Premiere in Dortmund: Einstein On The Beach von Philip Glass

Das Chorwerk Ruhr als zottelige Aliens (Foto: Thomas Jauk – Stage Pictures)

Hätten Philip Glass und Robert Wilson Kay Voges gekannt, sie wäre garantiert nicht so unvorsichtig gewesen, eine Szene im vierten Akt der Oper „Einstein On The Beach“ „Spaceship“ zu nennen. Dass dem Regisseur und Intendanten des Dortmunder Schauspiels und seiner Kostümbildnerin Mona Ulrich bei diesem Titel die Fantasie durchgeht, war eigentlich klar. Da winkt gerade noch die Sängerin mit der Gehirnfrisur huldvoll dem abhebenden Raumschiff hinterher, während die Mitglieder des Chorwerk Ruhr als zottelige Außerirdische durch die Zuschauerreihen turnen und auf der Bühne zwei plüschige Moleküle sich übereinander schmeißen, während die Übertitel verrückt spielen und alle sinnvollen und sinnfreien Texte, die in den drei Stunden davor zu lesen waren, durcheinanderwerfen. Es ist die apotheotische (Fast)Schlussszene eines Abends mit ganz großem Kino – äh – Musiktheater.

Die 1976 uraufgeführte Oper von Glass / Wilson kann getrost als eigentlich unspielbar bezeichnet werden. Nicht so sehr wegen der sicherlich hohen technischen Anforderungen an das Musikerensemble, sondern vor allem wegen dem nahezu vollständigen Fehlen einer Handlung. Die neun Szenen der vier Akte tragen zwar Titel wie „Train“, „Trial“, „Building“ oder „Prison“, was auf Handlung oder zumindest Situationen hindeuten könnte, doch tatsächlich besteht der gesungene Text fast ausschließlich aus den italienischen Tonbezeichnungen, Rollen im herkömmlichen Sinne gibt es nicht und die von Schauspielern gesprochenen Texte sind gleichfalls aus Wiederholung und Variation gebaute in sich kreiselnde Sprachspiele ohne tatsächlichen Inhalt. So ist „Einstein On The Beach“ ein dreieinhalb bis fünfstündiges Musikstück, das der szenischen Ausgestaltung alle Freiheiten lässt, aber auch keinen Halt gibt. Der einzige Bezug zum Titel besteht darin, dass die Minimal Music von Philip Glass das Wesen der Zeit zu verändern scheint, immer gleichzeitig rasende Geschwindigkeit und vollständiger Stillstand ist und damit den Hörer / Zuschauer in einen Zustand versetzt, der ihn gewissermaßen in den Kern der Zeit selbst vordringen lässt.

Das Thema der Wiederholung treibt den Intendanten des Dortmunder Schauspiels schon länger um, spätestens seit seiner bahnbrechenden Inszenierung „Das goldene Zeitalter“. Dass er irgendwann auf die Minimal Music von Reich, Glass und Feldman verfallen würde, war da fast zwangsläufig. Und das goldene Zeitalter findet sich auch in seiner Inszenierung von „Einstein On The Beach“ als Zitat an manchen Stellen wieder. Allein schon die pausenlosen dreieinhalb Stunden Spieldauer, verbunden mit der Aufforderung, während der Aufführung frei den Saal zu verlassen, um etwas zu trinken oder auf die Toilette zu gehen, kennt der regelmäßige Schauspielbesucher bereits aus dieser Inszenierung. Tatsächlich verlassen am Premierenabend am 23.4.  knapp ein Drittel der Zuschauer innerhalb der ersten halben Stunde den Saal auf Nimmerwiedersehen. Es sind wohl überwiegend die falschen Opernfreunde, die bis heute Musiktheater nicht akzeptieren können und beim Anblick von Videoprojektionen bereits die Würde des Opernhauses beschmutzt sehen. Sei’s drum.

Dance I (Foto: Thomas Jauk – Stage Pictures)

Über weite Strecken des Abends inszeniert Voges „Einstein On The Beach“ fast wie ein szenisches Konzert. Mit großem technischen Aufwand zeigt er vorgefertigte wie live gefilmte Videos, die zudem live am Computer bearbeitet werden. So erinnert der Anfang mit einer langen ruhigen Fahrt auf einer Straße etwas an „Koyaanisqatsi“, jenen enorm erfolgreichen Experimentalfilm für den Philip Glass die Musik schrieb. Die Live-Verfremdung der Videos, die direkt auf die Musik reagiert, schaut manchmal aus wie die Musikvisualisierung in iTunes, hat aber durchaus ihren Reiz. Zusätzlich lassen fahrbare Wandelemente aus Glasfaserschnüren die Projektionen in den Raum hineinwachsen. Das alles ist optisch überaus ansprechend und lässt die erste Hälfte des Abends zu einem veritablen Drogentrip werden. Folgerichtig wird ganz zu Beginn den Zuschauern ein guter Flug gewünscht. Dennoch dauert es durchaus eine gute Stunde, bis sich der intendierte meditativ-rauschhafte Charakter einstellt. Und ganz nebenbei findet Voges unglaublich schöne, große Opernbilder, wie das in „Dance I“.

Chorwerk Ruhr mit Hirn und Affe (Foto: Thomas Jauk – Stage Pictures)

Die szenische Beschränkung der ersten Hälfte ist jedoch nicht Ideenlosigkeit, sondern will gezielt den Besucher seinen eigenen Trancezustand finden lassen, um ihn dann in der zweiten Hälfte mit einigen überdreht-irren Bildern auf den richtig heftigen Trip zu schicken. Da ist das tänzelnde Riesenhirn (Raafat Daboul), der Riesenaffe im Anzug (Andreas Beck), der Farbassoziationen von Schizophrenen und Samuel Beckett spricht, da ist die Entgrenzung des Zuschauerraumes in einem blauen Leuchten, wenn die Leuchtdiodenbewährten Mitglieder des Chorwerk Ruhr erstmals ins Parkett treten, und dann natürlich die eingangs beschriebene Szene.

Die Sensation dieses Abends ist allerdings ganz gewiss eine rein musikalische. Das Chorwerk Ruhr zeigt sich mal wieder als ein Klangkörper der absoluten Luxusklasse. Mit welcher Präzision und überragenden Klangschönheit sie die kräftezehrende Konzentrationsleistung dieses Abends bewerkstelligen verdient höchsten Respekt. Gleiches gilt für den Leiter des Ensembles Florian Helgath, der hier das Dirigat übernimmt und auch die Mitglieder der Dortmunder Philharmoniker sicher durch die endlosen Wiederholungen und minimalen Variationen der Partitur navigiert.

Der Abend zeigt auch, welche enorme kulturelle Leistungsfähigkeit das Ruhrgebiet hat, wenn es seine besten Kräfte bündelt. Chorwerk Ruhr, Dortmunder Oper, Dortmunder Philharmoniker und das Dortmunder Schauspiel sind allesamt Topensemble der Region. Gemeinsam schaffen sie hier eine Produktion, die locker auf internationalem Festivalniveau bestehen kann. Das ist die Messlatte, die die kommende Saison der Ruhrtriennale erst einmal erreichen muss. Und damit ist man auch beim wohl einzigen Wehmutstropfen des Abends: Das Dortmunder Opernhaus ist eigentlich viel zu klein für diese Aufführung, in der Bochumer Jahrhunderthalle würde sie noch einmal eine ganz andere Wucht gewinnen – dort gehört sie eigentlich hin.

Termine und Tickets: www.theaterdo.de

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