Rache, Liebe, Hoffnung? – Zaimoglus Roman „Ruß“ ist auch ein Schatten-Spiel, das Motiven und Miseren in Duisburg zum Verwechseln ähnlich sieht

feridun zaimoglu & hubert winkels, foto: jörg briese

Eine Lese-, Lesungs- und Lebenserfahrung/
Im Rahmen des „Schlimm City“-Projekts erklärte Feridun Zaimoglu bei der Mülheimer Buchpremiere seines neuen Romans dem Ruhrgebiet offen seine Liebe. Im launig-klugen Gespräch mit Hubert Winkels vom Deutschlandfunk pries er die Würde und den Stolz einfacher Leute, die trotz sozialer Erosion in der „Discount-Diaspora“ an der Ruhr ihr Leben leben: „Ich mag diese schönen Menschen.“ 150 Gäste freute das und gebannt lauschten sie Zaimoglus Ausführungen zum Entstehen von „Ruß“. Nur wenige fragten sich, ob die profunden Revier-Kenntnisse des Autors auch eine angemessene Übersetzung ins Literarische gefunden hätten. Dass Zaimoglus romantische Zuneigung fürs Ruhrgebiet in „Ruß“ vor allem als Bewunderung für ein Museum der Bilder einer untergehenden Welt aufscheint, macht die Lektüre inspirierend und ärgerlich zugleich.

Der Begriff „Kiosk“ für einen luftigen Pavillon, ein Gartenhäuschen in einer Park- oder Palastanlage, ist aus dem Persischen übers Türkische, Französische auch in die deutsche Sprache eingewandert. Und im Ruhrgebiet mit seiner Schwerindustrie konnte er gar nicht anders, als sich an die kleinen Verhältnisse kleiner Leute verschämt zu assimilieren und so zum Synonym für Trinkhalle, Seltersbude, Büdchen zu werden. Am Kiosk zischten sich die Stahl- und Bergarbeiter vor oder nach der Schicht ihr Bierchen, hier konnte man etwas „auf Kucki kaufen“, also anschreiben lassen, wenn der Lohn nicht reichte, und für die lärmenden Gören gab’s sedierende Lakritze, Bömmsken und Eis.

Kiosk: Vom Lust- zum literarischen Luftschloss
Der Kulturgeschichte des Kiosks und damit auch dem Budenzauber im Ruhrgebiet wurden schon Doktorarbeiten und quasi-ethnologische Ausstellungen gewidmet wie die der Herner Fotografin Brigitte Kraemer. Die Ruhr-Revuen mit Kabarettisten wie Herbert Knebel oder den Missfits verklärten den Ort heimlichen Trinkens und unheimlichen Palavers gar zur Heimat alltäglicher Anarchie und subversiven Witzes.
Auch in der Literatur war die Bude schon des Öfteren jenes Stadtteil-Schlösschen, darin oder davor sich Schicksale kreuzen. In Ralf Theniors mit schwarzem Humor erzähltem Roman „Ja, mach nur einen Plan“ (1988) treffen sich Verlierer, Sonderlinge, Sanierer und Säufer natürlich an der Trinkhalle. Auch in Werner Streletz’ Roman „Kiosk kaputt“ (2008) kommen Nostalgie oder Zynismus gar nicht erst auf – zu tief, zu genau und mitfühlend-distanziert sind die Blicke in die Abgründe der Figuren, die Blicke auf eine von Ausbeutung gezeichnete Stadt-Landschaft. Ruhrgebietsidiom und Alltagssprache sind nur zwei der Facetten, die Streletz gekonnt einsetzt, um seinen Erzählstrom ins Fließen oder Stocken geraten zu lassen, um seine Figuren als unverwechselbare Typen zur Sprache zu bringen. Was da zunächst als Sprödigkeit, fast Umständlichkeit des Erzähltons erscheint, verweist im Verlauf des Romans immer eindrücklicher auf die Brüchigkeit der Verhältnisse und Figuren selbst.

„Schlimm City“ nicht nur in Mülheim
Seit langem schon hat der Kieler Feridun Zaimoglu, deutscher Autor mit türkischen Wurzeln, das Ruhrgebiet für sich entdeckt und wollte darüber schreiben. Gerüchten zufolge soll er sich in den letzten Jahren auch der Liebe wegen oft im Ruhrgebiet aufgehalten, Duisburg dabei als Basislager genutzt und von hier aus viele seiner Exkursionen gestartet haben. Aber natürlich war der Autor so wunderbarer Romane wie „Leyla“, „Liebesbrand“ oder „Hinterland“ auch zuvor schon oft zu Gast im Revier; etwa bei den Mülheimer „Stücke“-Tagen oder Projekten des Ringlokschuppens, mit dem zusammen das Literaturbüro Ruhr die Buchpremiere des „Ruß“-Romans am 14.9. auf eine Bühne des leerstehenden Kaufhofs („Leeranstalt“) in der Mülheimer City brachte.

kiosk, neumarkt/ruhrort foto:herholz

Ruß und Asche
In „Ruß“ fristet Zaimoglus Antiheld Renz (eigentlich Lorenz), ein ausgebildeter Arzt, im Duisburg-Ruhrorter Büdchen seines Schwiegervaters Eckart sein freudloses Dasein, seit seine Frau Stella bei einem Einbruch erschlagen wurde, wohl auch missbraucht, heißt es. Renz kam zu spät, sah noch den (einen?) Täter fliehen, erhielt einen Schlag auf den Kopf. So aus Bahn und Routine geworfen, wird er zum Säufer, gibt den Arztberuf auf, verkriecht sich, zeigt alle Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung, ohne sich je einer Therapie zu unterziehen. Irgendwo im Roman heißt es von Renz, er sei im Büdchen ebenso gefangen wie der Mörder seiner Frau in einer Essener Justizvollzugsanstalt. „Der Mörder in seiner Zelle. Renz in seiner Zelle.“ Der auf Kiosk- und Wohnungsgröße geschrumpfte Kosmos, den Renz mit diskretem Burnout bewohnt, ist aus den Fugen geraten, ständig den Nachbeben des traumatischen Urknalls der Ermordung seiner Frau ausgeliefert. Wenn sich Renz selbst in dieser Kleinst-Welt noch verliert, wird er zum Menschenreste-Fresser, öffnet die Urne mit der Asche seiner Frau, reibt sich – fast wie ein Süchtiger – etwas davon auf die Zunge. Letzte Communio mit seiner toten Frau, die Renz geliebt hat, obwohl – und auch das erzählt der Roman – der Ehealltag beide längst eingeholt, seine Frau sich als „entliebt“ deklariert hatte.
Erst als der Schwiegervater Renz vorschlägt, gemeinsam dessen Trinkhalle am Ruhrorter Neumarkt zu betreiben, lässt der Betäubte das Saufen und wird zur verlorenen Seele auf Bewährung, ein Untoter, nicht wirklich lebendig, nicht wirklich tot. „Das ist kein gesunder Mensch“, kommentiert Zaimoglu in Mülheim lakonisch seine Figur. Nur vor dem Hintergrund seines erlittenen Traumas folgt auch der Leser manchmal kopfschüttelnd dem, was Renz im Roman eher mit sich geschehen lässt, als dass er es zielgerichtet handelnd beeinflussen würde.

Pakt, Fäuste
Solche Details Renzscher Befindlichkeit enthüllt der Roman dem Leser nach und nach. Die äußere Handlung kommt dagegen schnell in Fahrt, als „Büdchenmann“ Renz von Heinrich Voss, einer Art lokalem Alt- und Ober-Ganoven, ein Deal vorgeschlagen wird. Wenn er, Renz, sich um den andauernd aus dem Ruder laufenden Halbbruder Josef dieses Heinrich Voss kümmere, dann werde man sich sehr gründlich des Mörders seiner Frau annehmen, der just in diesen Tagen aus dem Gefängnis entlassen werde. „Du heilst ihn, wir heilen dich.“ Renz willigt nicht ein, entzieht sich aber auch Voss nicht oder dessen Schläger Karl, den er als Leibwächter und Überwacher zur Seite gestellt bekommt. Der Roman wird von da an auch zum Roadmovie. Zaimoglu lässt Karl und Renz zunächst nach Polen fahren, back to the roots vieler Ruhrgebietszuwanderer. Den Gemütskranken, den „Irren“, spüren Karl und Renz in einem Hotel und einem Sexclub Warschaus auf und holen ihn heim.

Heiligenblut: Showdown
Zurück in Duisburg verwickelt sich der tragikomische Heilige namens Renz in eine Liebesgeschichte mit der lebensklugen schönen Kellnerin Marja, die bei den Vietnamesinnen eines Bochumer Nagelstudios auch ihr Zen in der Kunst des Nagelbemalens vertieft. Und alles endet für Renz oder fängt vielleicht neu an mit einer zweiten Reise, diesmal durchs Österreichische. Nach Stationen in Salzburg und Umgebung kratzt Renz gegen Ende der Tour bei einem Besuch des Obersalzbergs an deutschen Wurzeln, des Führers Berghof liegt nicht fern. Der Mörder Stellas soll schließlich bei einem Showdown auf den Kirchentreppen der Kärntner Gemeinde Heiligenblut erledigt werden. Kann es ausgerechnet hier, wo einer kruden Legende nach in der Wallfahrtskirche des Hl. Vinzenz eine Blutreliquie Christi lagert, endlich auch Erlösung für Renz geben?

foto: jörg briese

Vexierbilder, Kipp-Figuren, Lügengeschichten
Mit dieser „Überdeterminiertheit des Helden“ (Winkels), mit dieser Über-Komplexität, man kann aber auch sagen Unentschiedenheit des Erzählens, beginnen auch Dilemmata der Lektüre. Was ist dieser Roman? Krimi und Roadmovie? Eine Geschichte über das Ruhrgebiet und seine Menschen? Eine Liebesgeschichte? Oder gar der erzählte Traum der Hauptfigur Renz? Jedenfalls erzählt „Ruß“ nicht nur viele (Tag-)Träume und Fieberfantasien Renzens, gelegentlich kann man sich dem Eindruck nicht entziehen, dass inneres Erleben wie äußere Handlung tatsächlich nur als Traum der Figur Renz stattfinden und damit der Roman immer neu die Frage danach stellt, was denn nun als reales Geschehen im Roman gelten könne, was als surreales. In Sachen eigener Schreib-Entwicklung stellt Zaimoglu in Mülheim fest: „Bis ich begriffen habe, dass ich mich von der Realität erzählend jederzeit lösen darf, das hat Jahre, Romane gedauert.“
Der Leser von „Ruß“ sollte sich also einer eindeutig erzählten fiktiven Wirklichkeit in „Ruß“ nicht allzu sicher sein. So changieren in der Leserwahrnehmung des Textes nicht nur einige Kipp-Figuren, auch verschiedene Versionen des Mordes an Renz‘ Ehefrau Stella werden angeboten und bis zum Schluss bleibt unklar, ob die zuletzt präsentierte Version wohl als die ‚richtige’ oder ‚wahre’ gelten darf oder ob da nur immer wieder Figuren über andere Figuren Lügengeschichten erzählen.
Wie auch immer: Solche Verweigerung von Eindeutigkeit im Text muss kein Nachteil sein, im Gegenteil, gut gemachte kohärente Vieldeutigkeit könnte vielleicht erst die Leserfantasie beflügeln und die Qualität des Romans begründen. Wer weiß.

Roman über Duisburg, übers Ruhrgebiet?
Darf man „Ruß“ als Roman über Duisburg, übers Ruhrgebiet lesen (um den abstrusen Begriff „Ruhrgebietsliteratur“ zu vermeiden) und nicht allein als eine exemplarische Geschichte über die Verstrickungen von Rache und Liebe, die fast überall spielen könnte? Dass „Ruß“ durchaus auch ein „Ruhrpott“-Roman sein soll und will, das legen nicht nur der Klappentext und die Verlagswerbung nahe. Auch Zaimoglu selbst betont immer wieder, dass „Ruß“ ein Roman übers Ruhrgebiet und seine Menschen sei, dass er Duisburg als den zentralen Spielort bewusst ausgewählt habe. „ … weil ich keine völlig sanierte Stadt haben wollte“, so Zaimoglu im WAZ-Interview, nur hier in Duisburg habe er das richtige Verhältnis von Altem und Neuem gefunden, Duisburg sei weder nur lackiert noch steckengeblieben wie einige der Nachbarstädte.
Als in Duisburg geborener Leser beginnt man also zu hoffen, dass Zaimoglu einen vielschichtigen Roman übers Ruhrgebiet liefern könnte, nicht nur eine weitere Geschichte, die bloß zufällig auch im Revier spielt. Gesetzt den Fall, dass „Ruß“ nicht den Fehler vieler „Ruhrgebietsromane“ wiederholt, nämlich den, dem Gegenstand „Stadtlandschaft“ seine Widersprüche zu rauben, könnte der Roman mit seiner Handlungs- und Bedeutungsfülle, mit den großen Themen Rache und Liebe, mit seiner den Menschen abgelauschten und doch neu erfundenen Sprache auch meilenweit über viele heimattümelnde Ruhr-Texte hinausweisen oder über die vielen Local Crimes, die das Revier bloß als Kulisse für Gangster und Gräuel missbrauchen.
Vielleicht lässt sich „Ruß“ als Bildnis der Ruhrstadt lesen und zugleich als große Literatur? Was Romane zu Weltliteratur macht, hat Norbert Wehr einmal gesagt, „ist die besondere Wahrnehmung, die besondere Sprachbehandlung. Will sagen: Alle Stoffe, auch die regionalsten, die provinziellsten, auch die marginalsten, können zu großer Literatur werden.“ Sie können, sie müssen aber nicht. So auch „Ruß“, falls der Roman sich zuletzt doch nur als ein Vorwand erweist, um eine Ruhr-Fabel zu erzählen, die tatsächlich auch in jeder anderen europäischen Stadtregion spielen könnte, in deren aufgelassener Industrielandschaft kaum ganz andere menschliche Ruinen hausen dürften als im Ruhrgebiet.
„Was er sieht, ist nicht Duisburg, ist Kulisse“: Gilt für den Autor Zaimoglu vielleicht sogar selbst, was er mit diesen Worten während des Mülheimer Gesprächs für seinen Protagonisten Renz behauptet hatte?

„… das Grau des Himmels und das Grau der Seele, irgendwann glich man sich an.“
Als „Ruß-Land“ wurde das Ruhrgebiet einst verspottet, und mit Ruß schwärzt Hobbymaler Renz nicht nur Teile seiner Ikonen ein, denen er die Alltagsgesichter seiner Kioskgemeinde verpasst. „Ruß wischen wir weg. Den schwarzen Staub im Gesicht waschen wir weg“, heißt es auch in einem der Einschübe, die den erzählenden Text immer wieder fast chorisch, mal kommentierend, mal als Bewusstseinsstrom oder Gegengesang eines kollektiven Ruhrgebiets-Wir unterbrechen und vertiefen. Wer da so lyrisch eindringlich spricht, das weiß letztlich niemand.
Obwohl Zaimoglu seinen Text topographisch und mental sehr genau verortet hat, mit Spielorten in Duisburg und Bochum etwa, obwohl man also manches aus den Kulissen und in den Einschüben deutlich wiedererkennt, verengt Zaimoglu mit Figuren-Perspektiven und -konstellationen auch das Panorama, die Aussichten für den Leser. Vieles kommt im Roman über die Schilderung einer Art Ruhrgebiets- und Männer-Folklore, stereotypisierter Tristesse mit Proletkult-Anteilen nicht hinaus. „Ich sag dir trotzdem was: Ein Schwein erkennt man hier ganz schnell. (…) Und dann zeigt man dem Schwein, wo es langgeht. Die Arbeiterkeule. Sieh dich also vor“, heißt es im Roman. Und Zaimoglu selbst wird im Magazin ‚trailer’ mit dem Satz zitiert: „Ich möchte mich mit meiner Literatur dort aufhalten, wo es gärt. Das nette Mädchen aus Berlin-Mitte, das abends auf seinem Balkon von einer leichten Melancholie befallen wird, interessiert mich nicht. Ich schreibe über kernige Männer, echte Menschen mit echten Geschichten.“
Vielleicht ist Zaimoglu dieser Anspruch auf Kernigkeit und echte Geschichten zur Schreibfalle geworden. Viele Figuren Zaimoglus, auch und gerade wenn und weil es sie noch heute geben wird, sind nur noch Schatten ihrer selbst, Pappkameraden aus Bühnenbildern eines Potts der 60er, frühen 70er-Jahre. Allein die Figuren Marja, Karl, Stella, Renz gewinnen dagegen mehr Kontur: eine couragierte Jobberin, ein Krimineller, zwei Akademiker. Renz, der heruntergekommene Doktor, wird scharf gezeichnet, als in Duisburg geborener Arbeitersohn geschildert. Trotz seiner Karriere bleibt er Außenseiter und nicht nur sich selbst fremd: „Bildung hat ihn nicht zum Bürger gemacht.“ Aber dass der Erzähler Zaimoglu Renzens Unbehagen an der eigenen Herkunft und Biografie auch als erstarrtes Ressentiment gegen alles Neue, Fremde aufführt, lässt nicht nur diese Figur sich festfressen zwischen der Ablehnung von Lifestyle-Attrappen, zelebrierter Hochkultur, „Falschheit“, „Kokolores“ (Zaimoglu) und der pathetischen Beschwörung des Gegenteils, der „Wärme“ und dem „Lob der Riten der kleinen Leute“ (Zaimoglu).

Einen Steinwurf entfernt: Ruhrorter Buddenbrooks
Natürlich muss und kann kein einzelner Roman die Komplexität einer Stadt wie Duisburg oder eines Stadtteils wie Ruhrort um 2009/10 herum auch nur annähernd erfassen, schon gar nicht als literaturkritisch verordneter Muster-Großstadtroman. Natürlich darf einem Autor niemand vorschreiben, welchen Ausschnitt der Welt er zu wählen hat, um kleine Fluchten aus kleinen Welten noch möglich erscheinen zu lassen. Aber man darf sich als Leser schon fragen, ob die Wahl eines Ausschnittes und seine Übersetzung ins Ästhetische eines literarischen Textes als gelungen gelten dürfen.
Natürlich kann man Duisburg-Ruhrort genau mit der grauen Palette malen, mit der das Zaimoglu tut. Da hat er Vorläufer en masse in Film und Literatur. In Ruhrort hat der erste Schimanski-Krimi gespielt, „Zum Anker“ hieß einst die Ruhrorter Kneipe, die zu Schimmis Zweitwohnung wurde (heute führen dort zwei beherzte Frauen das Café Kaldi und übrigens auch jenen Kiosk am Neumarkt, den im Roman Renz und sein Schwiegervater mit Mühe offen halten). Doch direkt neben dem Ruhrorter Neumarkt, wenige Meter entfernt vom Kiosk, liegt auch ein Stadtteil im Stadtteil, die Gebäude des traditionsreichen Handelshauses Haniel. Wer einmal das Haniel-Museum besucht hat, weiß, dass man von dort aus auch die Familiensaga einer Kaufmanns- und Industriellenfamilie hätte schreiben können, eine Art Duisburger „Buddenbrooks“ möglicherweise, Stoff ohne Ende, auch für eine menschenfreundliche Geschichte von Emanzipationswillen und Selbstbewusstsein über jedes beschränkte Personal hinaus. „Vielleicht ist der Erfolg der Messieurs Haniel darauf zurückzuführen, dass sie sich auf ihre Fähigkeiten und ihren Gewerbefleiß verlassen haben, statt nach der Protektion und dem Kapital von Königen oder Regierungen zu streben.“, zitiert die Haniel Homepage einen Satz des britischen Ökonomen Thomas C. Banfield von 1848.

Falsche Alternative: Beschwörung des Untergehenden – Verkennen des Wandels
Ich weiß, ich weiß: Über Haniel wollte Zaimoglu mit „Ruß“ eben nicht schreiben, sondern über ganz andere „vernarbte Lebensgeschichten“ (Winkels). So darf, soll und muss es auch sein. Verbrieftes Autoren-Recht. Dem Romancier vorzuwerfen, dass er seinen und damit keinen anderen Roman geschrieben habe, das ist lächerlich. Aber, dass sein Figurenensemble so gar nichts über sein Viertel, über Duisburg, übers Ruhrgebiet weiß, dass es auf behauptete Tristesse meist nur mit Tristesse antwortet, ist das nun vom Autor bewusst gestaltete Beschränktheit der Figuren, also im Romankontext gezielt ausgestelltes Ressentiment oder doch auch freiwillige Selbstbeschränkung in den Perspektiven des Autors? Dass auch die chorischen Passagen des Romans zwar über den Tellerrand der Figuren schauen, aber archaische Arbeitswelt, Männer-Geschichten und Figuren-Biografien nur trotzig-eindringlich aufrufen, oft lyrisch gekonnt überhöhen, ohne sie verstehen zu helfen, lässt den Leser als Stimmenhörenden meist ratlos zurück.
Mich als Leser, das gebe ich zu, haben einige Duisburg-Bilder und Figurenporträts Zaimoglus verärgert  (und dies kann doch meiner Bewunderung für den Autor keinen Abbruch tun). Zaimoglus Ruhrort gibt es als realen und fiktiven Ort eben nicht nur in Duisburg. Und wo es ihn in Duisburg gibt, existiert er nur als Teil einer ganzen Reihe Duisburger, Ruhrorter Parallelgesellschaften. „Hörense auf, rief der Alte, wenn ich sterb, werd ich wissen, dass Duisburg vor mir verreckt is“, lässt Zaimoglu eine Figur sagen und Renz selbst ist der nahe neugestaltete Duisburger Innenhafen ein Beleg dafür, dass die Stadt nicht mehr zu retten ist: „Der Innenhafen – das is nich Duisburg.“ Oder auch: „… das war nicht seine Stadt, hier hatte man Kulissen aufgestellt, Kulissen aus Chrom und Glas, ein Paradies für junge Idioten, die nur nah am Wasser sitzen wollten, um hineinzuspucken. Totengräber zwischen dem Marientor und der Berliner Brücke, sie feierten doch nur Feste an den Gräbern.“

Globales Dorf, Idioten worldwide & viel ausgeblendetes Duisburg
Ja doch, auch mir sind diese Idioten im Innenhafen schon begegnet, aber nicht nur sie allein und nicht nur dort. Alles in allem ist auch der Innenhafen Teil eines neuen, widersprüchlichen Duisburgs. Und eben nicht sein schlechtester Teil. Am Innenhafen öffnet sich – wie neuerdings auch anderswo – städtisches Leben endlich deutlich sichtbar zum Wasser, von dem es vorher überall durch die Fabriken an der Rheinschiene abgeschnitten war. Es gibt nach bleierner Zeit endlich Luft zum Atmen – auch abseits der Schickimicki-Szene. Im Jüdischen Gemeindezentrum am Innenhafen entsteht jüdisches Leben in Duisburg hoffentlich neu, obwohl die Polizei hier wie nirgends sonst vor jüdischen Einrichtungen fehlen darf. Ganz nah ist auch die Uni und das studentische Leben Neudorfs, in der Nähe gibt es türkisch geprägte Milieus in Hüttenheim oder Marxloh, leben Bulgaren und Rumänen in Hochfeld, 4.000 davon Sinti und Roma. Duisburg hat Theater, Oper, Ballett, Fraunhofer-Institute, den Logport, die Rheinschiene mit großen Industriebetrieben, den Sport in Wedau … und vieles davon gibt es schon sehr sehr lange.

Defizit, Ausblendung oder Ignoranz: Über das, was fehlt
Nein, Zaimoglu muss nicht ganz Duisburg schildern, historisch wie gegenwärtig, bevor er eine eigene Geschichte erzählen darf. Und dem Himmel sei Dank: Den aufgeblasenen Marketing- und Metropolenwahn der Europäischen Kulturhauptstadt Ruhr.2010 verspottet er en passant.  Gut so. Zudem: Niemand sollte Zaimoglu auf türkische Milieus und Geschichten abonnieren. Zaimoglu in Mülheim: „Ich hatte Lust darauf, über deutschstämmige Deutsche zu schreiben.“ Nur zu.
Aber fehlt nicht vieles andere in einem zeitgenössischen Roman aus Deutschburg-Duisburg, der z.B. Renzens Kumpane vom Büdchen (Kallu, Kurt, Hansgerd, Norbert …) nur als verwahrlost-edle Wilde beschreibt, als gelangweilte Überlebende ihrer eigenen Geschichte, als letzte aufrechte Prekarier, die ihren Renz zur Not auch mit eigenen Fäusten aus brenzliger Situation raushauen? Solche Vergessenen, Verlebten, Abgenutzten in Schwarz und Grau zeigten die Ruhr- und Industriereportagen von Hemingway über Böll bis zu Wallraff & Co. bereits seit Jahrzehnten und auch die besseren Texte der Arbeiterliteratur haben ihnen mehr als ein dilettantisches Denkmal gesetzt. Gelungenere Vor-Bilder dagegen findet man von Erik Regers „Union der festen Hand“ bis hin zu den Romanen Ralf Rothmanns oder Teilen des „Schwarzweißroman(s)“ Marion Poschmanns.
Zaimoglus Roman aber funktioniert – als Roman aus dem Ruhrgebiet gelesen –  nur selten. Zu viele seiner Bilder, Figuren und Orte sind Text-und-Fantasie-Bausteine, Remakes, Reprisen aus Filmen, Hörspielen und Romanen übers Ruhrgebiet. Hubert Winkels hat Feridun Zaimoglu in Mülheim zu Recht als „romantischen Autor mit hohem Pathos“ gelobt, „der sich virtuos sozialen Verwerfungen zuwende“. Kein Widerspruch. Die Crux am „Ruß“-Roman ist aber, dass dessen Trauergesänge gerade als „Duisburg Elegie“ eben nichts Neues zeigen und nichts Ruhr-Spezifisches, sie könnten locker auch in Quartieren Berlins gesungen werden oder in Magdeburg. Zaimoglu hat in „Ruß“ einen nicht gänzlich unbekannten Ausschnitt Duisburger Mentalität und Misere gut getroffen und erfrischend anders manch Altes zur Sprache gebracht. Und doch ist diese Misere insgesamt austauschbar, könnte so auch in Völklingen oder Liverpool angetroffen werden. Der Dia- oder Soziolekt der Figuren wäre ein anderer, ihre Aussichten aufs und ihre Ansichten vom Leben nicht. Festgelegt auf den Antagonismus von Ruß contra gelackten Kulissen verpasst Zaimoglu das vielbeschworene ‚echte‘ Duisburg um mehr als nur um Haaresbreite.

Trost und Vergebung bitte: Zweites Lesen
Vieles von dem, das ich hier oben moniere, drängte sich mir zunächst eher diffus nach der ersten Lektüre des Romans auf, ich ging dem nach und konnte hoffentlich aus einer ersten Meinung zunehmend begründete Kritik entfalten. Dann las ich „Ruß“ in Vorbereitung der Mülheimer Lesung ein zweites Mal, später diagonal viele Stellen erneut. Ent-täuscht diesmal, nicht mehr beeinflusst vom Verlagsgeklapper zu großer „deutsche(r) Saga“ aus dem Ruhrpott, ohne jeden Wunsch also, den Roman noch als Roman des Ruhrgebiets zu lesen. Und prompt begannen seine Geschichte, seine Geschichten mich neu zu interessieren, ja zu fesseln. Renzens Reisen an die Enden seiner bisherigen Welt wurden endlich zum Stoff, der meine Fantasie mit auf Reisen nahm. Sie gehen einem nur schwerlich aus dem Kopf, diese „Ruß“-Hauptfiguren und kleineren Schattenrisse.
Renz, ein lebensuntauglich gewordener Trauer-Junkie, der den Entzug wagt, der versucht, sich nicht länger fremdbestimmen zu lassen, von seinem Trauma nicht, aber auch nicht von den Manipulatoren, die ihn benutzen wollen.
Josef, selbst wohl ein Traumatisierter, der den Verrückten spielt, um nicht vollends verrückt zu werden.
Drahtzieher Voss, gelähmt im Rollstuhl wie eine Figur Luis Buñuels.
Die am Kopf operierte Marja, Renz’ Geliebte und Schutzengel, spröde und abweisend, voller Angst vor der Liebe und so ganz ernst und sinnlich bei der Suche danach.
Selbst der Mörder Stellas hat viele Gesichter (und Masken).
Ein surreales Ensemble kaputter Figuren, jedenfalls nicht mehr heil und an jeder Heiligkeit längst gescheitert (wie es einmal im Roman heißt). Und, obwohl sie so überhaupt nicht aus dem Ruhrgebiet stammen müssen, könnten sie doch von hier sein. In ihrem Lebenswillen, Trotz, Aufbegehren, Sich-Nicht-Abfinden dürften sie noch am ehesten Bewohner des Reviers sein, jedenfalls würde ich mir mehr von solchen Charakteren hier wünschen.

Schöne Geschichten
In „Ruß“ fürchtet Renz einmal, Marja könne ihm vorwerfen, ihr wieder einmal keine „schöne“ Geschichte erzählt zu haben, eine jener „schönen“ Geschichten, die sie sich so sehr wünscht. Auch dem Leser von „Ruß“ wird keine „schöne Geschichte“, werden keine schönen Geschichten präsentiert. Eher harte Geschichten wie aus einem schlechten Traum, gut erzählt, aber nicht „schön“. „Gott, lass mich nicht träumen, dachte Renz, verwandle mich in einen toten Körper, der alles vergisst.“ Zum Schluss des Romans kommt es aber doch anders. Nicht nur Renzens Liebe zu Marja scheint eine Chance zu haben, auch das Schicksal greift gnädig ein, sogar Renz selbst trifft eine Entscheidung, die es ihm vielleicht ermöglicht, aus all den schlechten Träumen aufwachen zu können, zu denen zuletzt auch sein Leben gehörte. „Gebrochene soll man nie unterschätzen“, meinte Zaimoglu in Mülheim völlig zurecht. Wer heute allerdings im Ruhrgebiet lebt und das Auseinanderdriften von Reich und Arm täglich beobachten muss, überschätzt andererseits auch all die Kaputten nicht mehr. Diese Verlorenen, so ist zu befürchten, sind heute nicht nur letzte Überlebende von gestern, sie sind vielleicht schon längst wieder traurige Vorboten, Prototypen für morgen: aussortierte Unberührbare in jeder Hinsicht, solange man sie allein mit den Augen des Geldes sieht.

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Mir
Mir
13 Jahre zuvor

Hört sich nach einer guten Geschichte an. Dankeschön für ihre Kritik.

Zum Gerücht: Vor ewigen Zeiten bin ich Zaimoglu auf einer studentischen Veranstaltung in Bochum begegnet. Seine Freundin studierte an der Ruhr Uni. Da ich Kanak Sprak und Abschaum von ihm kannte, kamen wir in ein nettes Gespräch, sprachen über die Figuren in seinen Büchern. Unterhielten uns über die Ruhrstädte auch Dusiburg. Er war neugierig und authentisch in seiner toughen Art. Danach habe ich nichts gescheites mehr von ihm gelesen.
Seine späteren Tatort Kritiken fand ich hirnlos geschrieben wie Tatort selbst hirnlos gespielt wird. Leyla habe ich nach einem Kapitel aufgegeben. Langweilig. Theaterstücke, naja.

Wenn man die ganze PR wegläßt stelle ich mir vor, dass die Geschichte an diesen Orten treffend gewählt ist.
Ich war vor kurzem noch in Ruhrort: Am Neumarkt geparkt, bei Edeka Brötchen, Aufschnitt, Kekse und Kakao gekauft und am Ruhrdeich vor dem Radschleppdampfer gegessen, getrunken, gestaunt. Dann der Spaziergang am Neumarkt, in der Nähe vom Cafe Kaldi vor einer Hauswand amüsiert über ein gemeißeltes (Werbe)Relief von einem Kater auf dem Kopf eines Affen umrandet mit dem Spruch „Es hat der große Kater Glückauf Bier nicht als Vater“. Die Hundefiguren am Packhaus-Haniel bewundert, Schifferbörse, am ehemaligem niederländischen Betsaal vorbei. Und überlegt wie Stadt und Leute vor vielen Jahrzehnten ausgesehen haben. Heute ist der Ort historisiert. Die Menschen dort sind noch immer sehr stolz auf ihren Ruhrort. Man sieht das. Ich traue Zaimoglu eher zu, dieses Gefühl von Ort-Zeit-Menschen aufzufangen und eine (un)schöne Geschichte daraus zu machen.

Mario
13 Jahre zuvor

Also ich mag Feridun Zaimoglu sehr gern und lese auch seine aktuelleren Sachen. Im bekanntenkreis, wird jedoch immer wieder erzählt, dass er nicht mehr so schön schreibt wie vorher.

Zum Roman selbst kann ich nichts sagen, da ich den Ort nicht kenne. Finde ihn dennoch gut.

Mir
Mir
13 Jahre zuvor

Es war nur die eine Zufalls-Begegnung mit ihm. Er hat(te) wirklich eine Freundin aus dem Ruhrgebiet. Und um das Ruhrgebiet und Leute scheint er sich sich ja schon vor langer Zeit Gedanken gemacht zu haben. Es war wie ein Deja vu Erlebnis als ich zum ersten Mal von dem Roman hörte.
Ich habe viele Jahre in Duisburg und Bochum gelebt. Die einzelnen Stadtteile in DU die sie oben beschreiben kenne ich nur zu gut. Es ist schon interessant wie andere dasselbe anders sehen und verarbeiten.
Gelesen habe ich Ruß bisher noch gar nicht. Wird jetzt aber mal Zeit.

mir
mir
13 Jahre zuvor

Die „ruhrpöttische“ Sprache in „Essen Viehofer Platz“ fand ich anstrengend und auf die Dauer nervig zu lesen, so dass ich die Geschichte leider schnell aufgab.

Lustig und angenehmer finde ich wie Hartmund El Kurdi diese Sprache in seinen gesammelten mini Märchen aus dem Ruhrpott aus dem Jahr 2010 benutzt. Sind zwar eher Vorlesegeschichten für Kinder, fand ich aber auch gut.

Bedankt für die Tipps.

Kurt-Dieter Jünger
13 Jahre zuvor

In der Regel ist Literatur nicht auf eine Region fokussiert.
Toll das wir als Ruhris oder kosmopolitisch überall wahrgenommen werden.
Duisburg, Bochum mit ihren Hochschulen, unsere Museen sind wichtig und werden in der ganzen Welt vermarktet.
Lesen Sie, kommen sie vorbei und sehen Sie die Realitäten, das wünsche ich mir.

Ihr
Kurt-Dieter Jünger

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[…] ihren Alltag abschaut und niederschreibt.“ Und das hat er dann für seinen neuen Roman „Ruß“ (Kiepenheuer & Witsch, 2011) auch getan. Bei alteingesessenen Autoren, Immigranten und […]

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