Wenn ein Opernintendant geht, dann gönnt er sich noch mal was. Zumal, wenn er wie Jens Daniel Herzog, der die Dortmunder Oper in desolater Verfassung übernahm und zu einem Haus in erstklassigem Zustand machte, auf eine überaus erfolgreiche Zeit zurück blickt. Bei ausreichendem Vorlauf wird zum Ende einer Intendanz gerne mal der „Ring“ gestemmt oder wenigstens Berlioz‘ „Trojaner“, manchmal ist die letzte Inszenierung aber auch einfach eine Herzensangelegenheit des Intendanten. Herzog entschied sich nun für Verdis „Nabucco“, immerhin der erste große Erfolg des Italieners.
Warum Herzog dieses – vorsichtig formuliert – nicht unproblematische Frühwerk Verdis wählt, wird erst im vierten Akt klar. Das Libretto von „Nabucco“ ist eine wirre Ansammlung von Handlungselementen, die in der Masse viel zu viel für die nur 2 1/4 Stunden Spieldauer der Oper sind und der Regie eine ordentliche Personenausgestaltung fast unmöglich machen. Unmögliche Liebe über Volks- bzw. Religionsgrenzen hinweg, verschmähte Liebe, politischer und religiöser Wahn, Bekehrung, Gift-Selbsttötung, Götzenanbetung, nationale Erweckung, verheimlichte Verwandtschaftsverhältnisse und das alles auf biblischem Terrain. Man kann Librettist Temistocle Solera nicht vorwerfen, er habe nicht dick genug aufgetragen. Und dann sind die Israeliten, die da aus der babylonischen Gefangenschaft frei kommen, auch noch eigentlich die Italiener, die das österreichische Joch abschütteln. So erklärt sich auch der Uraufführungserfolg. Musikalisch bleibt Nabucco nämlich bis auf den Gefangenenchor eher blass. Zunächst sogar schlicht nervtötend.
Dankenswerterweise öffnet Herzog bereits zur Ouvertüre den Vorhang – was er gerne tut –, so dass etwas von der dummen Musik abgelenkt wird. Herzogs Bühnenbildner Mathis Neidhardt hat auf die Drehbühne eine geschickt arrangierte Raumfolge gebaut. Mal wieder befinden wir uns in einer etwas abgewrackten Militärdiktatur. Der Putz bröckelt, die Holzvertäfelung ist dunkelbraun, die Büros werden von Neonröhren beleuchtet und der Herrscher hängt in Öl an der Wand. Und gleich am Beginn sitzt Abigaille (Gabrielle Mouhlen) in einer Bar und raucht. Herzog dreht während der reizlos komponierten Einleitungsmusik einmal durch die Räumlichkeiten und arrangiert die Personenkonstellation.
Verdis erster Akt ist italienische Opernschreierei auf scheußlichstem Niveau. Im Dauer-Fortissimo darf jede und jeder auf die Jagd nach Spitzentönen gehen, immer im Kampf gegen Chor und Orchester. Das schwerste Schicksal trifft den Tenor. Thomas Paul schlägt sich als Ismael durchaus wacker, muss er auch, denn anders als die anderen Rollen ist es ihm nicht vergönnt, in den folgenden Akten auch noch einmal etwas musikalisch Sinnvolles von sich zu geben. Karl-Heinz-Lehner als Zaccaria sieht bei der Dauerhöchstleistungsschreierei immer ein bisschen aus wie der Adler aus der Muppetsshow und Gabrielle Mouhlen darf in völliger musikalischer Umnachtung sich ständig in Koloraturen auf Spitzentöne hochschrauben, um auch wirklich jedem klar zu machen, dass Abigaille eine gefährliche Frau ist. Selbst der Chor der Dortmunder Oper – insbesondere die Herren – kann in diesem Dauergetöse nicht anders, als halt nur noch laut zu sein.
Doch „Nabucco“ wird nach diesem wirklich fürchterlichen Radau im ersten Akt noch besser und irgendwann kommt ja auch der Gefangenenchor, der durchaus trotz Dauerdurchnudelung auf Best-Of-CDs und -Konzerten noch seinen Reiz entfaltet, selbst wenn die Dame hinter einem selig und schief mitsummt und der Herr neben einem ausgreifend dirigiert. Trotzdem sind die großen musikalischen Augenblicke in Verdis Frühwerk selten gesät. Sangmin Lee als Nabucco hat einige davon und zeigt auch hier wieder seine außerordentliche Klasse. Gabrielle Mouhlen und Almerija Delic als Fenena haben anrührende Augenblicke und Karl-Heinz Lehner zeigt, was er wirklich kann, wenn die Komposition es mal her gibt. Auch alle anderen nutzen ihre raren Chancen in den drei verbleibenden Akten, um sich stimmlich gut zu präsentieren.
Jens-Daniel Herzog inszeniert die krude Story durchaus nachvollziehbar, selbst wenn bei der Premiere die Übertitel immer mal wieder das Interesse am Text verlieren. So richtig ein Zugriff, der erklären würde, warum der Nabucco es auf den Spielplan geschafft hat, fehlt allerdings lange. Warum soll uns das Setting in einer Militärdiktatur interessieren? Unklar. Bei seiner Inszenierung von „Tristan und Isolde“ brachte es noch eine deutliche zusätzliche Ebene in die Geschichte ein. Hier bleibt es wohlfeiles Dekor. Warum haben die Israeliten Kostüme (Sibylle Gädeke), die aussehen, als feierten sie eine Bad-Taste-Schlagerparty? Soll das ernsthaft eine Verortung in den 1970er Jahren erzählen? Und wenn ja, warum? Und wenn schon in der Inhaltsangabe im Programmheft das Wort „Fundamentalisten“ fällt, warum wird dann der religiöse Krieg, der hier geführt wird, nicht wirklich aktuell erzählt?
Es ist ein inszenatorischer Kniff, der Herzog an Nabucco interessiert, doch drauf muss der Zuschauer lange warten. Im vierten Akt, wenn Nabucco eigentlich zum jüdischen Glauben bekehrt wird und die Israeliten aus der Gefangenschaft entlässt, kappt Herzog das Befreiungspathos. Stattdessen wird der ehemalige Herrscher vom Hohepriester (Morgan Moody) in der geschlossenen Anstalt ruhiggestellt und die gefangenen Israeliten wie geplant hingerichtet. Dazu fährt Bühnenbildner Mathis Neidhardt eine Mauer aus Betonfertigteilen herunter und eine Maschinengewehrsalve aus den Lautsprechern mäht den Opernchor dahin. Ach, würde doch diese Erschießungsmauer nur nicht so nach Fototapete aussehen und würden wir die Einschusslöcher und aufgemalten Blutspritzer nicht schon beim Herunterfahren sehen, es wäre nicht nur ein großer Effekt, sondern ein echter Schock. Dass der Hohepriester dann den letzten Überlebenden noch aufspürt und mit Kopfschuss tötet, verschärft die Grausamkeit. Auf diese Umdeutung der Geschichte wollte Herzog offenbar hinaus und verfehlt seine Wirkung bei den Freunden der italienischen Oper natürlich nicht. Konsequenterweise hätte der Abend mit diesem schrecklichen Bild enden müssen, aber so weit geht der inszenatorische Mut dann doch nicht. Nabucco erlebt die Befreiung noch als Wahnvorstellung in violettem Licht. Für einen ordentlichen Empörungssturm für das Regieteam beim Schlussapplaus reicht es aber.
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Das hat mir gefallen, der Mut Verdis Frühwerk als "italienische Opernschreierei" zu verorten und den Gefangenenchor trotzdem in seiner Wirkmächtigkeit positiv zu würdigen.