste gesetzt werden konnte, beschlossen Shmuel und Meir ebenfalls zu verzichteten. In der folgenden Zeit entwickelten sie sich zu Zionisten.
Während Meir nach Palästina gelangte ging Shmuel nach Erding, wo er zwei jüdische Soldaten der US Army traf, denen er seinen Brief präsentierte. Er wurde sofort umsorgt, bekam Army Kleider und Essensmarken. Ganz besonders herzlich kümmerte sich die Army Sekretärin Patty um sein Wohlergehen und tatsächlich gelang es Shmuel Patty Jahrzehnte später ausfindig zu machen und in den USA zu besuchen.
Die Amerikaner in Erding boten Shmuel an in die USA zu gehen, doch Shmuel träumte vom Yishuv in Palästina. Als die Amerikaner ihn fragten, was es dort geben würde antwortete er: „Orangen”. Die Amerikaner gaben ihm 500 Dollar und Shmuel gelangte auf eines der illegalen Schiffe der Aliya Beth, das vor der Küste Palästinas abgefangen wurde. Nach zwei Monaten in einem Internierungslager in Zypern reiste er ins gelobte Land ein.
Greta Fischer wurde im weiteren Verlauf ihres Lebens Wegbereiterin der Sozialarbeit in israelischen Krankenhäusern und leitete viele Jahre die von ihr aufgebaute Abteilung für Sozialarbeit im Hadassah Krankenhaus in Jerusalem. Am 19. Januar 2010 haben Anna Andlauer und der Heimatverein Indersdorf Greta Fischers 100. Geburtstag mit einer „Greta in Indersdorf Ausstellung“ und einer Tageskonferenz im Hadassah Krankenhaus gefeiert. Shmuel und Meier, die auf den Tage zuvor in der Yedioth veroeffentlichten Bildern erkannt wurden, tuachten mit ihren Familien „plötzlich strahlend im Eingang des Konferenzraumes“ auf, wie sich Anna Andlauer erinnert.
Geburtstag allein – aus Schutz vor Corona
Bei einer Rede im Hauptquartier der UN in New York dankte Shmuel am 26. Januar 2016 den USA und der US Army für seine Befreiung und dafür, dass sie ihn in Neuburg mit Kleidung und Nahrung versorgt haben. Des Weiteren dankte er Greta Fischer und den Helferinnen im Kloster Indersdorf, die ihm “Essen auf einem Teller mit Messer und Gabel, ein Bett mit weißen Bezügen und Kissen und eine Zahnbürste gegeben haben”.
Shmuel, so versichert sein Enkel Assaf, sieht er jünger aus und fühlt sich jünger als je zuvor. „Jedes Jahr feiern wir mit Shmuel, aber dieses Jahr wird es etwas anders sein.“ sagt er und verweist darauf, dass sich die Familie seit inzwischen 70 Jahren jeden Shabat Abend bei Shmuel und Aviva trifft und bei diesen Treffen inzwischen 4 Generationen zusammenkommen.
Zum ersten Mal seit Shmuels Einwanderung ist seine Familie gezwungen, ihn und seine Frau aus Sicherheitsgründen nicht mehr zu besuchen.
„Dieser Freitag wird jedoch anders sein. Während wir uns physisch immer noch nicht näher kommen, werden wir die ganze Familie vor Shmuels Haus versammeln und mit ihm feiern, während er auf dem Balkon bleibt. Wir haben einen Verstärker und jede Menge guten Willen, in der Hoffnung, Shmuel in dieser beispiellosen Zeit glücklich zu machen.“ Weiter sagt Assaf:
„Shmuel hat nie etwas um seinen Geburtstag gebeten, und da er ein sehr bescheidener Mann ist, war und ist es immer eine Herausforderung ihm ein Geschenk zum Geburtstag zu kaufen. In diesem Jahr ist uns jedoch klar, was Shmuel braucht. Wir haben ihm ein iPad gekauft, damit wir nicht nur telefonieren, sondern ihn auch virtuell von Angesicht zu Angesicht sehen können.“
Der polnische Ort wurde wohl eher 1939
von der Wehrmacht erobert.
Viele Grüsse
Ein typischer Besserwisser