2004 war „Ein Volksfeind“ zuletzt am Theater Oberhausen zu sehen. Damals führte ein langer Steg weit in den Zuschauerraum. Auch jetzt hat Bühnenbildnerin Maria-Alice Bahra wieder eine Gangway durch das Parkett gebaut. Jeff Zach, der Thomas Stockmann von damals, sitzt allerdings bei der Premiere am 12.1. nur im Publikum und niemand muss fürchten, dass er sich plötzlich splitterfasernackt auszieht und von oben herab das Publikum anbrüllt, bis es wutschnaubend den Zuschauerraum verläßt. Volker Lösch, der seinerzeit die umstrittene Inszenierung besorgte, wollte uns aus unserer Konsumenten-Lethargie reißen und zwingen, Stellung zu beziehen. Florian Fiedler nutzt die gleiche Stück-Szene, in der Stockmann die Bürger des Ortes versammelt, um sie über das verseuchte Wasser des Kurbades aufzuklären, für ein Spiel mit der Haltung des Publikums – doch dazu später.
In Henrik Ibsens Volksfeind geht es um Politiker, die einen Skandal vertuschen, weil sie von wirtschaftlichen Interessen abhängig sind, es geht um eine wankelmütige Presse, die sich für Headlines, aber nur wenig für Wahrheit interessiert und es geht um die Frage, ob Idealismus und Verantwortung zusammen passen.
Der Badearzt Thomas Stockmann entdeckt, dass das Wasser des neuen Kurbades verseucht ist. Ausgerechnet durch Gerbereiabwässer aus dem Betrieb seiner Schwiegermutter. Sein Versuch gemeinsam mit der örtlichen Zeitung „Der Volksbote“ darüber aufzuklären, wird von seinem Bruder Peter, dem Bürgermeister, verhindert, weil die gesamte Gemeinde wirtschaftlich vom Status des Kurbades abhängig ist. Stockmanns Kampagne wird zum Desaster, das ihn letztlich vollständig ruiniert und vom großen Aufklärer zum Volksfeind werden lässt.
Florian Fiedler stellt sich in seiner Inszenierung klar auf die Seite des Aufklärers Thomas Stockmann, der von Clemens Dönicke zunächst als naiver Idealist gezeigt wird, dem völlig das Verständnis für die gesellschaftlichen Zusammenhänge fehlt, die ihn bald zermalmen. Selbst sein großer demokratieskeptischer Monolog und die Vision, eine neue Gesellschaft heranzuzüchten, bekommen beim vor allem immer sympathischen Dönicke keine gefährliche Schärfe, sondern wirken mehr wie eine kleine Spinnerei. Dadurch ist er aber auch nie ein ernstzunehmender Gegenspieler für seinen Bruder. Jürgen Sarkiss hat als Peter Stockmann zu wenig echten Widerstand, als dass die oft ätzenden Sätze, die er seinem Bruder entgegenschleudert, wirklich greifen könnten.
Insgesamt wird die Entwicklung der Figuren am Anfang dadurch behindert, dass sehr viel (und sehr gut) gesungen wird. Fiedler versucht, mit den Songs eine Kommentarebene einzuziehen, opfert dafür aber viel an nachvollziehbarer Psychologie, die wohl auch nicht wirklich in seinem Interesse liegt. Als Regisseur ist der Oberhausener Intendant kein großer Stilist. Wenn dieser Abend ein theaterästhetisches Konzept hat, dann ist es das der Disparatheit. Susanne Burkhard spielt Karin Stockmann, die Frau des Badearztes, als wäre sie aus einer völlig anderen Inszenierung übriggebliebene. Bei ihr findet sich ganz klassische Rollengestaltung, Psychologie und Einfühlung. Das ist großartig, aber auch merkwürdig fremd im Gesamtbild. Daneben stehen Hovstad und Billing vom Volksboten. Banafshe Hourmazdi und Emilia Reichenbach spielen sie als Clownsduo, ständig Grimassen schneidend, jeden Satz mit rollenden Augen kommentierend in betont scheußlichen Kostümen mit hochgekrempelten Hosen (Kostüme: Lene Schwind). Später werden sie auch noch eine Pantomimennummer mit lustigen Geräuschen zum Besten geben. Zu ihnen gesellt sich die Druckereibesitzerin Aslaksen, der Lise Wolle gekonnt eine parodistische Schreckschraubigkeit verleiht.
Was Fiedler letztlich wirklich interessiert ist der Kulminationspunkt in der großen Bürgerversammlung. Hier wird es richtig politisch und appellhaft und mit der Einblendung von gefakten Umfrageergebnissen und einer Liste von populistisch ihre Medienmacht missbrauchenden Autoren (Broder, Sarrazin, Poschardt, Pirincci usw.) aktuell. Und dann sollen wir im dunklen Zuschauerraum uns entscheiden, was wir wollen, oder uns zumindest über unsere eigene Rolle bewusst werden. Zuerst ruft der Bürgermeister dazu auf, den Streit zu beenden und mit ihm ins Foyer zu kommen, wo es Sekt, Häppchen und sogar eine Tombola gebe, dann sind plötzlich alle Darsteller weg, das Saallicht ist an und wir sitzen alleingelassen und ziemlich dumm da. Warum, ach warum nur wird dieser interessante Augenblick nicht lange genug ausgekostet, bis er wirklich zu einer Verunsicherung, ob jetzt alles vorbei ist, führen könnte. Viel zu schnell geht es weiter. Ein Schlagzeug wird auf die Bühne gefahren, bunte Diskolichter fahren aus dem Bühnenhimmel herunter und Sarkiss, Wolle, Hourmazdi, Reichenbach geben ein Rockkonzert. Brot und Spiele. Klatsche ich artig im Takt mit, oder lasse ich es lieber? Schließlich sind das doch die Bösen, die da gerade so viel Spaß machen. Das ist der Augenblick, um den es Fiedler von Anfang an mit seiner Inszenierung ging.
Danach wird das Schicksal des Badearztes und seiner Familie abgewickelt. Dönicke hat hier seinen berührendsten Augenblick, aber dann ist der Abend auch schon vorbei.