Ohje, wo ist er da nur hingeraten, der Staatsschauspieler Bruscon, der Großdramatiker, der Theatermacher von Thomas Bernhard. Ja, tief hinein in die österreichische Provinz, ins 285-Seelen-Dorf Utzbach in eine heruntergekommene Dorfgaststätte mit modrigem Festsaal. Oder vielleicht doch eher nach Dortmund Hörde in einen ehemaligen Fanartikelstore des BVB? Daniel Roskamp hat auf die Bühne einen Raum aus Sichtbeton gebaut, Doppel-T-Träger unter der Wellblechdecke, riesige Rolltore an den Wänden, Bauplanen, Staub, etwas Schutt und eine Schubkarre. Das könnte der Megastore sein, bevor sich dort „Das schweigende Mädchen“ und die „Borderline“ breitgemacht haben. Alles noch sehr leer, nur der Brandschutz war schon da und hat überall seine Vorschriftstafeln, Feuermelder, Notausgangsbeleuchtungen und Feuerlöscher hinterlassen. Unter der Decke eine monströs flächendeckende Sprinkleranlage.
Hier soll jetzt also Theater gespielt werden? Das große Welttheater „Das Rad der Geschichte“, mit dem Bruscon samt leicht debiler Familie durch die Provinz tourt? Eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Aber Bruscon hat längst eine Art entwickelt, mit seinem Schicksal als Theatermensch umzugehen: Er hadert nicht mehr so sehr mit der Untragbarkeit des lächerlichen Ortes Utzbach, sondern hat gleich das Theater in Gänze zur zutiefst hassenswerten Unmöglichkeit erklärt. Nur sein eigenes Genie natürlich nicht. Dem ist aber kein Ort und kein Darsteller und schon gar kein Publikum gewachsen. Thomas Bernhards Stück ist ein ganz und gar abstruses Paradoxon. Ein endloser Hassmonolog auf das Theater (mit zur Staffage degradierten Nebenpersonen) von einem, der nur für und von dem Theater lebt. Eine große Liebeserklärung an das Theater und diese verzweifelten Theatermenschen und ihre ganze Lächerlichkeit. Und wer den Theatermacher inszeniert und spielt, der muss sich auch immer mit sich selbst auseinandersetzen, mit seiner eigenen Überheblichkeit und Lächerlichkeit. Das geht nur mit einer gehörigen Portion Selbstironie.
Doch zunächst geht es um ganz handfeste Probleme: Am Ende von Bruscons Stück muss für fünf Minuten völlige Dunkelheit herrschen. Auch die Notbeleuchtung muss ausgeschaltet sein. Das geht nur mit Genehmigung des örtlichen Feuerhauptmanns, die der Wirt einholen soll. Brandschutz ist das Thema, das auch das Dortmunder Schauspiel in den vergangenen Jahren umtrieb, das zum Umzug in den Megastore zwang, auch dort immer wieder Thema war. Einmal an diesem Abend imitiert Andreas Beck seinen Kollegen Carlos Lobo, der in einem herrlich komischen Video im Adventskalender des Schauspiel den Feuerwehrmann als schwäbelndes Rumpelstilzchen gab, das das Mantra vom Brandschutz und Arbeitsschutz vorsichhinkrakeelte.
In den ersten eineinviertel Stunden dieses langen und pausenlosen Abends geht es also eigentlich erst einmal um Dortmund und das Kreuz mit einem entfesselten Brandschutz. Das ist durchaus nah an Thomas Bernhard und wird auch so gespielt. Andreas Beck gibt gewichtig den Großschauspieler Bruscon, der sich durch seinen ganzen Theaterhass wühlt und lächerlich genialisch in seinem Scheitern ist. Dass Beck in dieser Rolle großartig sein würde, war erwartbar. Wirklich erstaunlich ist allerdings, was Uwe Rohbeck als Wirt tut. Mit einer braunen Lockenperücke steht er ständig Beck zur Seite. Sein Text beschränkt sich auf wenige Sätze, aber mimisch begleitet er jede Tirade von Bruscon und wird dabei zur komischen Hauptattraktion. Großartig, wie er – nahezu unbeachtet von Bruscon – die tadellose Funktion seiner Rolltore vorführt, wunderbar wie er irgendwann beginnt den Staatsschauspieler in seinen Posen nachzuahmen. Da kündigt sich bereits an, was später noch alles verändern wird.
Irgendwann bricht dann plötzlich das Spiel ab und beginnt sofort aufs neue. Oben im Bühnenbild leuchtet nun die Zahl 2 auf – in einer Reihe, die bis 9 geht. Zweiter Durchlauf. Diesmal im Schnellwaschgang. Beck hetzt durch seinen Text. Die abstrusen Personenkonstellationen von „Das Rad der Geschichte“, wo Churchill, Hitler, Einstein, Napoleon und Caesar aufeinandertreffen, geraten auch mal ein bisschen durcheinander. Das Hitlerbild an der Wand ist nun eines von Stalin. Bruscons Sohn hat statt einem zwei gebrochene Arme. Was eben noch über eine Stunde dauerte, wird nun in knapp zwanzig Minuten abgehandelt. Abbruch, Neustart. Jetzt ist plötzlich Uwe Rohbeck Bruscon und Andreas Beck der Wirt. Rohbeck gibt den Theatermacher als tänzelnde Tunte. Zum Schreien komisch. Die Komödie dreht komplett durch. Vor allem weil Andreas Beck in der sprachlosen Rolle des Wirts, jetzt mit schäbigem braunen Afro (Kostüme: Mona Ulrich) auf dem Kopf, irgendwie auch immer noch Bruscon ist, der aber plötzlich keinen Text mehr hat und wie ein beleidigtes Kind am Rand steht oder in der Ecke sitzt. Ein Großschauspieler auf dem Abstellgleis. Jetzt steht auch das Rad der Geschichte auf der Bühne und ist eigentlich das Räuberrad der Berliner Volksbühne, das allerdings mit seinen acht Beinen auch ein bisschen an ein Hakenkreuz erinnert.
Und Kay Voges dreht immer weiter an der Hysterieschraube der Inszenierung. Alles gerät aus der Bahn und jeder Aspekt von Bernhards Hasstirade wird einmal in den Mittelpunkt gestellt. Christian Freund hat seinen großen Auftritt. Der Theatermacher – das Musical. Mit blonder Schlagersängerperücke gibt er den Musical-Star in einer genialen Musikversion von T.D. Finck von Finckenstein, die in ein paar Minuten alle Klischees der Musicalkomposition über den Zuschauern auskippt. Janine Kresse und Xenia Snagowski, die als Frau und Tochter Bruscon bisher eher im Hintergrund standen, geben jetzt die Backgroundgirls und Beck fährt als mittlerweile komplett eingegipster Sohn im Elektrorollstuhl herum. Nächste Version als Bruscons Alptraum. Während Beck im weißen Kittel auf dem Seziertisch liegt, übernehmen die Frauen die Herrschaft. Für den Theaterchauvi Bruscon eine undenkbare Horrovision und Alice Schwarzer hängt jetzt statt Hitler an der Wand. Der Eisbär auf der Bühne leuchtet diabolisch rot mit den Augen. Und noch einmal. Diesmal klettert Xenia Snagowski mit Klebebandkreuzen auf den Nippeln durch die Zuschauerreihen und schreit den Text zu Technobeats ins Mikro. Das Theater ist längst nur noch eine Disco in der Femen oder Pussyriot einen feministischen Agitpropauftritt hinlegen. Die letzten beiden Durchläufe finden als irres Naziballett und Hasskommentar-Gewitter im Internet statt, bis jemand fordert, wir sollten doch einfach mal nett zueinander sein. Der ultimative Systemfehler, wie sogleich eine Stimme aus dem Off verkündet, die uns auch sofort anweist, den Saal ruhig über die Ausgänge zu verlassen, während sich gnädig der eisernen Vorhang senkt, auf dem wir gerade noch „Das Ende des Theaters“ lesen dürfen.
Und was soll das nun alles? Die Wiederholung, der Loop, das ist schon länger das Thema von Kay Voges. Es ist das Thema des Theaters. Der merkwürdige Dualismus des Theaters, das jeden Abend versucht eine Inszenierung möglichst identisch auf die Bühne zu bringen, und doch gerade seinen Reiz darin hat, dass jede Aufführung eben wieder eine Variation ist. Auch Bernhards Personage ist gefangen in der Wiederholung, ob sie nun in Utzbach oder einem anderen Provinznest „Das Rad der Geschichte“ spielen, es geht nicht voran, es dreht sich nichts weiter. Und doch ist das alles immer grundiert mit dem Glauben an das Theater. Daran, dass es irgendeinen Sinn machen muss, jeden Abend auf die Bühne zu gehen und Caesar oder Napoleon zu spielen, obwohl kein Schauspieler nach Bruscons Überzeugung auch nur eine vage Ahnung davon haben kann, wie das geht. Man kann Voges an diesem Abend vorwerfen, er hätte sich in seiner Inszenierung einfach nicht entscheiden können. Man kann sagen, er habe keine echte Haltung zu Bernhards Stück entwickelt, sondern einfach alle möglichen Haltungen durchexerziert. Voges ist damit ganz nah an Bruscon und dessen größenwahnsinnigem Welttheater. Ein bisschen Burgtheater, ein bisschen Musical, Hitler und Internet, Feminismus und AfD. Na und? Wenn es fast drei Stunden lang so irre komisch ist, wenn es die Zuschauer so ratlos und gleichzeitig voller spannender Fragen und Anknüpfungspunkte zurück lässt, wenn es solch ein unglaubliches Schauspielfest ist, ist es dann nicht richtig? Wenn das Theater versucht, die Welt zu erklären und Antworten zu geben, wird es überheblich. Das zu können, glaubt Bruscon und deshalb ist er so eine lächerliche Figur. Wenn Voges aber uns in seine Assoziationsstrudel hinabzieht, dann ist das Theater ganz bei sich selbst. Dann ist es gleichzeitig erschöpfend und nervig, zutiefst beglückend und ehrlich, wahnsinnig und verwirrend wie die Wirklichkeit – nur eben in schön.
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