Im neongrünen Kleid steht Julia Schubert an der Rampe und fragt, ob hier das anatomische Institut sei. Ihre Leiche will sie verkaufen, weil sie Geld braucht. „Glaube Liebe Hoffnung“ heißt das Stück von Ödön von Horvath, doch dessen Premiere steht am 18.9. im Dortmunder Megastore gar nicht auf dem Programm. Es ist das erste Wochenende des Oktoberfestes und im Bühnenhintergrund steht ein aufblasbares Festzelt. Und Julia Schuberts Rolle heißt nicht Elisabeth, sondern Karoline. Beide Stücke entstanden 1932 und in beiden geht es um junge Frauen, die durch die prekären Verhältnisse ihre Lebensgrundlage schwinden sehen und nicht wissen, wohin mit ihrem Lebenswillen und- Hunger. Denn auch wenn der Titel „Kasimir und Karoline“ heißt, so ist doch die Karoline die heimliche Hauptrolle des Stückes. Und sie ist bei Julia Schubert (das konnte man sich schon vor diesem Abend denken) in besten Händen. Bei dieser Aussage würde sich den meisten Österreichern zwar der Magen umdrehen, da Schubert eine wohlgepflegte ostdeutsche Sprachfärbung mitbringt, aber das soll uns in Dortmund nicht stören. Sie ist eine Meisterin der einfachen Mädchen, über deren Naivität man herzlich lachen kann, deren zitternde, oft den Tränen nahe Stimme einen aber auch gleichzeitig anrührt. Oft unterspielt sie dabei geschickt ein kleines Bisschen. Julia Schubert ist wie gemacht für diese Horvath-Mädchen. Eine Traumbesetzung.
Kasimir ist gerade entlassen worden, aber Karoline will sich auf dem Oktoberfest amüsieren. Dort lernt sie den schmierigen Schürzinger (Frank Genser) kennen, der mit ihr Eis ißt und sie zur Achterbahn einlädt. Der Geck im Rüschenhemd ist ihr gerade nützlich, weil er ihr bietet, was sie will. Wirklich mit ihm einlassen will sie sich eigentlich nicht. Doch Kasimir (Ekkehard Freye trotz Fußverletzung mit erstaunlichem Körpereinsatz) kommt mit der Situation nicht klar und im Wortgefecht sagt Karoline den folgenschweren Satz „Vielleicht sind wir einfach zu schwer füreinander“. Es ist ganz und gar ein echter Horvath-Satz. Da sind diese ganz schlichten Gemüter, die sich eigentlich gar nichts Böses wollen, und dann rutscht ihnen plötzlich eine Grausamkeit heraus, weil sie ihre Sprache einfach nicht richtig im Griff haben. Genauso ist es mit diesen Sätzen, in denen sie etwas ganz Kluges sagen wollen, aber die Worte verdrehen sich zur kompletten Plattitüde. Und dann plappern sie zwei Sätze weiter und ihnen rutscht eine weltkluge Bemerkung heraus, die sie nicht einmal erahnen. Es ist wie eine Realityshow auf RTL2, nur dass Horvath seine Personen nie diffamiert, sondern ihnen ganz zuletzt doch große Liebe entgegen bringt. Und das macht es so höllisch schwierig seine Stücke zu inszenieren.
In Dortmund wagt der junge Regisseur Gordon Kämmerer einen gefährlichen Weg. Sein Oktoberfest ist ein knallbunter Comic. Josa Marx stattet das Personal mit Neonfarben und Latex aus, verpasst allen turmhohe Frisuren aus Kunsthaar und Haarspray und lässt sie auf Highheels (die Frauen) und Plateausohlen (einige der Männer) herumstaksen. Das Bühnenbild von Jana Wassong steuert das erwähnte Festzelt und aufgeblasene Riesenwürste bei. Für Jahrmarktsstimmung sorgen der DJ Max Thommes, die „Crazy Carts“ genannten Miniautos von Lucas Pleß und nicht zuletzt das Fanfaren-Corps 1974 Wickede.
Die Oktoberfeststimmung ist sexuell hoch aufgeladen. Da wird an den meterhohen Würsten geleckt, die nur ganz kurz für das Eis stehen, dann für etwas ganz anderes. Da zeigt Karoline desöfteren ihren hautfarben bestrumpfhosten Schritt und Christoph Jöde tätschelt als Merkl Franz gleich beim ersten Auftritt seiner Freundin Erna (Bettina Lieder) hocherregt die Scham, bis er sie auf den Boden knallen lässt. Später gesellt sich noch Carlos Lobo als im wahren Wortsinn aufgeblasener Horrorelvis dazu und gibt widerlich lüstern den Komerzienrat Rauch. Und Max Thommes schleimt als Landgerichtsdirektor Speer hinter ihm her.
Das alles ist, geben wir es zu, wirklich sehr lustig und mit vollem Körpereinsatz der Darstellenden auf die Bühne gebracht. Aber gibt es einen Ausweg aus dem schrillen Typenkabinett? Es gibt ihn. Und es ist nicht nur Julia Schuberts Leistung. Auch Bettina Lieder holt mit ihrem Monolog über die Wies’nmädchen die Zuschauer runter und knallt ihnen eine verzweifelte Wut vor die Füße, die ins Mark geht. Ekkehard Freyes Kasimir widersetzt sich großartig der Plattheit. Die Verzweiflung über seine Situation, das angenommene Versagen als Mann, der seiner Verlobten nicht bieten kann, was sie sich wünscht, der nur mühsam unterdrückte Jähzorn und die Enttäuschung das mangelnde Verständnis Karolines für ihn, ist immer fühlbar. Ganz zuvorderst ist da aber Julia Schubert, deren Karoline diesen Abend prägt. In ihrer überdrehten Spaßlust blitzt immer eine tiefe Verzweiflung darüber, dass es ist, wie es ist und sie es niemals alleine ändern wird. Deshalb wirft sie sich den Männern an den Hals, berechnend und selbstbewusst, aber doch auch immer hilflos.
Termine und Karten: www.theaterdo.de
[…] der Platz knapp werden und nicht alles kann man mit aufblasbaren Festzelten und Würsten wie „Kasimir und Karoline“ ausstatten. Noch nehmen die Zuschauer den nicht ganz umbeschwerlichen Weg ins Industriegebiet auf […]
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