Raymond Chandler ist in meinen Augen einer der größten US-Autoren des 20. Jahrhunderts. Ihn kann man zum Vergnügen lesen, weil man Spannung sucht oder auch zum Trost. Von unserem Gastautor Ansgar Lange.
Sein literarisches Geschöpf, der Privatdetektiv Philip Marlowe, ist ein harter Junge: trinkfest, männlich, ein Frauentyp. Doch er ist auch Melancholiker und Moralist. Marlowe ist der größte Romantiker unter den Privatdetektiven. Sein geistiger Vater, der am 23. Juli 1888 in Chicago, Illinois, geboren wurde, war ebenfalls melancholisch und moralisch, wenn nicht sogar puritanisch geprägt. Doch er war auch ganz anders als Marlowe, nämlich scheu, gehemmt, unglücklich.
Nicht ohne Grund hat der Schriftsteller Clemens Meyer Chandlers 1953 erschienenen Roman „Der lange Abschied“ als das Buch seines Lebens bezeichnet. Marlowe sei ihm in vielen Jahren ein Vorbild gewesen: „Whiskey trinkend, Schach spielend, der letzte Romantiker, der in der Liebe und im Leben immer wieder enttäuscht wird, aber nie aufgibt“.
Am Ende seines Lebens, nachdem seine geliebte, wesentlich ältere Frau Cissy gestorben war, hat er versucht, sich zu Tode zu schießen und zu saufen. Als er am 26. März 1959 im kalifornischen La Jolla starb, starb einer der wichtigsten Begründer der amerikanischen „hardboiled novels“. Dashiell Hammett und Raymond Chandler wurden fortan viel kopiert, doch fast nie erreicht.
Chandlers Leben war voller Brüche und verlief nicht linear. Personalberater und Firmenchefs würden seinen Lebenslauf heute wohl sofort zur Seite legen. Zum Schriftsteller wurde er aus purer Not, um sich und seine Frau finanziell über Wasser zu halten. Als er seine lukrative Stelle als Manager in der Ölindustrie verlor, sattelte er um. Zunächst schrieb er Kriminalgeschichten für Groschenhefte, so genannte „pulps“. So lernte er das literarische Handwerk. Die Basis für seine großen Romane „Der tiefe Schlaf“, „Lebewohl, mein Liebling“ oder sein unübertroffenes Meisterwerk „Der lange Abschied“ war gelegt. Seine früheren Geschichten sollte Chandler später immer wieder für seine Romane ausschlachten.
Ein harter Junge, hoffnungslos sentimental
Marlowe hat das Zeug zum Sieger, doch wegen seiner moralischen Grundsätze passt er sich nicht an und steigt gesellschaftlich nicht auf. Er bleibt ein Einzelgänger, ein Verlierer, der immer wieder aufsteht und dem deshalb nicht nur die Herzen der Frauen, meist langbeinige Blondinen, zufliegen, sondern auch die Herzen der Leser. In Chandlers Fantasie sah Marlowe aus wie Cary Grant. Doch im Film sollten Humphrey Bogart, James Garner, Robert Mitchum und Elliot Gould dem „private eye“ ihr Gesicht geben.
Mag sein, dass es uns heute bei der Lektüre Chandlers so geht wie beim Lesen der Prosa Ernest Hemingways. Das Pathos, die (übertriebene) Männlichkeit, die Romantik: das wirkt aus heutiger Sicht alles etwas übertrieben. Doch angesichts der Ödnis mancher heutiger Krimis sollten wir den letzten Romantiker unter den harten Jungs in Ehren halten. Welches Glück für den, der noch nichts von Chandler gelesen hat. Bei Diogenes steht ihm eine famose Werkauswahl zur Verfügung. Außerdem war Chandler ein großer Briefschreiber und hat mit „Die simple Kunst des Mordes“ eines der schönsten Bücher über das Schreiben verfasst.
Wer mehr über das äußerlich unspektakuläre, aber an inneren Kämpfen reiche Leben des treu verheirateten, Pfeife rauchenden Katzenliebhabers und Trägers von Tweed Sakkos erfahren will, sollte zu Frank MacShanes Biographie des Meisters greifen. Wie schön, dass sich Chandler nie um „irgendeinen Kokolores von ‚gesellschaftlicher Signifikanz’“ gekümmert hat. Aus diesem Grund – und natürlich wegen dieser wunderbaren, bildhaften, witzigen und zugleich literarischen Sprache – sind seine Bücher zeitlos. Wir streifen weiterhin gern Seit’ an Seit’ mit Marlowe durch die Straßen, Spelunken und Spielhöllen im Los Angeles der 30er Jahre – und in unserer Phantasie müssen wir dabei sogar nicht die derzeit gebotenen zwei Meter Abstand einhalten.
Gerade in den jetzigen schwierigen Zeiten brauchen wir gute Kriminalromane zur Beruhigung und als Trost. Der Germanist Jochen Vogt hat vor fünf Jahren im „Freitag“ beschrieben, dass auch „große“ Gestalten wie Bertolt Brecht aus diesem Grund zu ihrer täglichen Dosis griffen:
„Der Brechtforscher Carl Pietzcker hat des Dichters lebenslangen Kampf gegen seine ‚Herzneurose‘ mit panischen Angstzuständen beschrieben, für den Sedativa wie das Rauchen oder auch die Frauen (!) so unverzichtbar waren. Dass Brecht auch die Krimilektüre kontraphobisch einsetzte, zeigen die Tagebücher der 1940er Jahre. So etwa, als sein und Ruth Berlaus Sohn Michel nach einer Frühgeburt stirbt, während Brecht vom FBI überwacht wird. Hingegen hat er 1949, als er in Ostberlin grandiose Pläne schmiedet, diese ‚Gewohnheit beinahe abgelegt‘: ‚kaum zwei oder drei beendet‘ – in den Mühen der DDR-Ebene tritt sie aber bald wieder in ihr therapeutisches Recht. Und muss auch nicht mehr zum Produktionsmittel stilisiert werden. Die Beruhigungsmittelchen liegen stapelhoch neben dem Bett, denn: ‚Ich brauche mein tägliches Quantum.“
In Zeiten der häuslichen Situation ist es für allein stehende Männer schwierig, Frauen als Sedativa zu verwenden. Und das Rauchen ist ohnehin schlecht fürs Herz und könnte die Nerven weiter reizen. Die tägliche Dosis Mord und Totschlag scheint hingegen unbedenklich zu sein, falls sie zwischen zwei Buchdeckeln daherkommt.
"I knocked the cold ashes out of my pipe and refilled it from the leather humidor an admirer had given me for Christmas, the admirer by an odd coincidence having the same name as mine."
Raymond Chandler – "The Little Sister"
womit der "einsame Wolf" Philip Marlowe vielleicht erst einmal ausreichend charakterisiert ist. Schwieriger ist es, die allgegenwärtige Paranoia einzufangen: besser ist es, niemandem zu vertrauen … ob das die richtige Lektüre für Krisenzeiten ist?
Sprachlich ist Chandler sensationell: im "Dictionary of American Slang" von Crowell/Langenscheidt gibt es unzählige Einträge, die Chandler als Quelle nennen – er schafft eine eigene Sprache, eine eigene Welt
Wenn jemand beim Lesen eines Krimis Tränen lacht, kann der Autor nur Raymond Chandler heißen. Danke für die Erinnerung an den König dieses Genres.
❤️❤️❤️Chandler❤️❤️❤️
Marlowe ist ein gebrochener Held, der Straße näher als dem Penthouse. Der Asphalt ist nunmal lebendiger als die sauber glänzende Inneneinrichtung eines Appartments.
Marlowe ist der Prototyp des einsamen aber integeren Mannes, der alles mit sich selbst ausmacht. Dennoch sucht er die Wärme der Frauen und genießt ihre faszinierende Andersartigkeit. Als Anti-Held bleibt er immer Mensch und nie würde er seinem Gegenüber ein Gespräch verweigern. Er ist nicht nur Romantiker sondern auch Ethnologe.
Seinen deutschen Seelenverwandten findet Chandler in Jörg Fauser.
Und was die aktuelle häusliche Situation der alleinstehenden und einsamen Männer angeht… nun ja. Was hätte Marlowe getan?
@Nussknacker 56 ich musste bei Chandler nie lachen, dafür bei Joyce Porter und ihren Chiefinspecror Dover Romanen umso herzhafter. Dover ist sicherlich der arbeitsscheuste und schnorrigste Chiefinspector, der je durch die Räume des Yards und die Zeilen eines Krimis geschlurft ist. Einer, der seinen Assistenten zur Verzweiflung bringt, der die ganze Arbeit macht, um am Ende feststellen zu müssen, dass es einmal mehr nicht gelugen ist, den unfähigen Vorgesetzten aus dm weg zu räumen, weil dieser auf den letzten Seiten immer irgendwie die lösung findet-zum Erstaunen aller. Auch sonst die Figuren mit wohldurchdachten Sarkasmusgezeichnet. Alle bei rororo i den 78ern erschienen. Letztr Titel war 78 "Kein Lösegeld für Dover," herrlich!!!
und natürlich Zenker Helmuts Major Kottan, der zwar keine Tauben in Wiener Parks vergiftet, aber sonst nichts unversucht lässt, mit herrschenden Stereotypen nicht nur deutshsprachiger Krimis ordentlich aufzuräumen. Gibt´s auch als DVD, wobei ich dijenigen bevorzuge, in den Lukas Resetarits den Major gibt, noch schlank und äußerst beweglich und seinen Chef, den Polizeipräsidenten h.c. Pilch, u.a. mittels eines hinterhältigen Kaffeeautomaten der Lächerlichkeit preisgibt.
@ thomas weigle
„… ich musste bei Chandler nie lachen“
Das ist ja ein Ding – jetzt hört der Spaß aber auf!
(Nee, im Ernst: ich dafür umso mehr)
Danke für den Tipp mit Joyce Porter, die kenne ich leider gar nicht und werde jetzt danach Ausschau halten. Zu der Zeit war ich noch mit Sjöwall/Wahlöö beschäftigt. Als ich da vor einigen Jahren nochmal reinschaute, war ich ziemlich ernüchtert über meine damalige Geschmacksverirrung: Fürchterlich moraltriefend und humorlos bis zum Anschlag. Alle ihre Fälle wanderten schnurstracks in die Gelbe Tonne.
@ nussknacker56
können Sie ein Beispiel dafür geben, wo Sie bei Raymond Chandler/Philip Marlowe gelacht haben?
Textstelle als Zitat wäre gut.
Lieber Herr Lichte,
der war gut. 😉
@Andreas Lichte, und wenn @ Nußknacker die gewünschten Beispiele nennt, muß er dir die Pointen erklären?
Der ist von mir.
@ nussknacker56
ich verstehe Sie nicht. Ich habe alle Philip Marlowe Bücher von Raymond Chandler gelesen. Im englischen Original (siehe auch meinen Kommentar #1)
Vielleicht antworten Sie einfach auf meine Frage:
können Sie ein Beispiel dafür geben, wo Sie bei Raymond Chandler/Philip Marlowe gelacht haben?
Textstelle als Zitat wäre gut.
@Andreas Lichte: Ich verstehe die Absicht Deiner Frage nicht. Welche Intention steckt hinter Deiner Frage? Hm.
@ Nina
Ich will einfach verstehen, was "nussknacker56" meint.
Hast Du "The Long Goodbye" gelesen? Kennst Du ein "melancholischeres" Buch?
Mal weg von Chandler. Da gibt es noch Norbert Klugmann mit u.a. "Beule oder wie knackt man einen Tresor," wurde auch mit einem bestens aufgelegtem Dieter Krebs verfilmt.
@ thomas weigle
Jetzt ist schon wieder was passiert. Ob du es glaubst oder nicht, Mordversuch an Raymond Chandler!
mit den Worten welches Krimi-Autors kommentiere ich Ihren – mörderischen – Themenwechsel?
@Andreas Lichte: Ja, habe alles von Chandler aufgesogen. Und musste auch oft lachen, denn Humor, Melancholie und Schmerz und Einsamkeit liegen oft nah beieinander. Man kann auch der Melancholie zulächeln wenn man gerade einen Highball in der Hand hat und dabei zusieht, wie hinter der zugezogenen Jalousie die Sonne untergeht.
@ Andreas Lichte Da muss ich passen. Es fallen mir aber noch zwei ein, die ich mal `ne Zeit lang gerne gelesen habe: Reinhard Junge(Datteln) und G.Wollenhaupt (Bierstadt), also Ruhrgebietskrimis. Auf jeden Fall wird da interessant gemordet und korrupt gehandelt. Meine Leidenschaft für Krimis, die im Grundschulalter am Bücherschrank meiner Patentante begann, ist allerdings seit einem Vierteljahrhundert so gut wie vorbei vorbei. gerade fällt mir noch Ky ein(Bramsche, Berlin) ein.
@ Thomas Weigle
man muss nicht Philip Marlowe heißen, um erfolgreich zu ermitteln … es reicht, folgendes mit google zu suchen:
"Jetzt ist schon wieder was passiert"
oder:
"Ob du es glaubst oder nicht" krimi
@ Nina
Raymond Chandler hat sicher Humor. Und Schwierigkeiten und Humor schließen einander nicht aus, im Gegenteil, Woody Allen:
"Alles in allem würde ich ihnen gerne eine positive Botschaft mit auf den Weg geben – ich habe aber keine. Würden Sie eventuell auch zwei negative nehmen?"
Aber der Humor Chandlers ist doppelbödig – "noir" –, das ist kein "Schenkelklopfer"-Humor …
Deshalb hätte ich gerne von "nussknacker56" erfahren, worüber er bei Chandler "Tränen lacht".
Zitat Nina: "Man kann auch der Melancholie zulächeln wenn man gerade einen Highball in der Hand hat …"
ob der "Highball" hier das passende Beispiel ist?
"The Long Goodbye is Chandler's most personal novel. He wrote it as his wife was dying. Her illness and death had a profound effect on him, driving him into fits of melancholy and leading him to talk of and even to attempt suicide. Two characters in the novel are based on Chandler himself; both of them highlight Chandler's awareness of his own flaws—his ALCOHOLISM and his doubts about the value of his writing.[3]
The character most clearly based on Chandler is the usually drunken writer Roger Wade. Like Chandler, Wade had a string of successful novels behind him, but as he grew older he found it more difficult to write. Also, like Chandler, Wade had written novels (romantic fiction) that were viewed by many as not real literature, whereas Wade wants to be thought of as a serious author. Wade also stands in for Chandler in discussions about literature, as in his praise of F. Scott Fitzgerald.
The other Chandler stand-in is Terry Lennox. Like Chandler, Lennox is an alcoholic. Also like Chandler, he had fought in a war, and the war left emotional scars. For Lennox, it was the Second World War; for Chandler, it was the first. Lennox is a Canadian citizen, but he had spent a great deal of time in England and retained the restrained and formal attitude of an English gentleman. This made him somewhat of an anomaly in the fast-paced and more informal world of wealthy Los Angeles, which he inhabited because of his wife's money. Chandler was also raised in England and received a classical education there. Chandler also retained a great love for the English and what he viewed as their more civilised way of life compared to the shallowness and superficiality of Los Angeles. This frequently put him at odds with screenwriting collaborators, such as Billy Wilder, and with most of Los Angeles and Hollywood society.[4][5]"
Quelle: https://en.wikipedia.org/wiki/The_Long_Goodbye_(novel)#Background
Herr Lichte, Sie scheinen es ja tatsächlich ernst zu meinen. Ich hoffe aber, dass Helmut Junge #8 jetzt nicht recht behält und ich noch weitere Ausführungen hinzufügen muss.
Eine Stelle aus „Der lange Abschied“, Diogenes, 1975, 104
Der Held kommt nach Hause, dreht den Fernseher an und besieht sich Boxkämpfe. Er lästert über den müden Schlagabtausch und schaltet auf einen Krimi um, der „in einem Wandschrank[!]“ spielt und ebenfalls nicht sein Gefallen findet, dazu kommt noch die nervige Werbung.
„… Und von der Reklame zwischendurch hätte einer mit Stacheldraht und Bierflaschenscherben aufgezogenen Ziege schlecht werden können.“
Also ich musste bei diesem launigen Vergleich direkt losprusten. Aber vielleicht bin ich auch nur besonders kitzlig.
@ nussknacker56
“And the commercials would have sickened a goat raised on barbed wire and broken beer bottles.”
ich "pruste da nicht los" … versuchen Sie es ruhig noch mal … wird schon!
Was lernt(!!!) uns die Diskussion: über Humor lässt sich trefflich streiten. Ist doch schön!!
@ Thomas Weigle
ich finde das Zitat – “And the commercials would have sickened a goat raised on barbed wire and broken beer bottles.” – nicht "zum prusten", sondern passend. Es illustriert Philip Marlowes – aka Raymond Chandlers – Verachtung für die US-amerikanische Konsumgesellschaft:
"When I got home I turned on the TV set and looked at the fights. They were no good, just a bunch of dancing masters who ought to have been working for Arthur Murray. All they did was jab and bob up and down and feint one another off balance. Not one of them could hit hard enough to wake his grandmother out of a light doze. The crowd was booing and the referee kept clapping his hands for action, but they went right on swaying and jittering and jabbing long lefts. I turned to another channel and looked at a crime show. The action took place in a clothes closet and the faces were tired and over familiar and not beautiful. The dialogue was stuff even Monogram wouldn't have used. The dick had a colored houseboy for comic relief. He didn't need it, he was plenty comical all by himself. And the commercials would have sickened a goat raised on barbed wire and broken beer bottles."
Ich habe den "Versteinerten" noch nie als humorbegabt, dafür als gänzlich ironiebefreit wahrgenommen.*
Ein Kommilitone hat mir zu Studienzeiten Artigkeit diagnostiziert, weil ich, so seine Aussage, Kafka gelesen hätte, Kafka verstanden hätte und immer noch lachen können … 😉
*Ohne belegbare Textstelle. Ironie ist nicht mehr witzig, wenn Idioten sie verstehen.
A: "Ist das Spaß oder Ernst?" *empört*
B: "Ernst!"
A: "Dann ist das OK, ich kann nämlich überhaupt keinen Spaß verstehen(sic!)!"
@Andreas Lichte #21 Doppelschmunzel!!!
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sh. 2.Satz:
"Je mehr der Mensch des ganzen Ernstes fähig ist, desto herzlicher kann er lachen".
-Schopenhauer-