Putinistische Matrojschkas oder die ausgesessene Generation – Thomas Wendrichs Debütroman „Eine Rose für Putin“. Von unserem Gastautor Daniel Kasselmann.
Der Drehbuchautor Johann Stadt hat sich mit seinem Regisseur M. zur gemeinsamen Schreibklausur in ein Landhaus in der Uckermark zurückgezogen. Hier möchten sie einen historischen Stoff – einen ungeklärten Kindsraub 1985 in Dresden – zur Produktionsreife entwickeln. Je weiter die Arbeit am Drehbuch produktiv voranschreitet, desto mehr gerät die anfangs normale Umgebung aus den Fugen; nächtliche Schüsse aus einem russischen Revolver, eine junge Frau, die sich zwar nicht als das damals geraubte Kind entpuppt, aber nach ihrem Auftritt im russischen TV trotzdem unter mysteriösen Umständen umkommt, zunehmende Russenparanoia der Autoren, ein Kommissar, der gleichermaßen im Damals und Jetzt ermittelt, eigenartige Briefe der Mutter und noch rätselhaftere der Großmutter, sowie eine Postbotin, die an eine Matrjoschka erinnert, nebst einem verrückten Professor, der aus seiner ehemaligen Atomforschung nach der Wende ein Alzheimer-Diagnostik-Verfahren und gute Kontakte zu Wladimir Putin entwickelt hat. Das sind nur einige der immer mysteriöser und surrealer anmutenden Vorfälle und Umstände der Handlung, die Thomas Wendrich angeblich stellvertretend für den eigentlichen Autor Johann Stadt herausgibt, der ihm dafür aus der geschlossenen Psychiatrie nur noch 70 beschriebene Blätter mit seinen unvollendeten Aufzeichnungen zukommen lassen konnte.
Insgesamt gibt es in dem Roman je nach Lesart vier oder fünf Ebenen, zwischen denen die Erzählung sich bewegt: Zum einen sind da die behauptetermaßen historischen Fälle der Kindesentführung von 1985 in Dresden mit den beiden Eltern, die inzwischen alt geworden sind und ihre Tochter auch 20 Jahre nach ihrem Verschwinden immer noch vergeblich suchen. Der zweite Fall behandelt eine Woche später Kindesaussetzung eines gleichaltrigen Kindes, das sich allerdings als nicht das zuvor geraubte herausstellt, sondern russische Wurzeln hatte. Das Autorenteam Johann Stadt und M. in ihrer Schreibklausur bewegen sich scheinbar auf der ersten Fiktionsebene, die sich im Nachwort jedoch als zweite Fiktionsebene herausstellen wird, die darüber hinaus im Handlungsverlauf zunehmend unlogisch, absurd und immer surrealer wird und nebenbei noch einen Metadiskurs der beiden Kreativen mitführt.
Im Gegensatz dazu steht das Drehbuch (Fiktionsebene zwei bzw. drei), welches die beiden nach der historischen Vorlage schreiben. In diesem aktualisieren sie die Geschichten von Kindesraubs und Kindesaussetzung, verknüpfen sie miteinander, lösen sie psychopathologisch auf und liefern ein plausibles Tatmotiv nebst positivem Filmende. Diesen Plot kann man auch zusätzlich als Allegorie auf die europäische Geschichte der Wendezeit lesen. Außerdem wäre da noch die Person des in dem Fall ermittelnden Kommissar Alvart, der sich mühelos zwischen den Zeiten bewegt und zwischen den Fiktionsebenen hin und herspringt und darüber hinaus mit seinem metaphysischen Diskurs eine weitere Dimension eröffnet. Und so ganz nebenbei hat der Drehbuchautor Johann Stadt auch noch eine Vatersuche auf dem Zettel stehen, dessen Lösung ihn unerwartet bis ins Jahr 1971 katapultiert und im Endeffekt scheinbar in die Psychiatrie bringt. Scheinbar aber deswegen, weil es eben auch sein kann, dass er seine eigene psychische Erkrankung nur vortäuscht, um sich vor Putins Häschern in der Klinik in Sicherheit zu bringen. Was ihm so wenig gelingt, wie Dürrenmatts Physikern, wenn es so wäre. Was wir trotz der klaren Meinung des vorgeblichen Herausgebers dazu nicht genau wissen können. Weil das einzige, was in diesem Roman sicher ist, die Tatsache ist, dass alles unsicher ist.
Natürlich gibt es in solch einen Roman viel Spielraum für Interpretationen, so kann man ihn beispielsweise metaliterarisch, politisch, putinistisch, emanzipatorisch und medizinisch lesen. Bei der psychoanalytischen Lesart ist das Feld angefangen von Freuds „Phantasieren des Schriftstellers“ über Schizophrenie, Paranoia, Ödipuskomplex, die Traumdeutung und weitere Bereiche sehr ausdifferenziert. Darin liegt die Poesie dieses Romans, dass er immer wieder neu und anders gelesen werden kann, ohne sich jemals ganz zu verbrauchen. Ebenso ist er ein lustvolles Spiel mit einer breiten Metaphorik: Mit der Medizin als Metapher spielt er von Tschernobyl über die Leukämieerkrankung von Svetas Tochter bis hin zum Atomphysiker Professor Friebe die Korrelation zwischen Atomphysik und Krebserankung durch, um den Professor als Pionier der Alzheimerdiagnostik zur Symbolfigur des Verfechters eines übertrieben verfrühten Vergessen der Geschichte zu machen. Mit freistehenden Badewannen, einem russischen Revolver bis hin zur Post tauchen sehr viele Details doppelt auf und haben eine metaphorische Ebene. Darüber hinaus finden sich literarische Bezüge und Verweise von Dürrenmatts bereits genannten Physikern bis zu König Ödipus.
„Eine Rose für Putin“ beginnt am 7.7.1985 und endet im Oktober 2014 mit dem Nachwort des Herausgebers. Der titelgebende Wladimir Wladimirowitsch Putin ist zu Beginn der Handlung KGB Offizier in Dresden und heute Präsident der Russischen Föderation. Er symbolisiert die inhaltlich-politische Klammer eines Unrechtssystems, dass sich in veränderter Form von damals bis in die Jetztzeit erhalten und erneuert hat. „Es will mir einfach nicht in den Kopf, sagte M, dass in der Zone, wo doch wirklich alles überwacht wurde, einfach so ein Kind ausgetauscht werden konnte.“ Die Spuren führten damals letztlich zum Militärischen Geheimdienst nach Dresden, dessen Leiter Putin zu jener Zeit war. Dort wurden die Spuren verwischt und endeten vor einer Wand des diplomatischen Schweigens. M’s ängstliche Reaktion darauf (Was ist, wenn man mich wegen dieses Filmvorhabens umbringen will?) wird elementarer Bestandteil des wohlbegründeten, paranoiden Handlungsstrangs bis zum Nachwort des Romans. Als der leitende Kommissar Alvart sich seine Gedanken über sein letztliches Scheitern an dem Fall macht, kommt er zu einem interessanten Schluss:
Lange hatte Alvart gedacht, dass dieser allgemeine Ost-West-Quark für seine Startschwierigkeiten verantwortlich war, hatte ferner gehofft, dass sich dieser Konflikt in absehbarer Zeit würde auflösen lassen. Nun waren über zwanzig Jahre vergangen. Geändert hatte sich lediglich der Zeitgeist, nicht aber der tiefe Graben, den die Geschichte hinterlassen hatte. Man beharrte auf seinen Positionen. Zu stur ist die Erinnerung. Zu hartnäckig das Wissen. Man sitzt es einfach nur aus! Es wird auf die nächste, unbelastete Generation gewartet. Alvart hatte plötzlich das vernichtende Gefühl, einer Generation anzugehören, die ausgesessen worden war. (S. 267)
Damit bedenkt Alvart das, was Johann Stadt familiär passiert ist und woran seine Persönlichkeit erkrankt. Es ist ebenfalls das, was den Eltern der vermissten Rose passierte, weswegen sie niemals eine Chance hatten, ihre Tochter auch nach Mauerfall und Auflösung des Eisernen Vorhangs wiederzufinden.
Die nächste unbelastete Generation hat aber ein schlechtes Gedächtnis und schöne Erinnerungen, für sie ist der zarte Schleier der Nostalgie über die Geschehnisse der Vergangenheit gelegt, schreibt a.a.O. der Autor Thomas Brussig. Es ist die Generation, die heute Wladimir Putin anbetet, für den Anschluss der Krim votiert, als prorussische Separatisten in der Ostukraine kämpft, sich in Moskau für Matrjoschkas mit Putins Konterfei begeistert und ihn sich – wie der russische Oligarch Konstantin Malofejew – als nächsten Zaren den wieder einzuführenden Zarentums wünscht.
„Eine Rose für Putin“ ist eine Parabel auf die derzeitigen Ost-West-Verhältnisse, die in ihrem unsichtbaren Changieren zwischen Realität und Surrealität, Wahrheit, Fiktion und Phantasterei sehr oft unklar lässt, auf welcher Ebene man sich gerade genau bewegt. Damit imitiert sie in ihrer literarischen Form die russischen Matrjoschkas, die Schachtelpuppen, bei denen man auch nie genau weiß, welche gerade genau geöffnet ist.
Kommissar Alvart kommt während seines Resümées, einer ausgesessenen Generation anzugehören, zu dem letztendlichen Fazit: „Und er spürte, dass er daran einen entscheidenden Anteil hatte.“ (S. 267)
Thomas Wendrich legt der Reflexionsfigur Alvart damit das persönliche Mitschuldeingeständnis in den Mund, dass jeder Einzelne dieser Generation, der passiv zulässt, dass sie als Ganzes ausgesessen wird, mitschuldig daran ist. Die Erinnerung und das eigene Wissen darüber zu überwinden und die Gräben der Geschichte zuzuschütten, wäre die Alternative, die von jedem Einzelnen verlangen würde, sich für die gemeinsame neue Zukunft zu engagieren und sich gegen die alten, verkrusteten Strukturen zu empören. Warum das wichtig ist, beschreibt der ehemalige französische Widerstandskämpfer Stéphane Hessel in seinem Essay „Empört Euch!“, wie es praktisch funktioniert, erklärt er in im Interview mit Gilles Vanderpooten, das unter dem Titel „Engagiert Euch!“ erschienen ist. Damit wird „Eine Rose für Putin“ auch zum Manifest für eine konstruktive Empörung in der Tradition von Hessel nach Sartre. Für eine gemeinsame europäische Zukunft, in der es hoffentlich irgendwann unmöglich wird, dass Kritiker an autoritären Machtstrukturen – wie im Falle von Michail Chodorkowski oder Pussy Riot, um hier nur zwei prominente Beispiele aus der politischen russischen Realität zu nennen – von diesen willkürlich zum Verstummen gebracht werden.
Thomas Wendrich, geboren 1971 in Dresden, studierte Schauspiel an der HS für Film und Fernsehen in Babelsberg und war bis 1999 Mitglied im Berliner Ensemble. Seit dem Studienabschluss 2001 an der Drehbuch-Akademie der dffb in Berlin lebt und arbeitet er als freischaffender Autor, Regisseur und Schauspieler in Berlin. Mit „Eine Rose für Putin“ hat er ein spannendes, hochkomplexes und unbedingt lesenswertes Romandebüt vorgelegt, dass der zeitgenössischen Ost-West-Literatur eine neue Facette hinzufügt und wichtige Impulse für die Diskussion um das zukünftige Europa und seine Nachbarn gibt. Davon gerne mehr.
Thomas Wendrich: Eine Rose für Putin
Oder Die unvollendeten Aufzeichnungen des Johann Stadt
Roman Berlin Verlag 2015
320 Seiten gebunden mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-8270-1263-0
€ 19,99 (D), € 20,60 (A), sFr 28,90
Der Roman ist vielleicht doch deshalb so verwirrend, weil er auf einem wirren politischen Konzept beruht – oder weil die Autoren sich ins Vage flüchten, um dies vor sich selbst zu verhehlen.
Putin soll gleichzeitig der wiedergeborene Zar sein und ein Repräsentant der antizaristischen kommunistischen Diktatur.
Hingegen sind Putins Gegner von allen historischen Konnexionen unbefleckt – obwohl „Pussy Riot“ ganz offensichtlich in der Tradition des rabiaten kommunistischen Christen- und Kirchenhasses steht, wie er 1920-1940 en vogue war. Und die westlichen Antiputinisten kommen gewöhnlich aus Familien begeisterter Leninisten oder, später, bequemer Mitläufer – ihr „demokratischer Imperialismus“ ist ja auch ein offensichtlicher Abkömmling des Lenin/Trotzli/Stalinschen Imperialismus, der sich ja ebenfalls „demokratisch“ nannte und ebenfalls sehr willkürlich entschied, welche Politiker nun Demokraten waren (wie Ho Chi Minh) und welche Antidemokraten (wie Adenauer, Eisenhower oder de Gaulle).