Es ist erst ein paar Jahre her, dass die Barockoper und insbesondere Händels 42 Werke in diesem Genre einen Boom erlebten. Plötzlich standen sie wieder überall auf den Spielplänen und fanden eine enorme Fanbase. Zwischenzeitlich wirkte es fast so, als würde das schwule Opernpublikum, seinem ewigen Anbetungsobjekt Puccini den Rücken kehren und zum puderperückten Barockgenie überlaufen. Wie sich gerade das schwule Musiktheaterklientel, das nicht zu letzt deshalb wichtig ist, weil es zur Senkung des Durchschnittsalters in den Zuschauerräumen beiträgt, seine Lieblinge aussucht, wäre eine Frage, die die Musiksoziologie zu klären hat. Eine Rolle spielt sicher, dass sowohl der Italiener wie auch Händel eine Vorliebe für den großen Effekt haben und stets darauf geachtet haben, dass sie Operndiven mit entsprechendem Arienmaterial versorgten. Wenn nun am Samstag, 25.4., im Dortmunder Opernhaus bei der Premiere von Händels „Saul“ fast die Hälfte der Plätze leer blieben, muss das noch nicht heißen, dass der Hype um die Barockoper vorüber ist, es kann auch einfach daran liegen, dass die szenische Aufführung eines Oratoriums – denn das ist „Saul“ zumindest auf dem Papier – nicht ganz so sexy ist.
Tatsächlich deklarierte Händel seinen „Saul“ deshalb als Oratorium, weil er so die Möglichkeit hatte, in der Volkssprache Englisch zu vertonen, während die Oper zu seiner Zeit das Italienische verlangte. Andererseits verbot es sich aus religiösen Gründen, biblische Geschichten auf der Opernbühne zu zeigen. Händels Komposition ist eigentlich ein Zwitter. Im ersten Akt ganz Oratorium. Eine recht starre Abfolge aus Rezitativen, Arien und Chorstücken in epischer Erzählweise. Im zweiten und dritten Akt wechselt er dann in die Oper und schiebt Duette ein, die mehr szenische Möglichkleiten entwickeln. Die Frage, warum Dortmund ein Händel-Oratorium auf den Spielplan setzt, wenn man doch auch gut zu einem der 42 originären Bühnenwerke des Komponisten greifen könnte, ist allerdings berechtigt. Nur um die Reihe szenischer Oratorien fortzusetzen? Auch wenn „Saul“ in den vergangenen Jahren immer mal wieder an anderen Häusern szenisch bearbeitet wurde, muss Regisseurin Katharina Thoma hier natürlich in besonderer Weise die Dringlichkeit der Entscheidung für ausgerechnet dieses Werk des Komponisten mit ihrer Inszenierung rechtfertigen. Nur weil der enthaltene Trauermarsch durch die Verwendung bei zahllosen Trauerfeiern staatstragende Bedeutung erlangt hat, reicht nicht als Begründung für die Spielplanentscheidung.
Händel und sein Librettist Charles Jennens halten sich bei der Story eng an die Vorlage aus den Büchern Samuel der Bibel. Saul wird gegen seinen Willen zum ersten König der Juden gekrönt. Die Handlung setzt ein mit dem Sieg über die Philister. Der Schlacht entscheidende Sieg Davids über Goliath, macht ersteren umgehend zum Volkshelden. Und Saul verspricht ihm als Lohn seine Tochter Merab, die über diese Entscheidung wenig erfreut ist, weil sie David für nicht standeshgemäß hält. Zudem missfällt hier schon Saul die Begeisterung des Volkes für David. Und zu allem Überfluß preist auch Sauls Sohn Jonathan den jungen, schönen Helden in den höchsten Tönen. Saul beschließt, David, den er nun als Widersacher betrachtet, zu vernichten und beauftragt letztlich sogar Jonathan mit einem Attentat. Jonathan widersetzt sich seinem Vater und warnt David. Schließlich lässt sich Saul aber wieder besänftigen und gibt nun seine andere Tochter Michal David zur Frau, da dieser Merab als zu hochmütig ablehnte. Sauls Eifersucht auf David steigert sich zum Wahn und schließlich geht er so weit, dass er die Hilfe der Hexe Endor zu Rate zieht, da er sich ohnehin bereits von Gott verlassen sieht. Die Hexe lässt ihm den toten Phropheten Samuel erscheinen, der aber nur berichtet, dass Saul und Jonathan in der bevorstehenden Schlacht fallen werden und David die Krone übernehmen wird.
In der Story schlummert durchaus ein Politkrimi, der allerdings verschüttet ist unter einer arg holprigen Erzählweise des Librettos, das allzuoft nur die nächste große Nummer im Blick hat. Da die Geschichte dem Barockpublikum ohnehin bestens geläufig war, mussten sich Jennens und Händel nicht viel Mühe bei der Ausgestaltung geben. Hier könnte ein beherzter und gezielter Regiezugriff Defizite ausgleichen.
Katharina Thoma scheint aber nicht so recht gewusst zu haben, was sie mit dem Stück anfangen will. Da werden eher brave Regieideechen aus der Mottenkiste gezogen, als Entscheidungen getroffen. Irina Bartels bietet bei den Kostümen von allem ein bisschen, da ist der Chor mal ganz in schwarz gekleidet mit Kippa und weißen Pantomimenhandschuhen, dann kommt er in pastellfarbenen Barockkostümen mit Schaumstoffperücken daher. Die Königsfamilie ist eher mondän-modern gewandet und die Soldaten tragen heutiges Wüstenflecktarn. Sibylle Pfeiffer baut ein flaches weißes Podest auf die Bühne, das das Königtum darstellt und ganz zu Beginn – das durchaus schlüssig – vom Chorvolk unter einem schwarzen Tuch entdeckt wird. Dann schwebt von oben eine zweite weiße Fläche als Baldachin herab. Wenn dann aus dem Podest noch diverse Sitzwürfel herauffahren und Merab ihre Handtasche auf einem abstellt, sieht der Königspalast plötzlich wie ein Louis-Vuitton-Showroom aus.
Neben den weißen Pantomimenhandschuhen, hat Katharina Thoma noch einige andere Ideen zu bieten, die arg nach Grundstudium Musiktheaterregie riechen. Da werden wortwörtlich Zacken aus der Krone gebrochen, der Königsmantel wird dekorativ an und ausgezogen, und Kammersänger Hannes Brock muss als Hohepriester unentwegt einen siebenarmigen Leuchter herein- und heraustragen. Das ist bestenfalls hübsch anzusehen – eine Inszenierung ist es nicht. Am allernächsten kommt Thoma einer echten Deutung, wenn sie kurz vor der Heirat Davids Jonathan einen Versuch unternehmen lässt, die ohnehin überdeutliche homoerotische Ausprägung der Knabenfreundschaft zu verbalisieren, aber von David zurückgewiesen wird. Ob die Entwicklung von David vom Pubertierenden zum Mann dann wirklich noch durch das Entjungferungsblutbefleckte Laken der Hochzeitsnacht verdeutlicht werden muss, bleibt dahingestellt. Wenn Thoma dann auch noch den Chor als Spiegelbild des Publikums auf die Bühne setzt, ihnen das Programmheft des Abends in die Hand gibt und sie hüsteln und einschlafen lässt, dann könnte man das vielleicht noch goutieren, wenn nicht Intendant Jens Daniel Herzog gerade die gleiche Idee in seinem Don Giovanni um so vieles schlüssiger und konsequenter inszeniert hätte.
Es gibt zwei oder drei ganz schöne Tableau vivantes in dieser Inszenierung, aber insgesamt bleibt Katharina Thoma und ihr Team jede Begründung, warum sie den „Saul“ anpackt, schuldig. Und wann immer gar nichts mehr geht, dann fahren irgendwo Podeste, Bühnenbildteile oder Requisiten hoch und runter. Es gab eine Zeit, da das in Dortmund leider die einzige Idee der Regie war und wir sind alle sehr glücklich, dass diese Zeit vorüber war, als Jens Daniel Herzog das Haus übernahm.
Musikalisch – fast überflüssig, das in Dortmund noch zu erwähnen – ist der „Saul“ auf höchstem Niveau. Christian Sist bietet sowohl optisch wie stimmlich einen herausragenden Saul, Ileana Mateescu glänzt in der Hosenrolle des David durch überzeugendes und nie überzogenes Spiel wie überragende Stimmschönheit. Tamara Weimerich gibt der Merab mit messerscharfen Koloraturen die passende Hochmütigkeit und Julia Amos ist als Michal ihr lieblicher Gegenpart. Lucian Krasznec überrascht mit seinem Jonathan durch einen überaus treffenden Barockton. Und Hannes Brock kann besonders als Hexe von Endor – er singt auch den Hohepriester und Abner – seine Lust an der intensiven Rollengestaltung voll ausleben. Der Chor unter Granville Walker und die Philharmoniker unter Motonori Kobayashi zeigen sich als echte Barockexperten.