Am Anfang dieser in vieler Hinsicht erstaunlichen Ballett-Performance stand die Idee, den derzeit vielbeschäftigten, dauerkreativen, jungen Choreographen Jeroen Verbruggen zur Zusammenarbeit mit der nicht weniger bemerkenswerten Gelsenkirchener Compagnie zu bewegen. Das Haus machte dem Belgier ein verführerisches Angebot: Eine Produktion im kleinen Haus des Musiktheaters auf der Raumbühne sollte es sein. Ansonsten gab es keine Vorgaben. Carte Blanche für ein Experiment mit einer bestens trainierten, im neoklassischen Stil überlegenen und für andere Bewegungssprachen überaus aufgeschlossene Compagnie in einer aufregenden Raumsituation mit der Bühne in der Mitte des Zuschauerraumes. Verbruggen sagte zu und kostete die Möglichkeiten voll aus.
Am 28.4. hatte Open (S)Pace im kleinen Haus Premiere. Ein achteckiger Pavillon in der Mitte des Raumes markiert den Bühnenraum. Die Scheiben in der weißen Stahlkonstruktion sind bis auf wenige Reste in den Rahmen zerbrochen, einige Scherben auch auf dem Boden. Bereits beim Einlass pulst ein dumpfer Herzschlag (Sounddesign: Benjamin Magnin) durch den Raum, die Tänzerinnen und Tänzer sitzen in hautfarbenen, kurzen, schurzartigen Kostümen (Ausstattung: Ines Alda) zwischen den Zuschauern und lassen die Strahlen großer Handscheinwerfer durch den Raum gleiten, die Lichtpunkte tasten und erforschen das Setting, aber auch die Körper, es ist eine Erkundung des Gegenübers auf Distanz. Einzelne Zuschauer werden mit einbezogen, sanft von ihren Plätzen an den Bühnenrand geführt, ermutigt, selbst die Scheinwerfer zu führen, oder einfach nur ein merkwürdiges Wesen in der Mitte der Bühne näher in Augenschein zu nehmen. Das Wesen, das dort kauert, trägt hautfarbene Ballons an Rücken und Armen. Alien oder Mutation? Lichtscheu weicht es panisch zurück, wenn es mit dem Scheinwerfer bedrängt wird.
Vielleicht gab es eine Katastrophe, die jede Gemeinschaft und Zivilisation zerstörte. In den Ruinenresten irren die Überlebenden ziellos und haltlos umher, ohne soziale Struktur. Sie beginnen, eine Art des Zusammenlebens, des Umgangs miteinander neu zu suchen und zu erfinden, probieren Annäherungen, Körperkontakt, schrecken voreinander zurück, versuchen es erneut, mal ungelenk, mal rüde, mal vorsichtig tastend. Paar, Gruppe und Gemeinschaft. Sie forschen nach ihrer Herkunft und dem Sinn ihrer Existenz, entwickeln schließlich gemeinsame Rituale als Basis einer Gesellschaft. Und doch drängen immer wieder und zuletzt fast animalische Instinkte und Verhaltensweisen an die Oberfläche.
Jeroen Verbruggen ist eine Ideen-Maschine. Atemlos stürzt er von Einfall zu Einfall, ist dabei immer originell, manchmal hastig, oft enorm bildstark, auch weil die Lichtgestaltung von Andreas Gutzmer und Ines Alda alles aus dem Raum herausholt. Gemeinsam mit dem Ensemble hat er eine ganz eigene Bewegungssprache entwickelt, die sehr weit weg von der neoklassischen Eleganz ist und unbedingt zeitgenössisch daher kommt, schnell, abrupt, scharfkantig, athletisch bis zum Akrobatischen. Für die Männer wie die Frauen ungemein fordernd in Kraft, Ausdauer und Präzision. Oft lässt er perfekte Körperspannung ganz plötzlich in totale Erschlaffung wechseln und sofort wieder zurück in die nächste Anspannung. Das verlangt den Tanzenden viel ab, denn nur, wenn die harten Schnitte perfekt sitzen, sind sie als gesetzt zu erkennen und wirken nicht wie Unsauberkeiten. Die Gelsenkirchener Compagnie stürzt sich mit vollem Elan in dieses Abenteuer und folgt Verbruggen auf seinem halsbrecherischen Weg. Auch auf diesem ungewohnten tänzerischen Terrain ist die unglaubliche Bridgett Zehr herausragend. José Urrutia lässt sein raumgreifendes Charisma strahlen. Eine ganz ungeahnte Qualität entwickelt Valentin Juteau, dem Verbruggens Choreographie auf den Leib geschrieben zu sein scheint. Bewundernswert auch der Elan, mit dem Louiz Rodrigues sich diese Fremdartigkeit der Bewegung zu eigen macht, als sei sie in seine DNA eingeschrieben. Wie geheimnisvoll und kühl Hitomi Kuhara gleich zu Beginn den Raum durchmisst, das ist allein schon den Abend wert. Doch sie alle sind an diesem Abend Teil ihres Ensembles, das durch seine Geschlossenheit erst atmet: Francesca Berruto, Sarah-Lee Chapman, Rita Duclos, Tessa Vanheusden, Sara Zinna, Carlos Contreras, Paul Calderone.
Bei der Premiere wirkte der Beginn des Abends noch etwas verhalten. Das mag einerseits daran liegen, dass auch beim Zuschauer erst eine Herantasten an diese ungewohnte Bewegungssprache einsetzt, es ist aber auch gut vorstellbar, dass der Abend bei den nächsten Vorstellungen noch an Energie und Flow gewinnt, wie er es auch bei der Premiere bereits in den meisten Momenten hatte. Zudem ist die extreme Dichte an choreographischen Ideen für den Zuschauer beinahe eine Überforderung, so dass hier die dringende Empfehlung ausgesprochen werden muss, sich Open (S)Pace mehrmals und am besten aus verschiedenen Raumperspektiven anzuschauen.
Zuletzt sei noch erwähnt, dass das Musiktheater im Revier auch dadurch Maßstäbe setzt, dass es im Anschluss an die Premiere im Foyer das Münsteraner DJDuo The Droids engagierte, das nahtlos aus der Atmosphäre des Stückes in die Party überleitete. Bei den Aufführungen am 9.5. und 3.6. werden sie wieder im Anschluss an die Vorstellungen auflegen.
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[…] sogar außerordentlich ehrenhaft. In diesem Fall allerdings ist das Medium das gleiche, wie das der ersten Kritik, und es soll auch nichts grundsätzlich revidiert werden. Ist es dann nicht müßig, sich noch […]