„Ein europäisches Abendmahl“ heißt der frühe Text von Werner Schwab im Untertitel, der zu den „Fäkaliendramen“ gehört genauso wie das ungleich bekanntere und häufiger gespielte „Die Präsidentinnen“. Dabei ist „Übergewicht, unwichtig: Unform“ abgesehen von dem kaum aussprechbaren Titel zunächst einmal ein saftig-derber Schwank und allerbestes Schauspielerfutter. In einer runtergekommenen Kneipe sitzen Jürgen, der Lehrer und Intellektuelle des Ortes, das kinderlose Paar Hasi und Schweindi, der prollige Schläger Karli und seine etwas abgehalfterte Freundin Herta und die dauergeile, leicht debile Fotzi herum. Die Wirtin schenkt regelmäßig nach und die Gäste suhlen sich in ihrem eigenen Lebenselend und dem der anderen. Man beleidigt sich und haut sich auch schon mal auf die Goschn, aber so ist das Leben halt. Alles wie immer, wäre da nicht dieses saubere, unbekannte Paar, das still an einem Tisch sitzt und mit sich und der Welt ganz im Reinen zu sein scheint. Es bringt die gut austarierte Situation der Stammgäste durcheinander, erregt deren Neid und muss beseitigt werden, um die Ordnung wieder herzustellen. Kurzerhand wird es aufgefressen. Doch so ganz ist dadurch die Situation nicht gelöst. Und dann taucht es plötzlich wieder auf, sitzt wieder da, ist aber gar nicht mehr still, sondern plötzlich Herr der Ereignisse.
In der Inszenierung von Johannes Lepper, die am 17.12. Premiere feierte, ist dieses Paar mit Edith Voges Nana Tchuinang und Raafat Daboul besetzt, die bei ihrem zweiten Auftritt Arabisch und Französisch miteinander sprechen. Sie sind diese imaginierte Bedrohung durch das Fremde, die in Europa heute den Rechtspopulismus erstarken lässt. Wie Schweini es einmal sagt: „Wir sind doch Familienmenschen, eine richtig einheimische Familie.“ Den abgehängten Einheimischen, die sich ihr Leben so gründlich selbst versauen, sind diese schönen, zufriedenen Fremden eine perfekte Projektionsfläche. Man kann sich fragen, ob Schwabs Text diese deutliche Aktualisierung braucht. Dadurch dass sie in der Dortmunder Aufführung aber so selbstverständlich daherkommt und nicht weiter kommentiert wird, entfaltet sie ganz unauffällig ihre Wirkung. Vor allem aber wirkt dieser Abend, als habe Werner Schwab den Text diesem Ensemble auf den Leib geschrieben. Da ist natürlich wieder Andreas Beck, der als Schweini gleich eine ganze Reihe von Kabinettstückchen abliefert, ob beim Discodancing, Brot kotzend oder als jammerndes Riesenbaby. Fast noch bemerkenswerter ist aber, dass er mit seiner enormen Präsenz nicht alle anderen an die Wand spielt. Dass Marlena Keil mit adretter Flechtfrisur (Kostüme: Sabine Wegmann) ihm als Hasi Paroli bieten kann, war noch erwartbar – selbst wenn sie nur ihren Schlüpfer anzieht, ist das schon sehenswert. Doch auch Uwe Rohbeck als dauerdozierender Jürgen, hat seine ganz großartigen Monologe – über das Würstel zum Beispiel – und keiner kann „Fotzi“ so schön sagen wie er. Frank Genser gibt einen ungemein ekligen Karli mit zu Schlitzen verengten Augen, dem man in jeder Sekunde abnimmt, dass ihm nicht so recht bewusst ist, was der Unterschied zwischen Vögeln und Schlagen ist. Und seine Freundin Herta wird von Friederike Tiefenbacher mit krächzender Unterwürfigkeit ausgestattet, bis sie einen Turm aus Bierkisten erklimmt und verkündet, dass sie zuendegevögelt und deshalb jetzt wieder Jungfrau sei und sich in einer absurden Prozession von allen Anwesenden die Füße lecken lässt. Nicht zuletzt schlägt sich Christian Freund als Fotzi in diesem All-Star-Ensemble bravourös. Die ganz junge Amelie Barth behält als Wirtin den Überblick und bringt immer mal wieder souverän Ruhe in das entfesselte Geschehen.
Johannes Lepper lässt dem Text und seinem Ensemble genügend Raum. Er setzt am Beginn klar auf den derben Schwank mit viel dreckigem Witz, lässt dann das Spiel zerfasern und die dunklen Untertöne deutlicher zu Tage treten, um am Schluss mit dem Wiedererscheinen des Paares noch einmal anzuziehen. Das ist klug gebaut und zeigt, warum Werner Schwab zu den wichtigsten Theaterautoren des vergangenen Jahrhunderts gehört. Letzteres ist keine Selbstverständlichkeit, denn Schwab ist in vielem ein direkter Nachfahre von Ödön von Horvath. In jedem Fall sind seine Stücke für Darsteller wie Regie eine ähnlich große Herausforderung, da es immer darum geht, dass diese Personen, die so dumm und gemein daherkommen, doch auch immer an irgendeiner Stelle eine Würde aufscheinen lassen. Lepper gelingt diese Gratwanderung in Dortmund.
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