Nach dem Abkommen zwischen Deutschland und dem Kosovo von 2010 wird eine Roma-Familie abgeschoben. Teenager Elvira lebt dort nun mit ihren Eltern und dem behinderten Bruder Egzon auf einer Müllkippe. Dosen im Müll sammeln ist die einzige Einkommensquelle, den Vater zieht es immer mehr zurück in die Vergangenheit, hin zu dem Dorf, in dem sie vor der Flucht nach Deutschland lebten und das im Kosovo Krieg einfach niedergebrannt wurde. Er hofft, dort Antworten zu finden. Die Mutter kämpft darum, Geld für die Medikamente des behinderten Sohnes zusammen zu kratzen. Und Elvira versucht, den Kontakt nach Deutschland aufrecht zu erhalten. Dafür braucht sie einen Internetzugang, den nur ein Internetcafé in der Stadt bietet. Doch auch dafür reicht das Geld nicht. In Deutschland, da ist nicht nur ihre Heimat, sondern auch Bruno, in den sie verliebt ist. Im Kosovo ist Elvira zwar geboren, aber die Sprache spricht sie nicht. Einmal im Stück erzählt sie, wie sie im Geografieunterricht gefragt hat, wo auf der Europakarte denn nun der Kosovo sei. Damals war er nicht einmal auf der Karte eingetragen.
Und Bruno? Er vermißt nicht nur Elvira, sondern trägt auch alltägliche Konflikte mit seinem Vater aus, der sich von Brunos Mutter getrennt hat und nun mit einer neuen Frau zusammen ist, die auch noch ein Kind erwartet. Seine schulischen Leistungen rutschen ab und erst die Lehrerin klärt den Vater darüber auf, dass die Abschiebung Elviras wohl ein Grund dafür ist. Verschärfend kommt hinzu, dass der Vater Pilot ist und auch schon mal Einen Abschiebungsflug geflogen ist.
Autor Björn Bicker behandelt in seinem mit dem Deutschen Jugenttheaterpreis 2012 ausgezeichneten Stück viele und auch sehr komplexe Themen. Ausgerechnet der Kosovo, in dem ethnische und religiöse Konflikte zwischen Albanern, Serben und Roma sich verdichten, bietet eigentlich eine Gemengelage, die sich selbst manchem Erwachsenen kaum erschließt. Dazu setzt „Deportation Cast“, das am 30.9. in Oberhausen Premiere hatte, auch noch auf unterschiedliche dramaturgische Mittel, springt zwischen epischer und dramatischer Erzählweise hin und her, integriert dokumentarisches Material und nicht zuletzt spielen die vier Darstellenden auch noch alle mehrere Rollen. Doch der Text funktioniert, weil Bicker ausgeht von ganz allgemeinverständlichen innenfamiliären Problemen, die sich unmittelbar erschließen. Die Trennung von Elvira und Bruno, die unterschiedlichen finanziellen Möglichkeiten der Familien, Brunos Konflikt mit seinem Vater und der Stiefmutter, Elviras Schwierigkeiten mit der Verantwortung für den behinderten Bruder, die sie selbst in der Entfaltung behindert, den damit verbundenen Schuldgefühlen – das alles stammt direkt aus der Lebenswelt Heranwachsender, ganz unabhängig von der Abschiebungsthematik. Die sitzt gewissermaßen als Katalysator oder Beschleuniger auf den Ereignissen drauf. So holt der Text die Zuschauer in ihrer Lebenswelt und Erfahrung ab und lässt die zunächst abstrakt erscheinenden Fragen nach Heimat und Vertretbarkeit der Abschiebungspraktiken unmittelbar erlebbar werden. Das Schicksal von Elvira und Bruno rührt unmittelbar an, die möglicherweise offenen Fragen, wie das da im Kosovo alles genau politisch war und ist, wie heute in Deutschland abgeschoben wird, und ob das vertretbar ist, beschäftigen noch lange nach der Vorstellung.
In Oberhausen spielen Anja Schweitzer und Martin Müller-Reisiger die Elternrollen, Lisa Wolle und Christian Wagner die jugendlichen. Rollenwechsel werden durch kleine Veränderungen des Kostüms (Marina Sell Cajueiro) markiert, da werden die Haare mal zum Knoten gebunden, eine Jacke an- oder ausgezogen, Ärmel hochgestreift. Diese Zeichen sind allerdings kaum nötig, da der Text geschickt signalisiert, wer gerade welche Rolle übernimmt, sie stören aber auch nicht. Auffällig ist allerdings, dass Christian Wagner als Egzon/Bruno und Lise Wolle als Elvira enorm überzeugend sind, ohne bewusst auf jugendlich zu spielen. Wenn sie allerdings in die Erwachsenenrollen von Arzt oder Lehrerin schlüpfen, gelingt ihnen das nicht ganz so überzeugend.
Die Inszenierung von Christopher-Fares Köhler im funktionalen Bühnenbild von Maria Eberhardt manövriert handwerklich sauber durch den Text. Mit Tanztheatereinlagen (Choreographie: Polyxenia Angelidou) und dem Einsatz von Mikrophonen werden inszenatorische Marken gesetzt. Das ist sehr sauber erzählt – und das braucht die komplexe Dramaturgie des Stückes auch zu aller erst – wirkt aber doch auch gelegentlich noch etwas zu vorsichtig. Ein erfahrener Regisseur hätte hier vielleicht noch mehr rausholen können und den Darstellenden mehr Sicherheit in der Ausgestaltung ihrer wechselnden Rollen – insbesondere der kleineren – geben können. Trotzdem ist hier ein spannender und unmittelbar berührender Abend gelungen, der den jugendlichen wie erwachsenen Zuschauer mitnimmt, politische Verhältnisse und Praktiken wieder ins Bewusstsein holt, die fast vergessen oder verdrängt sind, und wichtige Fragen dazu aufwirft.
Termine und Karten: www.theater-oberhausen.de