Premiere in Gelsenkirchen: Romeo und Julia von Bridget Breiner

Bridgett Zehr und Corps de Ballet in Romeo und Julia von Bridget Breiner am Musiktheater im Revier (Foto: Costin Radu)

Noch bevor sich der fahlsilberne Vorhang bei der Premiere am 17.2. im großen Haus des Musiktheaters im Revier hebt, bevor die Musik von Sergej Prokofjew einsetzt, macht Compagniechefin und Choreographin Bridget Breiner klar, dass sie mit diesem Abend Großes vorhat. Eine dunkle Gestalt, die Kapuze ihrer Kutte tief ins Gesicht gezogen, schiebt sich halb durch einen Spalt im Vorhang und aus dem Lautsprecher erklingen die ersten Zeilen von Shakespeares Text auf Englisch, raunend und gerade so laut, dass sie nur zu verstehen sind, wenn das Publikum ganz leise ist, eine zweite Stimme aus einer anderen Ecke des Raumes kommt hinzu, jetzt auf deutsch, dann noch eine und noch eine, bis ein vielsprachiger Chor aus allen Himmelsrichtungen die tragische Geschichte aus Verona ankündigt. Fast fühlt man sich in den Macbeth und zu den drei Hexen versetzt. Breiner will die bestens bekannte Story nicht als schön tragische Liebesgeschichte verstanden wissen, sondern als ewig gültige Weltparabel.

Dann hebt sich der Vorhang und Bridgett Zehr, die als „Chorus“ die Rolle des Schicksals in diesem Spiel übernimmt, enthüllt die unter weißen Tüchern verborgenen Tänzer. In schwarzem Leder, mit altertümlichem Gesichtsschutz und Knieschonern in blau und gelb klar in zwei Parteien aufgeteilt und nur mit langen Stöcken bewaffnet stehen sie dort wie in einer Kampfszene aus „Game Of Thrones“ eingefroren. Dann setzt die Philharmonie Westfalen unter ihrem Leiter Rasmus Baumann mit Prokofjews Musik ein und der Kampf zwischen den Capulets und Montagues beginnt. Der ewige Zwist der Familien war nur kurz eingemottet, aber er kann stets durch eine kleine Geste des Schicksals reaktiviert werden.

Die Stöcke, mit denen hier zu Beginn die ganze Compagnie in einer ausgeklügelten Choreographie, die Elemente aus Martial Arts aufnimmt, aufeinander losgeht, werden uns durch das ganze Stück als universelle Waffe begleiten. Mercutio und Tybalt werden damit erstochen, Romeo und Julia werden sie zum Mittel der Wahl für den Freitod, aber auch schon wenn Lady Capulet  Tybalt zur Raison ruft, tut sie das mit einem dieser Stöcke und sogar die Freundinnen Julias spielen zum Spaß mit Stöcken. So tief hat sich die Gewalt und das Militärische schon bis in jeden Winkel dieser Stadtgesellschaft hineingefressen.

Mangelte es der einleitenden Kampfszene bei der Premiere noch etwas an der nötigen Energie, was sich gewiss bei folgenden Vorstellungen noch ändern wird, so folgt dann schon einer der (sehr vielen) ganz großen Augenblicke dieses Abends. Für die Szene in der Mercutio den grüblerischen Romeo aufheitert, choreographiert Breiner einen wunderbaren Pas de Deux für Ledian Soto und Louiz Rodrigues, der die überschwängliche Jugend an der Grenze zum Erwachsenwerden und die innige Freundschaft der beiden atmet.

Romeo und Julia von Bridget Breiner am Musiktheater im Revier (Foto: Costin Radu)

Bridget Breiner erzählt die Romeo-und-Julia-Geschichte an diesem Abend als ganz klassisches Handlungsballett. Es geht ihr nicht darum ein großes Konzept überzustülpen oder alles gegen den Strich zu bürsten, aber sie findet gemeinsam mit ihrem großartigen Ausstatter Jürgen Kirner immer wieder in einzelnen Szenen überraschende und zwingende Bilder. Nur ein Beispiel ist der Ball im Hause Capulet, bei dem sich Romeo und Julia zum ersten Mal begegnen. Während die ungemein klug erdachten fahr- und kippbaren Bühnenbildelemente aus kirschholzfarbenen Latten zur großen Fensterfront, die Saal von Terrasse trennt, werden, tragen die Ballgäste schwarzweiße Masken, die an Schädel denken lassen. Der Ball wird zum Totentanz, der die kommende Tragödie in diesem unschuldigen Fest schon anlegt. Wie klug und nahtlos hier alle Beteiligten zusammenarbeiten, zeigt sich auch etwas später, wenn ein Scheinwerfer (Lichtdesign: Bonnie Beecher) nur ein Kreuz im Lattenraster der Bühne beleuchtet und den Raum so zur Kirche werden lässt.

Francesca Berruto und Ledian Soto (Foto: Costin Radu)

Der erste Akt endet mit der großen ersten Liebesszene zwischen Romeo und Julia, in der es Breiners Choreographie gelingt, beide ganz und gar ausgewogen in Aktion und Hingabe tanzen zu lassen. Gerade im neoklassischen Ballett ist die Gleichwertigkeit der Geschlechter keinesfalls selbstverständlich. Hier allerdings ist auch die Julia der Francesca Berruto immer wieder diejenige, die Romeo führt. Dieses Wechselspiel der beiden macht die Szene zu weit mehr als nur wunderbarem Tanz. Das Selbstbewusstsein Julias gibt ihrer Verliebtheit eine moderne Unmittelbarkeit, die zutiefst anrührend ist.

In alle drei Akte des Abends führt Bridgett Zehr als Chorus ein. Im schwarzen, ärmellosen Lederbody bekommt sie eine fast übermenschliche Größe. Alle großen Momente dieses Abends hier zu erwähnen, würde den Rahmen sprengen. Im zweiten Akt ist sicherlich das Solo von Paul Calderone als Pater Lorenzo herausragend. Von einsamer religiöser Innerlichkeit durchdrungen zeigt es unmittelbar, dass dieser Pater außerhalb der zerstrittenen Gesellschaft über den Dingen steht. Und dann tritt Romeo dazu. Faszinierend zu sehen, wie Ledian Soto, der sonst so von erwachsener Eleganz ist, hier wunderbar zum überhitzten aufgeregten Jüngling werden kann.

Im dritten Akt, der vielleicht der herausragendste des Abends ist, hat dann noch einmal das Bühnenbild von Jürgen Kirner, der auch die klug zwischen historisierend und modern vermittelnden Kostüme besorgte, seinen großen Auftritt. In einer Art Choreographie der Dinge zeigt es noch einmal bei aller zurückgenommenen Reduziertheit seine ganze Wandelbarkeit und schafft atmosphärisch dichte Räume. Brilliant jene Szene, in der Julia mit sich hadert, ob sie das Schlafgift des Paters tatsächlich nehmen soll und sich noch einmal vergegenwärtigt, wie unbarmherzig ihre Eltern sie in die Ehe mit Paris zwingen wollen. Und dann ist da noch dieser Pas des Deux von Julia mit dem Schicksal, auf Distanz und wiederum durch das Lattengitter getrennt.

Tessa Vanheusden und Francesca Berruto (Foto: Costin Radu)

Bridget Breiner hat lange gezögert, mit der eigentlich viel zu kleinen Gelsenkirchener Compagnie ein großes Handlungsballett wie Romeo und Julia in Angriff zu nehmen. Dass sie es nun doch getan hat, mag damit zusammenhängen, dass in dieser nur 14köpfigen Compagnie tatsächlich jede Rolle in perfekter Besetzung vertreten ist. Die zarte wie selbstbewusste Julia der Francesca Berruto und Ledian Soto, der verspielter Jugendlicher und leidenschaftlicher Liebender ist. Louiz Rodriguez, dem der immer etwas zu laute, vorschnelle und stets gutgelaunte Mercutio auf den Leib geschrieben zu sein scheint. Valentin Juteau bringt genau die richtige virile Breitbeinigkeit mit, die der Tybalt braucht. Paul Calderone ist ein großer und edler Pater Lorenzo. Carlos Contreras, der als Paris so wunderbar schön und kalt ist, dass Julia sich niemals in ihn verlieben könnte. Der Lord Capulet des José Urrutia, der mit herrschaftlicher Strenge die Familie beherrscht. Die beinahe unirdische Bridgett Zehr als Chorus. Und dann natürlich auch noch die grandiose Lady Capulet der Tessa Vanheusden. Während Bridget Breiner in ihrer Choreographie nur eher beiläufig Spitzentanz einsetzt, setzt Lady Capulet die Spitzenschuhe immer dann ein, wenn es darum geht, wieder die Oberhand über das Geschehen zu gewinnen. Dann richtet sie sich zu voller Größe auf, der niemand widerstehen kann. Und was ist das für ein unglaubliches Leid, das Vanheusden da in die Trauerszene legt? Es zerreißt einem schier das Herz, diese zuvor so starke und überlegene Frau so gebrochen zu sehen. Nicht vergessen werden sollen hier die frische und anmutige Zofe der Rita Duclos, sowie der Corps des Ballet aus Sarah-Lee Chapman, Hitomi Kuhara, Sara Zinna und Daniel Castillo als Gast, der eine Vielzahl wechselnder Rollen bestreiten muss.

Mit Romeo und Julia gelingt Bridget Breiner ein Meisterwerk des neoklassischen Handlungsballetts, wie es sonst derzeit keine Compagnie in NRW zu bieten hat. Es ist ein brillantes  Plädoyer für dieses Genre und die Erzählkraft des Tanzes. In Gelsenkirchen bedeutet „neoklassisch“ eben auch modern, selbst bei einem Stoff, der so auserzählt scheint, wie die shakespearsche Liebestragödie, wenn nur die Handschrift der Choreographin so originell, fantasievoll und voller kluger Inszenierungsideen ist, wie bei Bridget Breiner. „Romeo und Julia“ bestätigt auch aufs neue, was diese großartige Compagnie zu leisten im Stande ist. Der Mut, mit nur 14 Tänzerinnen und Tänzern ein großes klassisches Handlungsballett auf die Bühne zu stellen, hat sich mehr als gelohnt. Und das Ergebnis übertrifft vieles um Längen, was weit größere Compagnien in der Umgebung derzeit zu leisten im Stande sind.

Termine und Tickets: Musiktheater im Revier

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