Wenn Volker Lösch die Regie übernimmt, dann ist das Ergebnis eher nichts für Theaterconaisseure. Feinsinnige Personenpsychologie interessiert ihn wenig, poetische Bilder schon gar nicht. Lösch will unbedingte Aktualität und politische Relevanz. Oft brachte er dazu Laienchöre auf die Bühne – Arbeitslose, Hartz4-Empfänger, Geflüchtete –, die mit ihren eigenen Geschichten den oftmals klassischen Stoffen den nötigen Aktualitätskick gaben. Bei „Das Prinzip Jago“, dessen Uraufführung am 1.10. die Spielzeit am Grillotheater in Essen eröffnete, verzichtete Lösch allerdings auf dieses Mittel. Auch bringt Lösch hier keinen klassischen Text auf die Bühne. Stattdessen bildeten er, Oliver Schmaering und Ulf Schmidt gemeinsam mit Dramaturgin Vera Ring einen „Writer’s Room“ wie er aus Fernsehproduktionen bekannt ist. Entstanden ist ein komplett neuer Text, der allerdings in sehr großen Teilen die Personen und Handlung von William Shakespeares „Othello – Der Mohr von Venedig“ übernimmt. Ganz heutig wird die Handlung aus dem venezianischen Adel und Militär in einen Fernsehsender verlegt. Der Intrigant Jago funktioniert in jeder Umgebung. Wie bei Shakespeare ist er auch bei Lösch das beinahe grundlos Böse. Einmal wird er ganz zu Beginn bei der Beförderung übergangen. Doch mit dieser Anfangsmotivation ist seine sich ständig potenzierende Skrupellosigkeit, die letztlich nur darauf abzielt, alle Beteiligten in den Untergang zu stürzen, kaum noch zu erklären. „Das Prinzip Jago“ ist eine Zerstörungsmaschine, die von einer verletzten Eitelkeit in Gang gesetzt, nicht mehr zu bremsen ist.
In Essen heißt der Jago „Nick Walter“ und wird brilliant von Stefan Diekmann verkörpert. Die Bühne (Ausstattung: Carola Reuthen), die ein einziger Greenscreen ist, in dessen Mitte ein der gängigen Ästhetik von Nachrichtensendungen nachempfundener ausladender Stehtisch, der auch Gangway ist, steht, nutzt er auf ganzer Breite für seine Show. Leicht tänzelnd ist Diekmann immer in Bewegung, wie einer dieser Coaches, die in ihren Maschmeyer-Shows den Zuschauern (in diesem Fall: uns) weismachen wollen, dass wir alles erreichen könnten, wenn wir nur ihnen unser Geld (und unsere Seelen) anvertrauen. Diekmann ist voll in seinem Element, er ist nicht wirklich unsympathisch aber auch nicht sympathisch, normal und durchschnittlich genug, um eine perfekte Projektionsfläche zu bieten, und dennoch so präsent, dass es schwer fällt, sich seiner Faszination zu entziehen.
Die Folie der Intrige liefert eine Ansammlung von Geflüchteten auf dem Essener Kennedyplatz, die Nick Walter geschickt in die Eskalation treibt. Auch in dokumentarischen Videos, die über drei Screens an der Rampe gezeigt werden, geht es um das Fluchtthema. Einmal sehen wir geflüchtete Jugendliche, die von ihren ersten Erfahrungen in Deutschland und ihren Zukunftsträumen erzählen sowie eine Sozialpädagogin, dann sehen wir Interviews mit Passanten in der Essener Innenstadt, die ganz unverhohlen grausam gewöhnliche Ressentiments und Rassismen in die Kamera sprechen.
Der eigentliche Kern der Handlung ist allerdings ein anderer. Zu Beginn des Abends ist der Fernsehsender „West1“ gerade mit einem Integrationspreis für seine Reportagen ausgezeichnet worden. Intendant Ulrich Sonntag (Thomas Büchel) vertritt einen Journalismus der alten Schule. Er setzt auf Recherche und echte Information. Ein Gerücht sei noch keine Nachricht, ist er überzeugt. Twitter und Facebook seien keine Quellen. Doch die Quoten sitzen auch ihm im Nacken – und eine jüngere Generation, die die Geschwindigkeit der sozialen Medien längst verinnerlicht hat und mit weit weniger journalistischem Ethos ausgestattet ist. Nick Walter macht sich diese Unsicherheit des Überganges zunutze und spielt beide Fraktionen brutal gegeneinander aus. Zuletzt hat er die Chefin der rechtspopulistischen AfE (ekelhaft überzeugend: Silvia Weiskopf) in die Chefetage des Senders gehievt und das 10-Punkte-Programm des neuen „West1“, dessen Logo nun im feinsten AfD-Blau erstrahlt, das Emporkömmling Ben Stützl (als schmieriger Macho: Thomas Meczele), ist ein Pandämonium der journalistischen Verwahrlosung. Bebildert wird die schmierige Mischung aus Emotion, Gerücht, Mutmaßung, Klick- und Quotengeilheit, die den Namen Journalismus kaum mehr verdient, mit Originalschlagzeilen aus „WAZ“, „Bild“ und „N24“.
Was der Text von der Veränderung des Journalismus‘ erzählt, ist erschreckend detailgetreu bis hinein in einzelne Situationen und Ansichten. Fragen und Zwiespältigkeiten, die Diskussionen um Haltung, Meinung und Objektivität, Unabhängigkeit und wirtschaftliche Zwänge – das alles ist ganz hart an dem, was in Redaktionen tatsächlich diskutiert wird, wenn sie sich denn überhaupt noch ernsthaft („Beim Focus glauben sie auch noch, sie seien Journalisten“) mit ihrem journalistischen Selbstverständnis auseinandersetzen. Die Bitterkeit, mit der „Das Prinzip Jago“ dies alles erzählt, legt allerdings nahe, dass die Autoren des Stückes nicht daran glauben, dass diese Überlegungen tatsächlich noch vielerorts angestrengt werden. Und die gezeigten Medien dürften nur als sehr kleine Auswahl des Schundkabinetts zu verstehen sein.
Wenn Volker Lösch Theater macht, dann poltert er. Die Qualität ist, dass es ihm wirklich um etwas geht, dass er eine Botschaft transportieren will. Nichts Allgemeinmenschliches, sondern etwas ganz aktuell Politisches. Volker Löschs Theater ist immer Agitprop. Es sieht nun aber nicht so aus, dass er tatsächlich noch daran glaubt, dass der Journalismus zu retten sei. Worum geht es ihm aber dann? Sicherlich nicht darum, in das rechtspopulistische „Lügenpresse“-Horn zu stoßen. Er will uns mit „Das Prinzip Jago“ eben auf diese Mechanismen aufmerksam machen. Auf das gefährliche Zusammenspiel aus verrohtem Journalismus, populistischer Beeinflussung, dem dumpfen Klimpern auf der Klaviatur hohler Emotionen und unreflektierter Ressentiments. Und damit ist „Das Prinzip Jago“ ein wirklich schmerzhafter Abend geworden, denn er setzt tiefer im Bewusstsein an, als viele gutgemeinte Stücke zur Fluchtproblematik, dort, wo es auch einem scheinbar aufgeklärten, bürgerlichen und wohlmöglich liberalen und intellektuellen Publikum noch weh tun kann. Die Fäulnisprozesse, die der Abend beschreibt, sitzen längst tief in allen Medien, auch solchen, die vielleicht noch als Qualitätsjournalismus angesehen werden können. Mit Bequemlichkeit ist ihnen nicht mehr beizukommen, wer sich nicht vom Prinzip Jago infizieren lassen will, muss im Umgang mit Informationen immer wachsam bleiben, auch wenn sie aus scheinbar seriösen Quellen wie ZDF, ARD, WDR, DIE WELT, DIE ZEIT, Spiegel und all den anderen stammen.
Termine und Karten: www.schauspiel-essen.de