Putins Vordenker: Alexander Dugin und die integrale Tradition

Dugins Ideengeber: Französischer Traditionalist René Guénon.
Dugins Ideengeber: Französischer Traditionalist René Guénon.

Aktuell hat es den Anschein, als ob eine bereits in den Zwanziger Jahren verfeinerte Idee ihre Wiederauferstehung feiert, die damals bei Rechtsradikalen wie Esoterikern gleichermaßen Anklang fand – und das im Russland des Jahres 2014. Es geht um die Idee der „integralen Tradition“. Von unserem Gastautor Franz Wegener

Im Gefolge des Pariser Okkultisten und Gnostikers Papus (Gérard Encausse, 1865-1916) hat der Metaphysiker René Guénon (1886-1951) in den Zwanziger Jahren die Idee ausgebaut, alle Religionen gingen auf eine Urreligion zurück. Ähnliche Gedanken finden sich bereits in der Renaissance und werden bis heute unter dem Begriff der philosophia perennis geführt. Im 18. Jahrhundert stießen diese Ideen dann bei den Freimaurern auf offene Ohren und dann erreichten sie einen jungen, in Blois geborenen Franzosen aus gut bürgerlich-katholischem Hause: René Guénon. Obwohl er selbst kein Rassist war, inspirierte er in den kommenden Jahren den sizilianischen Baron Julius Evola, der eine Zeit lang Einfluss auf den italienischen Faschismus nahm und zahlreiche Vertreter der konservativen Revolution in Deutschland bis hin zu einzelnen SS-Mitgliedern.

Im Mittelpunkt seiner Lehre steht der Begriff der „Tradition“, der eine einstmals vorhandene Urkultur (häufig wird hier auf die Atlantis oder ein nordisches Volk verwiesen) und deren Urreligion voraussetzt. Nur das esoterische, ausschließlich Eingeweihten, also Initiierten, tradierte, also übertragene Wissen dieser Urreligion ließ Guénon als echtes metaphysisches Wissen gelten. Dem gegenüber ständen kontra-initiatorische Kräfte, die falsche, leere Weisheiten verbreiteten. Hierzu zählte er im weitesten Sinne auch den durch Rom seiner gnostischen Elemente weitgehend beraubten Katholizismus. Als Alternative empfahl der späte Guénon das Wissen der östlichen Religionen; er selbst konvertierte zum Islam und widmete sich bis zu seinem Tod in Kairo den Lehren des Sufismus. Da war es  folgerichtig, dass er gegen frei erfundene Ersatzreligionen wie die Theosophie zu Felde zog: Sie gewährten keinen authentischen Anschluss an die Tradition. Hier wurde seines Erachtens nicht in einem Meister-Schüler-Verhältnis die Echtheit der Übertragung von Mensch zu Mensch durch die Jahrtausende gewährleistet. Entsprechend feindselig zeigte er sich zeitlebens gegenüber dieser Spielart östlichen Wissens – eine Haltung, die ihm vorübergehend Sympathien auch aus dem katholischen Lager einbrachte. Es ging ihm darum, den Westen erneut in eine ihm gemäße traditionelle Zivilisation zu transformieren. Dabei sah er den Westen aktuell nicht etwa an der Spitze der menschlich-kulturellen Evolution, sondern ganz unten. Da eine reale, also spirituelle, Grundlegung des Westens fehle, drohe ein Kollaps mit folgendem Rückfall in die Barbarei und anschließender Auslöschung infolge einer Übernahme durch eine besser fundierte, sprich spirituellere Zivilisation. Guénon: „Wenn jemand verstände, was die moderne Welt wirklich ist, so würde er seinem Leben sofort ein Ende bereiten, da seine Existenz … eine rein negative ist; er lebt ausschließlich durch die Verneinung der traditionellen und übermenschlichen Wahrheit.“ Individualismus wird von Guénon als moderner Aberglauben und Illusion abgetan. Dass er kein Freund der französischen Revolution war, versteht sich hierbei von selbst.

Guénon wird auch heute noch in der Neuen Rechten Frankreichs, der Nouvelle Droite, gerne rezipiert. Hier dient als Schnittstelle Guénons entschiedene Gegnerschaft zur säkularen Moderne, deren (Fehl-) Entwicklung für ihn mit Renaissance und dem Westfälischen Frieden ihren Anfang nahm. Der Titel seines 1927 erschienen Buches „La Crise du monde moderne“ („Die Krise der modernen Welt“) ist hier Programm. Aufgrund eines zyklischen Prozesses – so seine pessimistische Einschätzung – verliere die Menschheit nach und nach das ursprünglich reine, spirituelle Wissen der Urreligion. (Guénon beschäftigte sich auch intensiv mit dem Hinduismus, der uns am degenerierten Ende einer Epoche des Verfalls, dem kali yuga, sieht.) Zudem sei die spirituelle Autorität , nicht länger das die Gesellschaft bindende Prinzip, wie es noch in der Ableitung weltlicher Herrschaft vom Gottesgnadentum der Fall gewesen sei. Chaos sei die Folge. Eine Wiedereinsetzung dieses Prinzips würde sich in den profanen Bereichen von Politik, Gesellschaft, Ökonomie und Kultur bis hin zu einer übernationalen, europäischen Einheit ordnend auswirken. Um dies anzustoßen, bedürfe es der Schaffung einer spirituellen Elite.

Der britische Historiker und Traditionalismus-Experte Mark Sedgwick schreibt erläuternd über die Traditionalisten: „[William Butler] Yeats war selbst kein Traditionalist, aber auf jeden Fall ein Vorläufer … [wenn er schreibt:]  ‚Dinge fallen auseinander, das Zentrum kann nicht halten. / Die Welt ist purer Anarchie ausgesetzt‘ … Traditionalismus war der amüsante Versuch, die göttliche Ordnung wieder einzusetzen, die Antwort feinfühliger und intelligenter Einzelner auf eine ihnen fremde Welt …“

Guénon blickte nach Osten, um authentische Quellen der Initiation zu erschließen. Dabei bezog er sein ganzes Wissen aus der zeitgenössischen Literatur über den Hinduismus. Mit der Entdeckung der Veden wurde die Idee einer gemeinsamen Urreligion im 19. Jahrhundert neu belebt und so war es folgerichtig, dass es sich bei einer der ersten Arbeiten Guénons um eine Einführung in die Lehren des Hinduismus handelte.

Der Titel der ersten von ihm mit herausgegebenen Zeitschrift lautete „La Gnose“ („Die Gnosis“). Hier erschienen die ersten traditionellen Schriften des Autors und anderer Gefolgsleute. Schon zur Zeit der ersten Veröffentlichungen Guénons mangelte es allerdings nicht an mahnenden Stimmen, die den Hintergrund seines Religionsmixes klar benannten. Der katholische Philosoph Jacques Maritain warnte: „Guénons Metaphysik ist radikal unvereinbar mit dem [katholischen] Glauben … Die Medizin, die Guénon zur Heilung [der zeitgenössischen Probleme] vorschlägt, ist schlicht formuliert, eine hinduistische Restauration der antiken Gnosis, Mutter aller Häresien und würde alles nur noch verschlimmern.“

Guénon und Evola stehen bis heute auf der Leseliste der europäischen (und russischen) Neuen Rechten, unter ihnen Alexander Dugin, der manchen als „Vordenker Putins“ (so eine aktuelle „Welt“-Schlagzeile) gilt. Der russische Traditionalist Alexander Dugin betont, dass Guénon mit dem Katholizismus lediglich die westliche Variante des Christentums verworfen habe. Das orthodoxe Christentum Russlands hingegen habe hier nichts im Laufe seiner Geschichte eingebüßt, biete echte Initiation. Zudem kombiniert er den Traditionalismus mit geopolitischen Elementen: Dem Neo-Eurasismus. Hierin sind zwei Blöcke dual angelegt: Der atlantische Block, der maritime Nationen umfasse wie Großbritannien und die USA. Sie seien geprägt durch Freihandel und demokratischen Liberalismus. Dagegen stände der zentral-und osteuropäische Block, der sich eher nach innen wende und dem Zentralismus und der Spiritualität verpflichtet sei. Pate steht hier das Werk des britischen Geographen Sir Halford Mackinder („Democratic Ideals and Reality“, 1919). Er ordnete dem eurasischen Block Russland und Deutschland zu. Dugin benannte laut Sedgwick seinen Verlag Arktogeya, nach der nordischen Atlantis. Der Demokrat Igor Vinogradov, Herausgeber des „Kontinent“, über den russischen Traditionalismus: „Sie versuchen eine lärmende Verschmelzung reaktionärer Utopien, die bereits lange zuvor gescheitert sind. Ein Versuch der Wiederbelebung unter Injektion eines neuen Stoffes – eine Kombination aus Orthodoxie und Islam im Namen eines Kampfes gegen vermeintlich heimtückischen Zionismus, angefaulten westlichen Katholizismus und allen Varianten jüdisch-freimaurerischer Was-auch-immer … Bei all der intellektuellen Unzulänglichkeit sind sie dennoch sehr gefährlich. Die Versuchung eines religiösen Fundamentalismus in unserem Jahrhundert des Unglaubens und allgemeiner spiritueller Beschädigung bleibt attraktiv für all die vielen verzweifelten Menschen, die drohen, in diesem Chaos unterzugehen.“ Der Reiz der integralen Tradition liegt für einen russischen Nationalisten, der sich geopolitisch nicht auf das russische Kernland beschränken möchte, in der (Wieder-) Zusammenführung der beiden angeblich validen und damit im Sinne der Urreligion verwandt-elitären Stränge von russischer Orthodoxie und Islam. Die These von der integralen Tradition wird hier für den Versuch genutzt, eine Klammer zu konstruieren, die fähig scheint, ein Großreich zu vereinen.

Wissenschaftlich standen Guénons Ideen von Anfang an in Zweifel. Seine Dissertation an der Sorbonne wurde 1921 zurückgewiesen und generell steht die ganze Traditonalisten-Zunft unter dem Verdacht, des Öfteren historische Fakten zu ignorieren, wenn sie nicht in das (Wunsch-)Bild der einen Urreligion passen. Oder wie es der französische Kenner der europäischen Geschichte der Esoterik, Antoine Faivre, ausdrückt: Der Traditionalismus „entzeitlicht und enträumlicht seine ontologischen Aussagen … Sein Hang, überall nach Ähnlichkeiten zu suchen in der Hoffnung, letztlich eine unterstellte Einheit [der Religionen] zu finden, ist historisch-kritischer Recherche abträglich …

Guénon stand zudem nie in direktem Kontakt zu den Religionen, um die herum er sein Gedankengebäude errichtete. Er kannte sie nur aus zweiter Hand: Weder war er je in Indien, um den Hinduismus zu studieren, noch pflegte er während seiner Zeit in Ägypten nennenswert Kontakte zu lebenden islamischen Gelehrten. Und selbst die von ihm zugrunde gelegten schriftlichen Quellen, erwiesen sich oft als Fälschungen oder gelten bis heute als fragwürdig.

Generell darf bezweifelt werden, dass sich die Uhren im Internet-Zeitalter zurückdrehen lassen. Die Moderne ist in den Köpfen und sie da raus zu kriegen und durch ein geschlossenes, funktionierendes  Glaubensgebäude zu ersetzen, würde zunächst totalitäre Maßnahmen gegen weite Teile der eigenen Bevölkerung bedingen.

Alle Zitatbelege in: Wegener, Franz: Das atlantidische Weltbild und die integrale Tradition, Gladbeck, 3. Auflage 2014. http://www.franz-wegener.de/das-atlantidische-weltbild/

Ein aktueller Artikel über Putin und Alexander Dugin: Smirnova, Julia, Artikel: „Putins Vordenker, ein rechtsradikaler Guru“, zurzeit www.welt.de/politik/ausland/article130011929

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Rainer Möller
Rainer Möller
10 Jahre zuvor

Traditionalismus ist die normale Kritik und Opposition gegenüber der Modernisierung, oft im Namen individuellen Glücksverlangens.

Wegeners Buch behandelt lediglich eine exzentrische Spielart des Traditionalismus.

Dugin ist nicht Putins „Vordenker“. Putin nimmt eine Zwischenstellung zwischen Tradition und Moderne ein, ähnlich wie z.B. Adenauer und de Gaulle (die zu ihrer Zeit ja auch als „Faschisten“ und „Diktatoren“ verschrieen wurden). Putins Methoden entsprechen nicht immer den Idealen einer westlichen Demokratie, aber sie bewegen sich im Rahmen dessen, was auch von westlichen Politikern im Namen ihrer „realen“ Demokratie praktiziert wird. Ein qualitativer oder kategorischer Unterschied zwischen West und Ost wird nur von Lügner konstruiert, denen es um die Vorbereitung eines großen Krieges geht.

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