Die Lage der Liga kurz vor dem dritten Spieltag: Dortmund fehlt ein echter Chef und Darmstadt taumelt. Dazu Einsichten über Spaniens Fußball nach dem Kuss-Skandal, Gewalt im Amateurfußball und der schwierige Saisonstart von Schalke 04. Wie immer lehnen sich Thommy Junga und Peter Hesse weit aus dem Fenster.
Peter Hesse: Wer Borussia Dortmund gegen den VfL Bochum sah, konnte innerlich nur mit dem Kopf schütteln. Dem Terzic-Team fehlte es an Esprit, an Biss, an spielerischen Ideen, an Tempo und an individueller Klasse. Die Spielweise des Vizemeisters fühlte sich an, als hätte Jürgen Röber Waldhof Mannheim in den 1980er Jahren trainert. Wie kann man diesen Kaputtnik-Fußball schnell abstellen – ein Füllkrug-Transfer wird da nicht reichen, oder?
Thommy Junga: Das Experiment – nur mit Co-Trainern in die Saison zu gehen – wird bei bei Dortmund weiter konsequent durchgezogen. Mir fehlt es da einfach an Führung neben, aber auch vor allem auf dem Platz. In der Pressekonferenz nach dem Bochum-Spiel wurde viel über Abstände, Dreiecke und Flügeltiefe gesprochen, aber es wurde rein nichts über das eigentliche Problem dieser Mannschaft gesagt: es fehlt dieser Truppe an Struktur und Hierarchie. Diese Mannschaft mag Perspektive haben, sofern man nicht immer seine Besten wieder abgibt, aber wenn die erfahrenen Haudegen auf der Bank sitzen, verteilt sich die Verantwortung auf die Schultern von Neuzugängen und Formschwankern.
Diese ›Rasselbande-In-Gelb-Story‹ nutzt sich ab. Schlimmer noch: sie bietet den Beteiligten ohne Ende Ausreden. Terzic muss jetzt stabilisieren, die beste Elf muss spielen. Aber nicht unbedingt die besten Elf.
Peter Hesse: Nach dem Kuss-Skandal bei der Frauen-WM hat Fußball-Verbandchef Luis Rubiales wohl auch den letzten Rückhalt im spanischen Fußball verloren. Am Montagabend forderten die Chefs der Regionalverbände den Präsidenten der nationalen Föderation zum Rücktritt aufgefordert. Ist das ein „gerechtes“ Urteil oder ersaufen wir gerade schon wieder an medialer Hysterie – wie an anderer Stelle im Fall Till Lindemann?
Thommy Junga: Ich hab ja mal ein Jahr in Spanien gelebt und kann daher die dortige Mentalität vielleicht ein kleines bisschen besser einschätzen als so manche Journalie, die gerade komplett freidreht. Das ist schon ein tiefes Schürfen im Sommerloch. Gefunden wurde ein großes Politikum mit viel Potential für Haltungs-Bekenntnisse. Natürlich ist Rubiales Verhalten verurteilungswürdig und unzeitgemäß, aber es wird nun auch hier nur wieder ein Exemple statuiert, auf das sich alle einigen können – und damit der Rest weiterläuft. Genau wie im Fall Lindemann. Das wird aber keinen Ladenbesitzer in Spanien davon abhalten, meine Frau mit ‚Hola guapa‘ zu begrüßen. Ich will das Sexismus- und Machtproblem keineswegs kleinereden, aber über diese Geschichte wird das Problem nicht gelöst werden. Rubiales Mutter ist ja zur Rehabilitierung ihres Sohnes in den Hungerstreik getreten – vielleicht hätte es auch eine Nummer kleiner getan. Für so etwas gibt es Gerichte: Hat er sich strafbar verhalten, dann soll das auch Konsequenzen haben. Completo!
Peter Hesse: Die Gewalt im Amateurfußball hatte im Mai einen traurigen Höhepunkt gefunden, als es bei einem Turnier in Frankfurt zu einer Schlägerei gekommen war, bei der ein Jugendlicher aus Berlin schwer verletzt wurde. Der 15-Jährige starb anschließend im Krankenhaus. Nun hat der DFB neue Zahlen im Amateurfußball präsentiert: Es gab 3907 Gewalt-Akte in der Saison 2022/23, dazu 2679 Diskriminierungs-Fälle. Zum Spielabbruch wegen Gewalt- oder Diskriminierungsvorfällen kam es demnach 961 Mal. Das ist etwas häufiger als in der vorherigen Saison. Es ist schrecklich und beschämend – was unternimmt man dagegen?
Thommy Junga: Ich kannte im Jugendbereich mal einen Trainer, der jeden Schiedsrichter konsequent als Clown beschimpft hat. Da fängt es bereits an, man muss FairPlay dann auch schon vorleben. Längere Sperren bringen eher nichts, die verfestigen dann eher Feindbilder und schaffen weitere Rivalitäten. Menschen lassen sich zu derartigen Übergriffen meist hinreißen, wenn sie sich inhaltlich und persönlich nicht verbunden fühlen. Ich würde daher stärker auf den sozialen Umgang setzen, Teile der Mannschaften stärker in gemeinsame Aktivitäten einbinden. Auch für den Ligaalltag könnte ich mir regionale Stützpunkt-Veranstaltungen vorstellen. Wer da zusammen grillt haut sich vermutlich später eher nicht auf‘s Maul. Warum trainieren kleinere Gruppen nicht gemeinsam? Da gibt es viele, weitere Aspekte.
Peter Hesse: Land unter bei den Lilien. Angeblich soll die stärkste Waffe im Kampf um den Klassenverbleib in der Bundesliga soll die Team-Geschlossenheit innerhalb von Darmstadt 98 sein. Mit eindringlichem Appell spricht Trainer Torsten Lieberknecht von einem „wahnsinnigen Zusammenhalt“, den sie für die ganze Saison bräuchten. Nach nur zwei Spieltagen mit null Punkten und nur einem erzielten Treffer sieht es beim Aufsteiger nach schnellem Abstieg aus. Wie könnten die Darmstädter das Ruder herum reißen?
Thommy Junga: Darmstadt hatte mit Eintracht Frankfurt und Union Berlin auch ein wirklich prominentes Auftaktprogramm. Ich würde deshalb auch Torsten Lieberknecht nicht widersprechen wollen. Es wird eine der Hauptaufgaben sein, dass alle im Verein die Kräfte Richtung Klassenerhalt bündeln. Es kann manchmal eine erfolgsversprechende Methode sein wenig neue Spieler nach dem Aufstieg dazu zu holen, um den Spirit der Aufstiegssaison zu konservieren, es bleibt am Ende aber immer wieder auch eine Qualitätsfrage und diese muss man hier objektiv schon deutlich stellen. Tendenziell geht es natürlich für Darmstadt genau wie für den anderen Aufsteiger Heidenheim von Spieltag eins an um nichts anderes als den Verbleib in Liga eins.
Peter Hesse: Beim FC Schalke 04 entbrennt nach dem desaströsen Saisonstart in der 2. Bundesliga einmal mehr eine Trainer-Diskussion. Aus der Mannschaft mehren sich Vorwürfe gegen den Chefcoach, die schwer wiegen. Teile des Teams sehen den Thomas Reis inzwischen sehr kritisch. Demnach sollen sich die Schalker Profis inhaltsvollere Analysen im taktischen Bereich von ihrem Übungsleiter wünschen. Schon klar: Wenn der Erfolg nicht da ist, entwickelt sich jeder Trainer-Job zum Schleudersitz. Nur: wie geht es mit Reis und Schalke weiter?
Thommy Junga: Das ist schon starker Tobak – aber klar ist auch: jeder im Verein hat dich den Start anders vorgestellt. Den Posten des Kapitäns des Schalker Himmelfahrt-Kommandos aus der letzten Spielzeit musste er zu Saisonbeginn gegen den Auftrag ein Spitzenteam zu formen, tauschen. Aus einem Wiederaufstiegs-Kandidaten Schalke ist zumindest tabellarisch, aber zunächst ein Verfolger geworden. Der Verein reagiert, legt derzeit personell nach, aber die fußballerischen Grundprobleme bleiben: die Abstände stimmen nicht, S04 wird seinen eigenen Ansprüchen im Ballbesitzspiel nicht gerecht. Oft ist der Ballführende die ärmste Sau und heraus kommen dann meist schmerzhafte Ballverluste im letzten Drittel gegen konterfreudige Gegner. Ich stelle jetzt mal die These in den Raum, dass das alles vermeidbare und vor allem korrigierbare Abläufe sind. Wenn die Spielidee in dieser Hinsicht weiter so porös bleibt, dann kann man sicher seine Schlüsse ziehen und sieht dann die Kritik aus der Kabine auch etwas differenzierter.