Da haben wir sie also hinter uns gebracht, die Fußball-EM. Ein ziemlich langweiliges Turnier, auch wenn Island zwischenzeitlich ein bisschen Farbe hineinbrachte. Wirklich herausragende Spiele waren selten und Siege per Elfmeterschießen sind schlichtweg würdelos. Aber immerhin gab es so mal wieder die Möglichkeit die Fähnchen ans Auto zu pinnen und nationale Kondome über die Außenspiegel zu streifen. Und nebenbei konnte diskutiert werden, ob das alles gesunder Party-Patriotismus oder schon hässlicher Nationalismus ist. Dass letzteres zumindest ein großer Teil des schwarzrotgoldenen Ringelpiezes ausmacht, legten massenhafte Internet-Kommentare nach dem Ausscheiden der deutschen Auswahl nahe. Wie sollte es auch anders sein? Ein solches Turnier zu verfolgen, macht nur dann Sinn, wenn man einer Mannschaft seine ganze Sympathie widmet. Wenn aber das Turnier von größtmöglicher Mittelmäßigkeit geprägt ist, bleibt nur die nationale Zuordnung.
Ganz nebenbei haben sich die LeichtathletInnen auch schon wieder ins Stadion begeben und Olympia steht ebenfalls vor der Tür. Für die Pogrammmacher beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen ist der Sommer ein entspannter Job. Für die Zuschauer ist es eine Ansammlung dümmstmöglicher Ablenkung von was auch immer. Eine Folge „Frauentausch“ bietet mehr intelektuelle Reize, als drei Stunden Gerenne, Gehüpfe und Gewerfe. Dem Fußball wird da gerne eine Sonderrolle zugesprochen, weil es da ja um Strategie gehe und eigentlich ein Spiel das ganze Leben repräsentieren könne. Wer das wirklich glaubt, darf jetzt gerne kurz mit seinem Winkelement wedeln.
Es mag ein arg wohlfeiles Argument sein, aber unübersehbar ist, dass diese Überbetonung von Sportwettkämpfen immer noch nach dem römischen „Brot und Spiele“-Prinzip funktioniert. Die Politik steht ja nicht still, während in Frankreich lustlos herumgekickt wird, es nimmt nur niemand mehr so recht wahr. Dass es dabei jedoch um irrsinnig viel Geld geht, ist weitaus wesentlicher. Noch kurz vor der EM erfahren wir, wie sich die Funktionäre die Taschen vollstopfen – egal. Während der EM erfahren wir, was die ARD und ZDF angeblich ihren Altfußballern zahlt. Mittlerweile sind die absurden Summen dementiert. Irgendwie aber auch egal. Dass Olympia alle zwei Jahre eine Stadt in der Welt der Gefahr des Ruins aussetzt – auch egal. Von Katar gar nicht zu reden. Sport ist das goldene Kalb unserer Zeit.
Und das gilt nicht nur für den passiven Sport. Neben den Exzessen der angeblich gesunden Ernährung ist Sport zum finalen Heilsversprechen geworden. Wer nicht regelmäßig Sport betreibt, ist nahe am asozialen Element, weil seine Verweigerungshaltung früher oder später unser geschundenes Gesundheitssystem implodieren lassen wird. Wer nicht perfekt gebodyshaped beim Arzt aufläuft, wird mit Sicherheit zu hören bekommen, dass er mehr Sport treiben soll. Eigentlich meinen die Mediziner damit vermutlich gar nicht wirklich Sport im engeren Sinne. Sie meinen: Bewegung. Zu Fuß gehen, mit dem Fahrrad fahren, die Treppe statt des Aufzugs benutzen, am Wochenende lieber mal Wandern. Für die gesundheitliche Vorbeugung würde das natürlich ausreichen, aber viel einfacher ist es, die Anmeldung in einem Sportstudio zu empfehlen. Und jeder hat diese FreundInnen im Umfeld, die zugeben, dass sie diesen monatlichen Beitrag zur Selbstmotivation bräuchten.
In den Wiener U-Bahnen gab es ein Plakat, das darauf hinwies, dass Stehen in der U-Bahn genauso wirksam wie Pilates sei. Aber erzählen Sie mal Ihren Freunden, dass Sie wieder kräftigen Muskelkater vom Busfahren haben. Sehr uncool. Nein, ohne Mitgliedskarte eines Sportstudios ist das Überleben in vielen sozialen Kontexten kaum noch möglich. Auf schwulen Dating-Apps werden fast so viele Trainingspartner für irgendwelche Sportstudios gesucht wie Sex-Kontakte. Die angebliche Lebensnotwendigkeit von Sport ist nahezu vollständig in unser soziales Bewusstsein implementiert. Das hat entscheidende Vorteile: Sport stellt ruhig. Er verhindert die intellektuelle Beschäftigung – mit was auch immer. Wer sich andauernd um seinen Körper kümmert, hat weniger Gelegenheit sich mit Politik und Gesellschaft auseinander zu setzen, oder gar in irgendeiner Weise aktiv zu werden. Hilfreich ist dabei auch die Verlegung des Sportes aus dem Verein in das Fitnessstudio. Im Fitnessstudio ist die körperliche Ertüchtigung vollständig vom Sozialen gelöst. Nur so ist gewährleistet, dass der Sporttreibende nicht auf dumme Gedanken kommt. Auf dem Laufband ist jeder für sich und als gesellschaftliches Element ruhiggestellt. Das Bedürfnis nach sozialem Erlebnis wird dann beim Public Viewing gestillt.
Die sportliche Betätigung ist heute geprägt von Effizienz und Individualismus. Darin unterscheidet sie sich nicht von vielen anderen Lebensbereichen. Wir fahren mit dem Auto, weil wir glauben, damit schneller ans Ziel zu kommen und auf der Fahrt uns nicht mit Mitmenschen auseinandersetzen müssen. Wir schauen Filme lieber zuhause auf Netflix oder Amazon Prime, weil wir glauben, so immer genau das sehen zu können, was wir wollen, und nicht mit den Reaktionen anderer Menschen in einem Kinosaal konfrontiert werden. Wir bestellen im Internet, weil uns dadurch der Gang in eine belebte Innenstadt erspart wird. Und am liebsten hätten wir alle ein Einfamilienhaus am Stadtrand, wo wir uns nicht mit Nachbarn und deren Lebensweise arrangieren müssen. Solange wir so agieren, müssen wir uns nicht wundern, dass die Spielräume des Sozialen immer mehr verschwinden, wir tun ja alles dafür, dass sie überflüssig erscheinen.
Ich kann nach dem Sport immer besonders klar denken. 🙂
Im Fitnessstudio ist die körperliche ertüchtigung vom "sozialen" gelöst?! Da liegen offensichtlich keine eigenen Erfahrungen vor 😀
Wenn dissonanzreduktion notwendig ist und die eigene Abneigung gegen Sport ideologisch unterfüttert werden muss, ist das imO ein Warnsignal. Ggf. Ist eine weniger stereotypisierende Sichtweise sinnvoller. Ich fühle mich mit Sport jedenfalls physisch und psychisch stabiler. Und das ist es, was mich motiviert.
Der Eine lässt sich lieber von bzw. bei Sport-Veranstaltungen und –Übertragungen unterhalten, der Andere vielleicht lieber in Theater oder Oper. So ist das eben. Was wirklich ‚besser‘ ist entscheidet da ja zum Glück noch immer jeder für sich selber. 😉
@Arnold Voss: "Ich kann nach dem Sport immer besonders klar denken."
Das ist ein inzwischen wissenschaftlich anerkanntes Phänomen, wenn der Fernseher ausgeschaltet wird;-)
http://www.readcube.com/articles/10.1111/jcom.12107?r3_referer=wol&tracking_action=preview_click&show_checkout=1
"Ganz nebenbei haben sich die 'LeichtathletInnen' auch schon wieder ins Stadion begeben und Olympia steht ebenfalls vor der Tür … Für die 'Zuschauer' ist es eine Ansammlung dümmstmöglicher Ablenkung von was auch immer."
Nun gut. Haben Sie zu viel Margerete Stokowski
http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/die-ruhe-waehrend-der-em-2016-gebt-mir-fussball-zurueck-a-1102541.html
oder zu wenig Martin Budich gelesen?
http://www.bo-alternativ.de/2016/07/08/sommer-und-begegnungsfest-in-der-wohlfahrtstrasse/
Aber egal: "Wir schauen Filme lieber zuhause auf Netflix oder Amazon Prime, weil wir glauben, so immer genau das sehen zu können, was wir wollen, und nicht mit den Reaktionen anderer Menschen in einem Kinosaal konfrontiert werden. Wir bestellen im Internet, weil uns dadurch der Gang in eine belebte Innenstadt erspart wird."
Ich kenne eine kleine aber feine Buchhandlung im Bochumer Ehrenfeld, die mir fast alle Bücher am nächsten Tag zur Abholung bereit hält, und bestelle von daher grundsätzlich und niemals bei der Firma mit dem kleinen 'a'!
Und ich habe und will kein "Einfamilienhaus am Stadtrand, wo wir uns nicht mit Nachbarn und deren Lebensweise arrangieren müssen." Ich arrangiere mich mit einer Kulturszene in Bochum, die sich nicht nach einem Kalenderblatt-Feminismus ausrichtet, sondern geile Sachen macht. Gute Fußballspiele schätze ich übrigens auch! Aber wo ist dann das Problem?
Hm, um was geht es in dem Artikel? Um Selbstoptimierung am Beispiel des Sporttreibens und/oder die Individualisierung der/des Einzelnen oder um ein EM-Tunier, das nicht so richtig zünden wollte? Oder um das Korruptionsgebahren innerhalb des Sports? Es wird ein gedankliches Fass nach dem anderen aufgemacht, aber nix wirklich ausgeführt.
Das Schöne an der immer weiter fortschreitenden gesellschaftlichen Indivdiualisierung ist doch, dass man als Individuum – sofern einem die Möglichkeiten gegeben sind – selbst entscheiden kann, wie weit sie gehen soll. 🙂