Bei dem Ballett „Alice“ von Mauro Bigonzetti, das er 2014 für die Stuttgarter Gauthier Compagnie choreographierte und das nun am 10.2. vom Dortmunder Ballett herausgebracht wurde, ist vieles anders als erwartbar wäre. Auch wenn die Kostüme von Helena de Medeiros eine couturige Opulenz besitzen, märchenhaft sind sie nicht. Die computeranimierten Projektionen von Carlo Cerri und OOOPStudio schaffen keine Fantasieräume und von den gut bekannten Personen der beiden Alice-Romane von Lewis Carroll sind lediglich Alice (doppelt besetzt), die Herzkönigin und der Hutmacher direkt identifizierbar. Bigonzetti erzählt die vielen absurden Geschichten des Stoffes nicht nach, es gibt kein Crocket-Spiel mit Flamingos und Igeln und auch keinen großen Prozess. Bigonzetti nutzt den „Alice“-Stoff nur als Folie, auf der er seine choreographische Phantasie spielen lässt. Auch die Livemusik von ASSURD, Antongiulio Galeandro und Enzo Pagliara, die Songs im Stil süditalienischer Volksmusik für das Stück geschrieben haben, sitzt atmosphärisch so quer zu dem urbritischen Stoff, dass der Carroll’sche Kosmos kaum erlebbar ist. Das heißt nicht, dass diese Musik nicht eindrucksvoll wäre in ihrer Rauheit und vordergründigen Einfachheit, unter der sich stets eine hohe Kunstfertigkeit in Rhythmus und Klanggestaltung verbirgt. Warum allerdings die Texte der Songs nicht übertitelt werden, ist rätselhaft. Immerhin interagieren die Musikerinnen und Musiker direkt mit dem Bühnengeschehen, was nahe legt, dass die Texte durchaus zum Verständnis der Szenen beitragen oder eine zusätzliche Bedeutungsebene liefern. Die wird dem nicht des Italienischen Mächtigen leider verschlossen bleiben.
Unklar ist an diesem Abend auch, warum die Figuren ständig ihre Kostüme wechseln. Warum nur hat die Königin mal einen langen Rock und dann wieder nur einen kurzes Gestrüpp, das aussieht wie Pfeifenputzer, an, und warum ist ihr Kleid dann plötzlich weiß? Warum legen die beiden Alices ihre Mädchenkleider ab und tauschen sie gegen zunächst kurze graue und dann lange Kleider? Und auch bei den anderen Personen auf der Bühne sind diese Kostümwechsel mehr als unverstehbar. Ja, sie machen es fast unmöglich, herauszufinden, wer da eigentlich wer sein soll, aber vielleicht ist das auch egal. Die Projektionen, die auf der Rückwand und den beiden Seiten oberhalb der Gassen das Bühnenbild dominieren, erzählen ja auch irgendetwas, das sich kaum erschließt. Dazu kommt, dass die barocken und Renaissance-Architekturen höchst altbacken animiert sind. Es gibt einen kurzen Augenblick im letzten Drittel des Abends, in dem auf den Wänden nichts zu sehen ist. Es ist ein wunderbarer Moment, weil endlich der Tanz mal im Mittelpunkt steht. Leider ist er viel zu kurz und es ist nichtmal ganz klar, ob es sich nicht vielleicht sogar nur um ein vorübergehendes technisches Problem handelt. In der ersten Hälfte rätselte der Rezensent lange, warum jetzt plötzlich eine Zaha-Hadid-Fassade zu sehen ist, bis ihm klar wurde, dass es sich tatsächlich um die Darstellung eines gotischen Gewölbes von unten handelte. Immer wieder lenken die heranzoomenden, herabwellenden und herumfliegenden Bilder unangenehm vom Bühnengeschehen ab und fügen dabei nichts an Atmosphäre dem Stück hinzu.
Bei der Premiere musste für die verletzte Jana Nenadović in der Rolle der großen Alice Anna Süheyla Harms einspringen. Sie kommt von der Gauthier Compagnie und tanzte die Rolle in der Original-Besetzung. Für den Abend ist das Segen und Fluch zugleich. Denn Bigonzettis Bewegungssprache ist im zeitgenössischen Ballett, mehr noch im modernen Tanz verankert. Der Dortmunder Compagnie ist diese Bewegungssprache zutiefst fremd und das sieht man leider deutlich. Umso deutlicher als Harms zeigt, wie es eigentlich gedacht ist. Wo die Dortmunder mit der Spannung des klassischen Balletts tanzen, wäre oftmals eine Weichheit und Flexibilität der Bewegungen angebracht. Harms hat diese Freiheit des modernen Tanzes, die nichts mit mangelnder Präzision zu tun hat, sondern schlicht eine andere Technik ist. Am ehesten verstehen das noch Michael Samuel Blaško, Giacomo Altovino und Ida Kallanvaara aus dem Dortmunder Ballett. Katastrophal vorbei an Bigonzettis Choreographie tanzt Sae Tamura als Königin. „Befreit diese arme Frau und gebt ihr endlich Spitzenschuhe“ möchte man ihr zurufen.
Noch einmal in aller Deutlichkeit: Die Dortmunder sind eine hervorragend trainierte Compagnie, aber eben im klassischen, neoklassischen und zeitgenössischen Ballett. Für modernen Tanz sind sie einfach nicht ausgebildet. Warum nur hat Dortmund Bigonzettis Choreographie eingekauft, wenn doch klar ist, dass sich die Tänzerinnen und Tänzer in diesem Stil nicht wohl fühlen können? Vor allem nicht in einem abendfüllenden Stück. So ist es auch müßig, sich zu Bigonzettis Choreographie im einzelnen zu äußern.
Termine und Tickets: Theater Dortmund