Am 29.12. hatte der Kirschgarten von Anton Čechov in der Inszenierung von Sascha Hawemann im Schauspiel Dortmund Premiere. Nicht auf der großen Bühne, wie es bei Stück und Besetzung zu erwarten wäre, sondern im Studio. Ein großes Gesellschaftspanorama mit 11 Darstellern und Musiker auf der kleinen Bühne? Das ist ein Statement und machte schon vorab neugierig. Wolf Gutjahr baute dafür eine Spielfläche in den Raum, die nach drei Seiten hin offen ist und um die die Zuschauer herum-, fast schon mitten drin im Geschehen sitzen. Dennoch markiert der Beginn ganz deutlich, dass es sich um Theater handelt, wenn zunächst der alte Diener Fiers (Uwe Schmieder) im Frack und mit weißen Handschuhen rote Vorhänge an allen Seiten aufzieht und dabei fast an den Conférencier in einem Revuetheater erinnert.
Čechov bezeichnete sein letztes Stück Der Kirschgarten wie einige andere als „Komödie“. Das Gut in der russischen Provinz steht kurz vor dem Verkauf, weil die Besitzerin Ljubow Ranjewskaja in Paris mit ihrem Liebhaber das Geld durchgebracht hat. Ihre Adoptivtochter Wanja versucht zuhause den Betrieb aufrecht zu halten, doch nun kehrt Ranjewskaja zurück. Der Sohn ehemaliger Leibeigener der Familie – Lopachin – ist mittlerweile zu Geld gekommen, und schlägt der Familie vor, den Kirschgarten, der kein Geld mehr einbringt, abzuholzen und Parzellen für Ferienhäuser zu verpachten, um das Gut zu retten. Ein Vorschlag, der von allen anderen aus nostalgischer Liebe zum Kirschgarten und Standesdünkel gegenüber dem Emporkömmling weit zurück gewiesen wird. Schließlich kommt es zur Versteigerung des gesamten Anwesens und Lopachin erhält den Zuschlag. Die Familie muss das Gut verlassen und wird in die ganze Welt zerstreut.
In den vergangenen Jahren erlebte Der Kirschgarten auf den Bühnen eine Renaissance. Die Immobilienkrise und die damit einhergehende Pleite vieler kleinerer Städte gab ihm eine scheinbare Aktualität. Die allerdings funktioniert nur dann, wenn Lopachin als skrupelloser Spekulant und neoliberaler Kapitalist ohne Wertschätzung für Tradition daher kommt. Tatsächlich jedoch ist er der einzige, der die Realitäten anerkennt und nach einer Lösung für die bankrotte Gesellschaft sucht. Den Untergang der Tradition haben alle anderen zu verantworten, denen es nicht gelingt, ihre eigene Situation einzuschätzen und mit den Entwicklungen um sich herum in Einklang zu bringen. Diese überholte Gesellschaft ist im Kirschgarten das eigentliche (bittere) Komödienelement, während Lopachin als positiver Held fungiert.
Am schwierigen Komödienbegriff Čechovs muss sich jede Inszenierung abarbeiten. Die allzu große Vorliebe für russische Samowar-Romantik ist da das größte Hindernis. Das Klischee von der schönen Melancholie des Landadels führt schnell in die falsche Richtung. Sascha Hawemann setzt in seiner Inszenierung alles daran, nicht dort zu landen. Von Anfang an geht es bei ihm rasant zur Sache. Alles ist auf Komödie gebürstet. Da darf auch mal gekalauert und der eine oder andere Slapstick hingelegt werden. Wenn seine Kirschgarten-Gesellschaft irgendwann mal melancholisch beim Tee um den Samowar gesessen haben mag, dann ist das lange vorbei und durch massenhafte Zugabe von Wodka und Champagner längst in Hysterie umgeschlagen. Es wird geschrien und herumgerannt, kiloweise Konfetti geworfen, die letzten eingemachten Kirschen aus dem Keller werden aus den Gläsern gelöffelt und zermatscht und eine Technoparty im Salon gefeiert. Wolf Gutjahrs Bühne liefert dazu einen illusionslosen Rahmen. Nur ein roter Samtschlauch mit goldenen Fransen und Troddeln markiert in der Mitte der Spielfläche adlige Grandezza. An der Rückwand hängt ein betont lieblos drapierter Lamé-Vorhang über einem Pressspan-Schrank und überall stehen zusammengewürfelte Stühle herum. Auch die Kostüme von Hildegard Altmeyer sehen aus, wie bei Kik gekauft und nur mit einzelnen Teilen aus dem Fundus vage auf historisch getrimmt. Am ehesten auf das Russland des 19. Jahrhunderts verweist noch die zumeist live an Klavier und Akkordeon gespielte Musik von Alexander Xell Dafov.
Auch Sascha Hawemanns Inszenierung zeigt durchgehend ihre Gemachtheit. Es reiht sich Regieeinfall an Regieeinfall. Mag sein, dass sich der Abend in den weiteren Aufführungen noch etwas rund läuft, bei der Premiere war es mehr ein überdrehtes Sammelsurium der (mal mehr mal weniger) treffenden Inszenierungsideen. Auch schon bei Tracy Letts „Eine Familie“ stemmte sich Hawemann gewaltig gegen den gut geölten Mechanismus des Well-made-Play, wie er jetzt wieder wenig Interesse an Čechovs Realismus hat. Da bleibt allerdings dem energiegeladen aufspielenden Ensemble wenig Gelegenheit, den Personen wirklich Fleisch zu geben. Allzu beschäftigt ist man, sich in dem Tohuwabohu mit seinem Text durchzusetzen und das nächste manchmal auch artistische Highlight oder schauspielerisches Kabinettstück zu bringen. Am ehesten sind es die Frauen, die hier noch Charakterzeichnungen hinbekommen. Friederike Tiefenbacher als Ranjewskaja nimmt man ab, dass sie mit ihrer hysterischen Art nur versucht, die Trauer um ihren ertrunken Sohn zu überspielen, Bettina Lieders Warja ist vom einsamen Landleben spröde geworden und Merle Wasmuth lässt bei der 17jährigen Anja den Zwiespalt zwischen kindlicher Naivität und Lebenshunger aufblitzen. Insgesamt gehen die rund Zweidreiviertel Stunden der Aufführung flott über die Bühne, das gesamte Ensemble spielt sportlich auf und der überdrehte Spaß hat in diesem Čechov eindeutig Vorrang. Schwierig ist die etwas zähe Abschiedsszene am Ende, wenn alle schon im Pelzmantel an der Rückwand stehen und noch einmal in Erinnerung schwelgen. Zu groß ist die Distanz zu den Figuren, als dass hier wirklich noch einmal ein stiller Augenblick gelingen würde.
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