Wer in den letzten Tagen auf das Geschehen rund um das Düsseldorfer Schauspielhaus geblickt hat, wird erstaunt sein. Es scheint als hätte das Politische vollends Einzug gefunden in die Darstellende Kunst. Ron Iyamu, ein junger Schauspieler vom Mozarteum Salzburg, erhebt Rassismusvorwürfe gegen das Schauspielhaus und bezieht sich dabei vor allem auf die Proben zu Dantons Tod.[1] Als Reaktion forderte eine Gruppe von Darstellern und Dartstellerinnen die Finanzierung eines eigens für sie geschaffenen Theaters, das frei von Rassismus und Ausgrenzung aller Art sei.[2] Bernd Stegemann, der in der FAZ zu den Vorwürfen Stellung bezog, wurde nun durch einen offenen Brief Replik geboten. Dieser ist jedoch in vielerlei Hinsicht problematisch. Eine kurze Betrachtung von unserem Gastautor Ioannis Dimopulos:
Zu Beginn sei gesagt, dass unter den Verfassern des Briefes einige Hochkaräter der deutschen Theaterlandschaft sind. Hierzu zählt etwa Prof. Dr. Thomas Schmidt und die Regisseurin Angela Richter. Problematisch ist hier bereit der erste Absatz, den es im Wortlaut zu zitieren gilt.
„Wir möchten mit dieser Erwiderung Partei ergreifen für Ron Iyamu, ohne uns anmaßen zu wollen, zu verstehen, wie es ihm in dem was passiert ist, ergangen sein mag. Wir versuchen es nachzuempfinden, ohne es uns aneignen zu wollen und ohne es uns aneignen zu dürfen.“[3]
Wie spricht man aber über etwas, was man nicht versteht? Zu Beginn wird hier der rassistische Angriff auf den Darsteller Iyamu als etwas behauptet, was sich anscheinend nicht objektiv fassen lässt, da ansonsten ja die Unterzeichner verstehen dürften, wie es sich anfühlt rassistisch angegangen zu werden. Wird im späteren Verlauf aber über strukturellen Rassismus gesprochen, so müsste es Möglichkeiten geben, dass dieser empirisch-wissenschaftlich erklärbar wird. Dadurch reduziert sich Iyamus Vorwurf zu einer rein persönlichen Befindlichkeit, die Rassismus als komplexen Mechanismus zu einem Gefühl degradiert. Ist dem jedoch so, dann sind Personen, die von Rassismus nicht betroffen sind, gar nicht in der Lage diesen gegenüber Nichtbetroffenen zu thematisieren. Problematisch ist hierbei, dass dadurch auch der Nachvollzug eines Vorwurfs gegenüber dem Theater Düsseldorf ad absurdum geführt wird, da nur People of Coulor (POS) eine Möglichkeit haben, Rassismus als solchen zu verstehen. An dieser Stelle hätte sich das offene und konstruktive Gespräch erübrigt, das die Verfasser fordern. Vielmehr ginge es um ein plumpes Affirmieren des Vorwurfs, ohne dass dieser aufgearbeitet wird.
So verhält es sich auch im ersten Vorwurf, der Stegemann gemacht wird. Dieser sei durch „eine gewisse Anmaßung und Härte“ im Urteil des Schauspielers Iyamu in seinem Artikel in der FAZ aufgefallen. Dadurch würde man ihn „ein weiteres Mal zum Opfer machen.“ Den Verfassern fällt nicht ein, dass die Aufgabe eines Dramaturgen ist – wahlweise des Kulturjournalisten – eben dies zu tun. Die Betrachtung einer Inszenierung läuft auch über die Beurteilung der Darstellenden. Dies gehört zum Auftreten auf den deutschen Bühnen dazu. Den Vorwurf Iyamu gegenüber artikuliert Stegemann so:
„Das Angeschautwerden führt dazu, dass man sich selbst auch von außen sieht. Diesen Kontrollblick zu verlieren ist Aufgabe der Schauspielausbildung und eine wesentliche Eigenschaft des professionellen Schauspielers. Wenn ein Schauspieler sich in diese Distanz bringt und damit selbst aus dem Spiel nimmt, so wird er unter Umständen verstörende Erfahrungen machen “[4]
Stegemanns Argument gegen den Vorwurf des Rassismus ist also die Differenz zwischen Probensituation und Alltag. Es geht hier nicht darum den Rassismusvorwurf zu negieren, sondern um die Einbettung des Geschehens in seine besondere Situation. Iyamu sei nicht in der Lage, so Stegemann, eine Grundeigenschaft des Schauspielers so zu erfüllen, wie es an den Schauspielschulen unterrichtet wird. Dies meint nicht, dass man sich in der Probe mit Vergnügen beleidigen zu lassen hat, sondern vielmehr die besondere Situation eines Darstellenden innerhalb des Entwicklungsprozesses von Inszenierungen. Des weiteren ist der Vorwurf, Iyamu sei ein schlecht ausgebildeter Schauspieler, kein rassistisches Argument. In Bezug auf die Aufhebung der Selbstbetrachtung im Spiel ist die Hautfarbe irrelevant. Dadurch aber, dass Stegemann vermeintlich rassistische Stereotype bediene, wirft man diesem impliziten Rassismus vor, obwohl dieser jedoch theatertheoretisch argumentiert. Die Beurteilung Stegemanns als Rassist liegt damit bereits auf der Hand, was das Angebot zum Dialog, das immer wieder behauptet wird, zu einer Farce macht. Das in der FAZ gebrachte Argument verhöhnt Iyamu nicht, sondern legt dar, dass nicht das persönliche Gefühl, sondern der besondere Raum Theater relevant zur Beurteilung des Geschehenen ist.
Insofern ist auch der Versuch den künstlerischen Prozess der Probe von den Rahmenbedingungen der Produktion zu trennen, um den Rassismusvorwurf zu retten, absurd, weil es eine Trennung von Probenprozess und dessen Rahmenbedingungen nicht gibt. Dass „das eine […] der künstlerische, das andere der Produktionsprozess“ sei, zwischen denen es eine Grenze geben muss, geht an der Realität der Theaterarbeit vorbei. Die Regieleistung als vermeintlicher Produktions- und die schauspielerische Leistung gehören zusammen.
Dass, nachdem Stegemann allerlei vorgeworfen wurde und sein eigentlich getätigtes Argument verdreht wurde, darüber gesprochen wird, dass „wenn Kränkungen zum Maßstab werden […] die Konfliktfähigkeit unserer Gesellschaft bedroht“ sei, ist zutiefst widersprüchlich. Erstens stellt man bereits zu Beginn, ohne auf den Artikel Stegemanns einzugehen, den Vorwurf in den Raum, dass dieser ein Rassist wäre und Iyamu genauso angehe wie das Theater Düsseldorf, zweitens aber ist die Kränkung des Darstellers Iyamu ja die Ausgangslage der Vorwürfe. Der offene Brief winkt nur mit einer winzigen Referenz auf das eigentlich strukturelle Problem. Verwiesen wird hierbei auf die Arbeit Macht und Struktur im Theater von eben dem Prof. Schmidt, der auch zu den Unterzeichnern gehört. Peinlich ist hierbei, dass diese Arbeit gar keine statistischen Werte zu rassistischen Verhaltensweisen nachweist. Die empirischen Daten beziehen sich auf die Gesamtheit des Theaterpersonals. So heißt es zum Thema Übergriffe und Missbrauch:
„Über 50 % aller Teilnehmer*innen (56,4 %) sind an ihrer aktuellen Wirkungsstätte mit Missbrauch in Berührung gekommen, der Anteil der Frauen liegt sogar bei knapp 60 % (59,1 %). Etwa jede zweite von ihnen mehrfach. Nur 9,4 % aller Teilnehmer*innen sind explizit nicht damit in Berührung gekommen. Bezieht man die erfassten 1108 Fälle auf einen Zeitraum von etwa zwei Jahren, dann haben – abzüglich der Sommerpausen – jedes Jahr über 500 Übergriffe und jeden Tag etwa 1,7 Übergriffe in der Theaterlandschaft stattgefunden, um die Zahl, die Verbreitung und die latente Bedrohung plastisch sichtbar zu machen. Wobei davon auszugehen ist, dass die Dunkelziffer deutlich höher liegt, zumal nicht alle Künstler*innen an der Studie teilgenommen haben. Aber diese 1,7 Übergriffe pro Tag sind nachweisbar, und sie finden fortdauernd statt.“[5]
Auch findet sich unter der Übersicht der Antworten der am häufigsten genannten Formen des erfahrenen Missbrauchs allerlei, nicht aber Rassismus.[6] Kurz spricht er über den „unterschwelligen und immer präsenten Rassismus“[7], kann dafür jedoch empirisch keine strukturelle Diskriminierung von POC nachweisen. So führt auch eine der befragten Personen an, dass „der Punkt rassistische Übergriffe und rassistische Diskriminierung nicht abgefragt“[8] wurde. Grundsätzlich hat sich Thomas Schmidt, der ein grausig aufgestellter Kulturmanager und methodisch wie theoretisch eher mittelmäßig bis unwissenschaftlicher aufgestellt ist, durch seine Arbeit nicht mit akademischem Ruhme befleckt. Der offene Brief negiert dadurch eher selbst sein vermeintlich empirisches Fundament. Das Problem verlagert sich dadurch in eine Sphäre, die der offene Brief nicht anzusprechen wagt, da eben die Personen, die ihn verfassten, an den Übergriffen aktiv und passiv partizipieren dürften, die sie in Bezug auf POC anprangern. Die Arbeitssituation auf den deutschen Bühnen ist seit geraumer Zeit prekär, was jedoch nicht explizit nur POC trifft, sondern die Angestellten des Theaters als Gesamtheit.
Im Anschluss stellen sich die Verfasser des Briefs hinter die Forderung eines 22-köpfigen Kollektivs von POC, die vom Theater Düsseldorf nun Mittel für den Aufbau eines eigenen Theaters fordern. Die Legitimität dieser Forderung behaupten sie folgendermaßen:
„Wir müssen den Menschen zuhören, die den Versuch unternehmen, sich aus der Umklammerung einer aus ihrer Sicht toxischen Institution – hier dem d’haus – kollektiv befreien zu wollen, zumal diese ehrwürdige Institution Theater sehr offensichtlich noch nicht darauf vorbereitet und auch nicht bereit ist, Schwarze Künstler:innen und Person of Color den Raum zugeben, der Ihnen gebührt. Diese 22 Künstler:innen die nicht mehr bereit sind, an dem genannten Haus zu arbeiten und eine neue Arbeitsmöglichkeit einfordern, die in einem realistischen Rahmen abgesteckt ist – gemessen an den Ressourcen des Hauses und der Kommune, haben es verdient, dass man ihre Bitte sorgfältig prüft und/oder wenn man sich als Theater unsicher ist, von unabhängigen Expert:innen prüfen lasst.“
Zweierlei ist hierbei interessant. Erstens nämlich scheint es eine Paradoxie zu geben im Verhältnis von Konsequenz und Forderung. Wenn eine unabhängige Untersuchung gefordert wird, die die Situation Iyamus untersucht, können die dem Schauspielhaus gegenüber vorgebrachten Vorwürfen noch gar nicht verifiziert sein. Solange dies aber nicht der Fall ist, kann die Forderung eines eigenen Theaters für die genannten 22 Künstler nicht unterstützt werden. Prinzipiell wurde bereits im ersten Absatz und immer wieder behauptet, dass die Erfahrung rassistischer Angriffe nicht von Personen gefasst werden kann, die davon nicht betroffen sind. Gleichzeitig wird aber eine Untersuchung gefordert, aus der erhebliche finanzielle Mittel fließen könnten. Der Wunsch nach Aufklärung ist hier ad absurdum geführt durch bereits genannte Punkte, sodass übrig nur die Forderung nach einem Safe Space für von Rassismus betroffene Personen bleibt. Fraglich ist in diesem Zusammenhang, wie aus der Erfahrung Iyamus plötzlich eine Forderung von 22 Menschen erwächst. Wenn diese von Rassismus ebenso betroffen sind, wie es Iyamu nach eigenen Angaben war, hätten sie im Zusammenhang mit Iyamus Vorwürfen darüber gesprochen. Dies ist jedoch nicht passiert, woraus sich nicht genau erschließt, wieso auf einen Schlag alle potenziell betroffenen DarstellerInnen diese Forderung unterstützen.
Auch ließe sich die Forderung nach einem eigenen Theater für dieses Kollektiv kritisch hinterfragen. Was ändert das Outsourcing von POC am erwähnten Rassismus am Düsseldorfer Theater? Ginge es um eine Beseitigung dessen, so wäre ein Theater als Safe Space nicht notwendig. Und woher leitet sich die Notwendigkeit einer Anstellung für DarstellerInnen ab? Keiner dieser Personen hat einen Anspruch auf Engagement, und zwar unabhängig davon, ob sie marginalisiert werden oder nicht. Niemand hat das. Die Forderung ein eigenes Theater finanziert zu bekommen ist hierbei zweifach krude: Erstens durch die Ignoranz an den Orten, an denen Rassismus grassiert, diesen zu beseitigen. Zweitens aber über die Vorstellung von Privilegierung durch die kollektive Opferidentität. Zu fordern wäre stattdessen die Durchsetzung eines Universalismus, unter dem Gleichheit in einer Weise herrscht, in der Rassismus getilgt und Privilegien obsolet sind. Die Forderung nach einem eigenen Theater als Notwendigkeit zu behaupten, die viel eher zu einer Trennung in weiße und schwarze Bühnen und damit in die Nähe einer neuen Rassentrennung führen würde, hebt die Vorstellung einer emanzipierten Gesellschaft genauso auf wie die Notwendigkeit sie zu erreichen. Die zutiefst tautologische Aussage, dass Schwarze und POC das Recht auf Selbstbestimmung haben, wie es die Verfasser schreiben, hat niemand bestritten. Die Selbstbestimmung, die ein Recht aller Menschen ist, artikuliert sich aber nicht über die Bildung von Safe Spaces, deren Existenz und Durchführbarkeit sowieso angezweifelt gehört, da es absolut sichere Räume realistischerweise nicht gibt.
In einem weiteren Punkt beginnen die Verfasser über Stegemanns Konzept von Theaterproben zu sprechen. So wird angemerkt:
„Wir haben allerdings noch niemals erlebt, dass das Schaffen von respektvollen Probensituationen zu „verwalteten Vorgängen“ oder unbrauchbaren künstlerischen Ergebnissen geführt hatte, wie Sie behaupten. Ganz im Gegenteil: dort, wo Darsteller:innen frei sein können, wo sie keine Angst haben und nicht befürchten müssen, beim nächsten Fehler bestraft und vorgeführt zu werden, entstanden und entstehen die genialen künstlerischen Innovationen, die wir uns wünschen und mit denen das Theater sich weiter entwickeln kann. Darin können durchaus Momente der Entgrenzung enthalten sein. Aber diese müssen auf Verabredungen beruhen.“
Stegemann, der über die besondere Situation der Probe spricht, wird von den Verfassern ein weiteres Mal das Wort im Mund herumgedreht. An keiner Stelle behauptete dieser in der FAZ, dass Proben eine Situation sind, in der Angst und Schrecken herrscht. Vielmehr wird hier wieder am Argument vorbei angeblicher Rückbezug auf den kommentierten Text gewagt. Die Trennung zwischen Alltag und Probensituation ist in unterschiedlicher Hinsicht legitim. Die plumpste ist möglicherweise, dass man im Alltag nicht als Figur eine fertige Replik ausspuckt. Eine Szene zu proben ist ein artifizieller Akt, der durch die Identität mit dem Alltäglichen das verliert, was schlussendlich eine gelungene Inszenierung ausmachen kann. So merkt Stegemann auch im darauffolgenden Satz seines Artikels an, dass es nicht um die Verteidigung der Regietyrannen gehe, sondern um die Frage wie „die Freiheit der Künstler gewährleistet werden [kann], ohne dass Einzelne diese Freiheit für ihren persönlichen Vorteil missbrauchen.“[9] Die Situation als Gewalt der Regie an den Darstellenden zu verteidigen, ist also gar nicht seine Absicht. Vielmehr versucht Stegemann die Trennung von Kunst und Alltag zu behaupten. Entgrenzung gehört zu einer Probe insofern dazu, als dass die Rollenarbeit genauso wie die Inszenierungsarbeit eine besondere emotionale und soziale Situation darstellt, in der dem Alltag fremde Dinge typisch sind. Ein klassisches Beispiel ist der Streit der Darstellenden mit der Regie, aber auch spontane Ausbrüche von Emotionen, die der Einfühlung in eine Rolle inhärent sind. Diese Momente lassen sich aber nicht künstlich herbeiführen, oder gar vorplanen. Insofern ist Stegemann durchaus im Recht, wenn er die Transformation der Probe zum Verwaltungsvorgang kritisiert.[10]
Problematisch ist die Vorstellung einer Entgrenzung auf Verabredung, wie sie die Verfasser des offenen Briefs fordern, da vielmehr. Eine Probe ist keine parlamentarische Debatte. Wie eine Entgrenzung auf Verabredung funktionieren solle, können die vollends verwalteten Verfasser möglicherweise selbst nicht beschreiben, die dafür aber zumindest noch das autonom Ästhetische über Bord geworfen haben zugunsten vermeintlicher Gleichstellung auf der Bühne. Die Vorstellung, dass auf der Bühne die politischen Geschicke der Welt ausgetragen gehören, tötet Kunst, ohne ein gleichwertiges Anderes herauszubekommen. Wer glaubt, dass ein Theater nur für POC eine emanzipierte Gesellschaft ermöglicht, gibt damit zu, vor der realen Welt kapituliert zu haben und den Kampf auf ein Feld verlagert zu haben, auf dem man glaubt radikale Veränderungen vollziehen zu können.
Dem offenen Brief liegt im Deckmantel des Antirassismus eine Kunstfeindlichkeit zugrunde, die sich über die Marxsche Landnahme erklären lässt. Beinah suspekt wirkt es, diese Idee auf den Kampf gegen Rassismus anzuwenden. Dennoch ist die Idee einer Expansion der Mehrwerterzeugung insofern eine passende Analogie, als dass das System Kunst aus ihrer Autonomie herausgebrochen und umfunktionalisiert wird zu einem Ort des politischen Kampfs. Dies wird auch durch die Anmerkungen zur Schauspielausbildung konkludent, die im offenen Brief den Beruf der Schauspieler inflationär werden lässt. Die Verfasser merken an
„Uns ist unklar, woher ihr Glaube kommt, dass eine Schauspieler:in noch immer zwingend dem von ihnen favorisierten Modell der an den Hochschulen gebrochenen – eine Unsitte! – für alles bereiten und einsetzbaren Künstler:in folgen muss? Die modernen Diskurse lehren uns kritisch und ganzheitlich zu denken. Dazu zählt auch, jede Form von Totalität auszugrenzen. Die freien Künster:innen und Companies machen uns vor, wie gearbeitet wird, ohne Qual, ohne unverschämte Titulierung und ohne Messer am Hosenschlitz oder an der Kehle. Die von Ihnen als Schild vorgeschobene Kunstfreiheit ist zudem kein Privileg Einzelner, sondern sie gilt für alle Künstler:innen gleichermaßen […].“
Auch hier wird erneut das eigentliche Argument Stegemanns verdreht. Vielmehr aber ist es ein Angriff auf den Beruf des Darstellers an sich. Die Ausbildung an einer Schauspielschule geht einher mit dem Ablegen bestimmter Vorstellungen von Schauspiel, die Laien gerne als üblich behaupten. Die Sprecherziehung und die Arbeit mit dem Ausdruck des eigenen Körpers sind hierfür Beispiele. Dies soll den Schülern ermöglichen sich an unterschiedliche Rollen anpassen zu können, da sie durch die Ausbildung selbst zu einer Leerstelle geworden sind, die sich von der Regie in eine Rolle einschmelzen lässt. Dies ist ein Grundgedanke der Theaterarbeit, die nichts mit Brechen und Destruktion zu tun hat, geschweige denn mit den für alles bereiten und einsetzbaren Künstler. Vielmehr ist es notwendig sich auf der Bühne nicht selbst zu spielen. Dies als Gewalt zu beschreiben, delegitimiert die Arbeit eines Darstellenden und macht diesen obsolet. Auch gibt es keine Relation zu einer genialen Inszenierung. Johan Simons, Frank Castorf oder Michael Thalheimer, die wahre Koryphäen ihres Metiers sind, stellt man sich nicht als freundliche und einfühlsame Regisseure vor. Sie werden auch nicht dafür in den Feuilletons der großen Zeitungen gelobt. Gelobt werden sie für eine gelungene Inszenierung, die unabhängig von ihren persönlichen Sympathiewerten abläuft.
Gefühle sind schlussendlich – das wusste bereits Theodor W. Adorno – außerästhetisch. Man bemerkt in der Argumentation des Briefs ein Bedürfnis die Kunst als autonome Sphäre aufzuheben und dem zweckrationalen Schlund des Politischen einzuverleiben. Gerade aber die Distanz zum Alltäglichen ist die Leistung des Theaters. Sie aufzuheben wäre eine gefährliche Entwicklung, die einen Schritt näher an die Tilgung des Ästhetischen heranführen würde. Vorgeschoben ist die Kunstfreiheit insofern nicht, noch wird sie instrumentalisiert, um Rassismus zu legitimieren. Wenn aber versucht wird die Freiheit der Kunst dadurch zu behaupten, dass man sie beseitigt, wenn vielmehr darin der Grund glaubt gefunden worden zu sein, dass Rassismus an deutschen Bühnen so passiere, dann stirbt sie eben nicht nur für die Menschen, denen man Rassismus vorwirft, sondern auch für die POC, die versuchen auf dem hart umkämpften und prekären Pflaster des deutschen Theaters Fuß zu fassen.
Dazu gehört als letzter Punkt auch das Behaupten einer Trennung von Kunst und Alltag in radikaler Form. Proben wie den Alltag zu beurteilen, scheitert spätestens an der Gegenprobe, wenn man versucht sich bei den Proben zu verhalten, als wäre man in seinen eigenen vier Wänden. Dass diese Grundkategorie – die Fiktionalität von Kunst und die damit einhergehende Tilgung ihres faktualen Wahrheitswerts – aber bei den Verfassern anscheinend nicht Teil der ästhetisch-wissenschaftlichen Ausbildung war, lässt sich in seiner potenziertesten Form darin sehen, dass der vermeintliche Kampf für eine emanzipatorische Gesellschaft auch nicht vor der Relativierung von historischen Katastrophen halt macht. Gegen Ende des Briefes wird folgendes behauptet:
„Wir sind die Erben einer Geschichte, und dieser Geschichte müssen sich die weißen Menschen unter uns stellen. Wir müssen anerkennen, dass unsere mittelbaren Vorfahren in der Zeit des Kolonialismus und Nationalsozialismus Grenzen der Menschlichkeit millionenfach überschritten und die Welt damit in ein Chaos geführt haben, in dem die Grenze der Unberührbarkeit und Unverletzbarkeit des Menschen willentlich und wissentlich außer Kraft gesetzt wurde – ein Erbe, dass sich leider bis heute fortsetzt. Wir stellen uns dieser Verantwortung und setzen uns dafür ein, dass das Rad der Geschichte nicht zurückgedreht wird.“
Das hier beschrieben historische Bewusstsein, wirkt emanzipatorischer, als es wirklich ist. Vielmehr zeigt sich hier eine Verfälschung von Geschichte, die den Gegensatz von weißen Tätern und nicht-weißen Opfern ideologisch manifestieren will. Die historische Forschung hat diesen Gegensatz bereits seit einigen Jahren angezweifelt. So verweist Prof. Wolfgang Reinhard von der Universität Augsburg und Freiburg darauf, dass die Sklaverei keine Gewalttat des weißen Mannes war, sondern global existiert hat. So ist beispielsweise der Sklavenhandel des Orients bereits 800 Jahre vor dem europäischen Sklavenhandel zu datieren und in seiner Quantität und Qualität nicht minder grausam.[11] Nichtschwarzen POC jedoch Selbiges wie den Weißen vorzuwerfen, fällt den Verfassern nicht ein. Lieber wird ein faktisch falsches und veraltetes Geschichtsbild vermittelt, um die Behauptung von einfachen Täter- und Opferstrukturen beibehalten zu können. Die legitime Arbeit gegen rassistisches Ressentiment wird dadurch lächerlich, weil die Verfasser durch ein solches Geschichtsbild und fehlende Recherchearbeit offenbar alles in ihrem Text verwertet haben, was auch nur gerade so zur Position passen könnte.
Letztlich ist die Erwähnung des Nationalsozialismus und den damit einhergegangenen Ermordeten eine Beleidigung für alle Opfer, die in den Lagern der Nationalsozialisten ihr Leben ließen. Diese Menschen zu instrumentalisieren, ist zutiefst ekelhaft und zeugt von der eigenen politischen Blindheit, die immer noch glaubt, emanzipatorische Arbeit zu tun. Iyamus Erfahrung von Rassismus mit der industriellen Ermordung von mehreren Millionen Menschen gleichzusetzen, sollte nicht mit Dialog belohnt werden. Das Einsetzen für Ron Iyamu aus dem Geist des geschehenen Nationalsozialismus macht das Theater Düsseldorf und alle, die dort arbeiten, zu Schergen des Faschismus, die gern bereit sind diesen notfalls umzubringen. Vielmehr zeigen aber die Unterzeichner die Bereitschaft für ihre persönlichen Überzeugungen über die Leichen zu gehen, die sie vermeintlich zu diesem Brief gemahnt haben. Die legitimen Vorwürfe des Darstellers Ron Iyamu, werden dadurch ins Lächerliche gezogen. Letztlich hofft man, dass Ron Iyamu diesen Brief liest und sich für die Verfasser schämt. Alles andere würde seine Vorwürfe, die ein existierendes Problem in der deutschen Theaterlandschaft ansprechen, verstummen lassen. Ist dies nämlich schon Tollheit, hat es doch Methode.
[1] https://www.sueddeutsche.de/kultur/theater-rassismus-vorwuerfe-duesseldorf-1.5243472
[2] https://www.sueddeutsche.de/kultur/schauspielhaus-duesseldorf-rassismus-offener-brief-1.5253081
[3] Hier und im Weiteren: https://drive.google.com/file/d/1UzIfP6tiL__z7MeQCT-jsNBsUed6H9B3/view
[4] Stegemann, Bernd: In den Schützengräben der Verletzbarkeit, FAZ vom 09.04.2021, S.11.
[5] Schmidt, Thomas: Macht und Struktur im Theater, Wiesbaden 2019, S.179.
[6] Ders.: S.327.
[7] Vgl. Ders.: S.278.
[8] Vgl. Ders.: S.279.
[9] Stegemann, Bernd: In den Schützengräben der Verletzbarkeit, FAZ vom 09.04.2021, S.11.
[10] Ders. S.
[11] Vgl. Reinhard, Wolfgang: Die Unterwerfung der Welt: Globalgeschichte der europäischen Expansion 1415-2015, München 2016.
eine sehr gute Analyse der Düsseldorfer Situation.
Vielen Dank dafür.
Ich freue mich, dass es noch Platz für analytische Beiträge gibt, die nicht der Verlockung schneller Meinungsbildung anheimfallen.
Die Punkte dieser Analyse sind generell die Probleme, die ich mit der aktuellen Diskussion über die Benachteiligungen marginalisierter Gruppen hege.
Ich kann mich immer nur wundern, wie leicht trennende Forderungen, wie hier ein eigenes Theater, aufgefordert werden, und, aus dem Englischen übernommen, der Begriff der Rasse wieder Einzug in den Sprachgebrauch gefunden hat.
Ich lobe, dass die aktuelle Generation Betroffner und auch vereinzelt jener, die selbst nicht betroffen sind, Probleme offen und zuweilen mit der nötigen Drastik ansprechen. Mir fehlt jedoch die intellektuelle, bedachte Auseinandersetzung — zu oft ist das, was gesagt wird, in der Konsequenz spalterisch, trennend, privilegierend.
Man gewinnt den Eindruck, die Marginalisierten sind durch ihre Situation so unselbstständig geworden und von den über Sie Bestimmenden in eine Abhängigkeit gebracht worden, dass sie sich auf der metaphorischen Bühne einer freien Gesellschaft nicht anders zu helfen wissen, als von eben jenen, die über sie Bestimmen, die Erfüllung ihres Rechts zu wünschen.
Ein Weg in eine andere Abhängigkeit.
Großartiger Kommentar. Vielen Dank, Herr Dimopulos.
Weil der Aberglaube von der Sklaverei als Erfindung des weißen Mannes nicht totzukriegen ist. würde ich gern was verlinken.
Jungle World, Der Schrecken der Sklaverei setzt sich bis heute fort
https://jungle.world/artikel/2017/12/der-schrecken-der-sklaverei-setzt-sich-bis-heute-fort
Egon Flaig, Wie die Hautfarbe zum Rassismus fand
https://www.academia.edu/22682322/Wie_die_Hautfarbe_zum_Rassismus_fand
GudrunEussner, Sklaventum im Islam von Mohammed bis heute
https://web.archive.org/web/20160404073059/https:/www.eussner.net/artikel_2008-03-09_17-59-36.html
Schön, dass Ruhrbarone Platz gibt für gründliche Betrachtungen. Ich finde es gut, wenn ein Vorgang von mehreren Seiten betrachtet wird wie hier, so dass eine Debatte weniger Schlagabtausch und mehr gegenseitiges Kennenlernen ist – super Text.
Ich lese den Text so, als beziehe der Verfasser Position für den Verfasser eines Artikels in der FAZ und gegen die Verfasser eines Briefs, der sich auf den FAZ Artikel bezog. Die Position ist gut begründet. Ich vermisse eine Befassung mit dem ersten Text dieser Kette von Texten, dem Text des Schauspielers, auf den sich die beiden hier verhandelten Texte bezogen – was stand denn in dem?
Ich habe gestutzt bei der zweimaligen Verwendung des Wortes "gehören". Wenn der Text spricht "Die Selbstbestimmung, die ein Recht aller Menschen ist, artikuliert sich aber nicht über die Bildung von Safe Spaces, deren Existenz und Durchführbarkeit sowieso angezweifelt gehört, da es absolut sichere Räume realistischerweise nicht gibt" und weiter "Die Vorstellung, dass auf der Bühne die politischen Geschicke der Welt ausgetragen gehören, tötet Kunst, ohne ein gleichwertiges Anderes herauszubekommen" so scheint mir der Verfasser davon auszugehen, dass er über das Wissen verfügt, was sich gehört, und er anderen gehörig die Meinung sagen möchten, dass sie etwas meinen, tun oder planen, dass sich in seinen Augen nicht gehört.
Mir scheint das Theater, über das jetzt ein Schauspieler, ein Dramaturg, ein Professor, eine Regisseurin und ein Ruhrbarone-Autor debattieren, seine Besucher einer Aufführung in das Geschehen auf der Bühne verwickeln zu wollen. Ob eine Verwicklung der Besucher in die Kunst nun mit oder ohne safe spaces und mit oder ohne politische Geschicke besser geht, darüber gibt es sicher mehr als eine Meinung, die gehört werden sollte.
Ich verstehe nicht, welche Bedeutung für die Debatte um die Arbeitsbedingungen am Schauspiel Düsseldorf es hat, wann und wo Sklavenhaltergesellschaften enstanden. Die Kolonialmächte Spanien, Portugal, Frankreich, England haben ab dem 16. Jh. in den von ihnen eroberten Gebieten Sklavenhalterkolonien errichtet und Sklaven aus Afrika verbracht, deren Nachkommen in Brasilien, Peru, USA und Kanada als Afro-Brasilianer, Afro-Peruaner, Afro-Amerikaner und Afro-Kanadier gleiche Bürgerrechte genießen wie die Nachkommen der Sklavenhalter. Die in Deutschland lebenden Afro-Deutschen sind keine Nachkommen von Sklaven. Wenn in der Debatte um Rassismus die Verwendung des Epithets 'Sklave' als rassistisch kritisiert wird, welche Bedeutung hat in dieser Debatte der Hinweis, Sklavenhaltergesellschaften habe es auch zu anderen Zeiten auf anderen Kontinenten als in der neuen Welt ab dem 16. Jh. gegeben?
Ein mutiger und intelligenter Beitrag. Danke, Ioannis Dimopolus. – Noch eine kurze Anmerkung zu der Liste der 1400. Die darin Unterzeichnenden geben sich größtenteils jenen merkwürdigen in Mode geratenen Zusatz: – er/Ihm, sie/ ihr etc. – . Man kann sich durchaus fragen, was die eigene sexuell/geschlechtliche Einordnung unter einem politischen offenen Brief zu suchen hat!? Ich fürchte es ist leider nur Ausdruck einer opportunistischen Haltung, die signalisieren soll, wir gehören der gleichen woken Gemeinschaft an.