Regionalexpress 1


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Eine Fahrt im Regionalexpress beeindruckte unseren Gastautor Alexander Kerlin so sehr, dass er seine Erlebnisse für uns aufgeschrieben hat.

17.35 Uhr Zustieg in Köln-Mülheim. Ich zwinge den Kinderwagen zwischen zwei Fahrrädern hindurch und bitte eine Frau mit Sommersprossen, keine 25, die mit Rollkoffer und Wollmantel für den Ruhrgebiets-Regionalexpress fast überqualifiziert wirkt, einen Platz aufzurücken. Das, versichere ich, sei für uns drei die einzige Möglichkeit hier noch zwei zusammenhängende Plätze zu ergattern. Und zugleich alternativlos; sie sähe ja selbst. Beim Aufstehen schnappt ihr Klappsitz zu, ansatzlos wie eine Mausefalle. Vielleicht habe ich zu laut gefragt, vielleicht geht von mir, einem meiner Mädchen oder uns als Trio eine gewisse Gefahr aus – ich habe die ungeteilte Aufmerksamkeit aller Fahrgäste im Abteil einschließlich der des anwesenden Bahnpersonals: ein Mittfünfziger mit Ähnlichkeit zu Franz Josef Strauß sowie eine Dame mit Stressflecken an Wangen und Hals, Alter unbestimmbar.

Meine Kleine: 7 Monate, um meinen Bauch geschnallt, sie schläft (noch). Die Große: zweieinhalb Jahre, mit weithin sichtbaren Spuren von Schokoladen-Eis auf Kinn, Jacke und Hose, lose festgegurtet in einem 800,- Euro Kinderwagen der Marke Teutonia, gut gelaunt (wieder, noch). Ein Mann (ich), allein unterwegs mit zwei derartig kleinen Kindern – das ist für die Leute immer noch sensationell. Sie sagen: „Chapeau!“ und meinen eigentlich: „Das geht auf keinen Fall gut!“ Am liebsten würde ich hier irgendwen zum Schach auffordern, damit alle im Abteil kapieren: Das ist ein Typ von der Sorte, der zwei Kinder im Regionalzug abwickelt und dabei noch Kapazitäten hat, sich in Kants „Kritik der praktischen Vernunft“ zu vertiefen. Mit dem Kinderwagen besetze ich den Eingangsbereich des Wagons (keine Alternativen), wohl wissend, dass ich damit an jedem der vor uns liegenden neun Bahnhöfe (Leverkusen, Düsseldorf-Flughafen, Düsseldorf, Duisburg, Mülheim an der Ruhr, Essen, Wattenscheid, Bochum und Dortmund) Scherereien mit anderen von Verspätungen oder häufigem Umsteigen gedemütigten Fahrgästen haben werde, sofern der „Ausstieg in Fahrtrichtung links“ liegt. Ich hebe die Große aus dem Kinderwagen (dabei wacht die Kleine auf), und nachdem sie in einer halsbrecherischen Aktion die Funktionsweise des frei gewordenen Klappsitzes herausgefunden hat, sitzt sie. Ihre Schuhe (Marke Adidas, Größe 24/25) baumeln im Rhythmus der Unbekümmertheit zwanzig Zentimeter über dem benoppten Linoleum. Die Kleine beschwert sich mit einer Art Krächzen. Über was, weiß der Geier.
Der Zug-Abfahrt sind drei unverzeihliche Fehler vorausgegangen: Erstens habe ich den Besuch bei Tante Fidi ebenso großherzig wie leichtfertig um einen Besuch in einer Mülheimer Eisdiele erweitert, der uns über eine Stunde Zeit gekostet hat. Eltern von ganz kleinen Kindern wissen, dass eine Stunde Verzug bei komplexen oder langwierigen Ortswechseln (wie von Köln-Mülheim nach Dortmund-Kreuzviertel) katastrophale Folgen haben kann. Sie kann darüber entscheiden, ob das Stimmungspendel der Kinder mittelfristig in Richtung Kooperation oder Widerstand ausschlägt. Ob das Abenteuer lachend gemeistert wird oder damit endet, dass der schwitzende Vater (also ich) mit schreiendem Säugling vor dem Bauch und wütend kreischendem Kleinkind im vor Übersäuerung brennenden Arm durch die Stadt rennt, im Nahbereich der Schlafenszeit, den leeren Kinderwagen mit der freien Hand mühselig steuernd, zwischen Schulter und Ohr geklemmt sein Handy, es tutet, jemand nimmt ab, es ist seine Frau, die Mutter der Kinder, und Vater keucht: „Komm mir doch bitte ein Stück entgegen. Schnell! Ich habe hier eine SITUATION!“. Zweitens habe ich dem Vorschlag von Tante Fidi (selbst noch ohne Kinder) nachgegeben, den von Köln-Mülheim nach Dortmund durchgehenden Regionalexpress zu nehmen – statt den ICE vom Kölner Hauptbahnhof, was mein ursprünglicher Plan war. Die Argumentation von Fidi war überzeugend und man hört sie von Reiseprofis auf der Ost-West-Trasse durch das Ruhrgebiet oft – dass nämlich der Regionalzug auf dieser Route nur ein-, zweimal öfter halte und daher kaum länger brauche als der ICE, der aufgrund der kurzen Distanzen zwischen den Städten sein Geschwindigkeitspotential ohnehin nicht voll entfalten könne und darüber hinaus natürlich deutlich günstiger sei. Lasse ich gelten, für Fahrten ohne sehr kleine Kinder ist das lückenlos argumentiert, bei Reisen mit sehr kleinen Kindern aber schlichtweg Schwachsinn.

Draußen setzt sich der menschenleere Bahnhof von Köln-Mülheim in Bewegung. Erleichtert lasse ich mich neben meiner Großen auf den letzten freien Platz im Abteil fallen. Es riecht nach Schweiß, Scheiße und Gummi. Die Große bekommt ein Buch in die Hände, es ist nach seiner Hauptfigur benannt, „Elmar“, ein bunt karierter Elefant, Outsider und Held der Herde zugleich, der sein Paradiesvogeldasein satt hat und endlich genauso konformgrau aussehen möchte wie seine Freunde, der sich daraufhin in einem Haufen grauer Beeren wälzt bis keine bunte Haut mehr zu sehen ist – nur um dann in einer bitteren Lektion feststellen zu müssen, dass das Dasein in der Verwechselbarkeit völlig deprimierend ist, außerdem vermissen ihn seine Freunde als Herden-Hallodri –, aber zum Glück stellt ein Regenschauer die alten Haut- und damit Gesellschafts-Verhältnisse wieder her und als Erinnerung an dieses Abenteuer mit gutem Ausgang feiern die Elefanten jetzt einmal im Kalenderjahr den Elmar-Tag, eine Art Fasching mit umfangreichem Body-Painting. Ein leidenschaftliches Plädoyer für die Individualität als solche.

Ich schäle die Kleine aus der Manduka der Marke Manduka und setze sie mir auf den Schoß. Sie blickt mit großen Augen ins Abteil. Mit plötzlicher Demut vor der Vielfalt der Erscheinungen flüstere ich ihr eine Gedichtzeile von Brecht ins Ohr, wie zur Ermutigung oder Entschuldigung für den Zustand der Welt, in die sie sich geworfen findet: „Denn nicht schlecht ist die Welt, sondern voll“. Uns gegenüber sitzt eine vierköpfige Familie, angeordnet wie auf einem Bild aus dem Biedermeier, die Blicke stolz auf die Zukunft gerichtet. Zwei Meter hoch thront Vater in der Mitte, ein Vorschlaghammer, daneben sein Sohn mit verängstigt im Schoß gefalteten Händen. Am linken Bildrand im Profil sitzt Mutter. Auf ihren Unterarmen sind in roten Schwüngen zwei Namen tätowiert: Julian und Emily. Davor, angekettet in einem Kinderwagen, das etwa dreijährige Mädchen, ein Loch in der Luft betrachtend (sehr wahrscheinlich handelt es sich hier um Emily). Ich bekomme noch das Ende eines heftig vorgetragenen Monologs vom Vater mit, die sich um die Sehnsucht nach einem „arschkalten Bier“ mit „sonner“ (mit der Hand formt er einen kleinen Hügel in die still stehende Luft im Abteil) Schaumkrone dreht – da greift Emily nach ihrem Schuh, was sofort zu einer Erziehungsattacke der Mutter führt („Nirgendwo kann man dich hinnehmen, verdammt“), als ob das Fahrradabteil eines Regionalzuges eine Art Casting-Studio wäre, in dem drittklassigen Fernsehproduzenten auf der Grundlage von Emilys Benehmen endgültig über ihre Zukunft im Showbizz entscheiden würden. Mutter blickt verunsichert oder Beifall suchend umher, schwer zu sagen. Vater runzelt die Stirn, kann sich augenscheinlich aber nicht entscheiden, ob ihm eher die Frau oder die Tochter auf die Nerven geht, oder ganz allgemein diese gesamte verdammte Schöpfung.

Ich starre auf den Boden. Im ICE wäre ich jetzt im Genuss eines Kinderabteils, in dem man Babys zum Krabbeln (bzw. Robben und Kugeln) auf den Teppich legt, mit Glück ein paar Spielgefährten mit ähnlichen Interessen kennenlernt und immer auf volles Verständnis für volle Windeln trifft, auch für die problematischen, die man dann im anliegenden Unisex-Großraum-WC mit eingebautem Wickeltisch verhältnismäßig stressfrei vom Kind entfernt, während vielleicht die Mutter der Spielgefährten einen hütenden Blick auf das zweite Kind wirft, das sich dann, während die Schwester gewickelt wird, weder dem WC-Mülleimer nähern noch auf den voll gepinkelten Boden um die Kloschüssel werfen kann (weil es wegen Gott weiß was wieder sauer ist). Ich hätte es wissen müssen.

Der dritte Fehler schließlich war es, vorab keine feste Zug-Verbindung rausgesucht zu haben: eine sinnlose Überstrapazierung meines Glückkontos für den Tag und eine unbegründete Überschätzung der Fahrplan-Taktung am Bahnhof Köln Mülheim, der zwar von vielen Zügen am Tag durchfahren wird, die jedoch nur selten mehr als kalten Fahrtwind und ein bedrückendes Gefühl der Bedeutungslosigkeit im Stadtteil hinterlassen. Als ich mit meinen Kindern die Bahnhofshalle betreten habe, zeigte die Uhr 16.05 Uhr. Ja, eine Bahnhofshalle, die den Namen noch verdient: mit einer Stimmung wie in den frühen 90ern (des zwanzigsten Jahrhunderts). Ohne „Kamps“, ohne „Ihr Platz“, dafür menschenleer, wahnsinnig dreckig, mit einer einzigen Bank, auf der fast mittig (aber eben nur fast) ein Mann sitzt, Kopf auf der Brust. Die Haare verdecken das Gesicht, in der rechten Hand hält er eine fast leere Flasche Bier, die im Winkel von 45 Grad auf der Bank abgestützt ihm ständig aus der Hand zu gleiten droht (aber nie wirklich fällt). Der Mann wird im Rhythmus seiner Atemzüge vom Sekundenschlaf übermannt. Ein Kerl wie aus den 80ern. Das kann man grundsätzlich natürlich alles bedenklich finden, mich durchflutet für Momente eine wohlige, nostalgische Melancholie.

Am Fahrkartenautomat. Die Große torpediert mein Bemühen, irgendetwas über Fahrplan und Ticketpreise in Erfahrung zu bringen, und zwar durch reflexartiges Drücken der Abbruch-Taste (rot). Ich schicke sie energisch weg, sie übersetzt meine Energie in einen beherzten Marsch Richtung Bank, wo sie sich breitbeinig vor dem Mann mit der Bierflasche aufbaut, als suche sie ein Duell. Noch schläft er. Ab diesem Moment wird die Fahrplan-Auskunft für mich zu einer Art Tanz, bei dem ich mich alle fünf Sekunden um die eigene Körperachse drehe, weil ich einerseits natürlich schnell erfahren möchte, mit welchem Zug und wann wir diesen gottverlassenen Flecken Erde verlassen werden, andererseits aber den Fortgang von „High Noon“ nicht verpassen möchte. Die Kleine schläft friedlich, aber die sechs Schichten Stoff zwischen ihrer und meiner Brust sind nass vom Schweiß. Die Große geht noch einen Schritt auf den Schlafenden zu, ihre Arme hängen locker am Körper herab, die Handflächen zeigen nach innen, „was bei starken Mäusen ein Zeichen von großer Kraft ist“ (Janosch). Nächste Abfahrt Richtung Dortmund: 16:59 Uhr. Ich schaue vom Fahrplan auf die Uhr, von dort aus noch mal zum Fahrplan, dann noch mal etwas intensiver auf die Uhr, dann noch mal mit aller Kraft auf den Plan. Einmal mehr erweist sich das Universum als unnachgiebig und mitleidlos. Eine knappe Stunde Wartezeit. Es gibt Momente, in denen man auf einen Schlag versteht, dass ein gerade noch gelungener Tag kippen wird, und zwar nicht in Richtung Glück. Der Mann auf der Bank öffnet langsam die Augen und starrt auf einen neunzig Zentimeter hohen Mini-Menschen, der noch wenig vom Leid der Welt und nichts von der Welt seines Leids weiß. Er muss – tatsächlich – lächeln. Die Große riecht an seinem Bier und dreht sich mit weit aufgerissenen Augen zu mir um.
Intermezzo auf Bahnsteig 3 (den zu erreichen recht komplex war: keine Rolltreppe, kein Fahrstuhl, und den Mann auf der Bank mochte ich nicht um Hilfe bitten), das Leben ist ein nie enden wollender Lernprozess: a) Gruppen aus fest miteinander verschweißten Stahlstühlen sind keine geeigneten Klettergerüste. Zweijährige können in die Zwischenräume fallen, dabei mit dem Kinn auf der Armlehne aufschlagen und sind anschließend nur mit Mühe zu befreien, b) Auf dem Bahnhof Köln-Mülheim kommt im März zu orkanartigen Windstößen, so dass Babymützen schon mal davonfliegen wie trockenes Eichenlaub, c) Einem Baby eine Flasche Pulver-Milch anzurühren und zu verabreichen, ist auch dann möglich, wenn einem das Baby fest um den Bauch geschnallt ist, man friert und dabei alle 60 Sekunden die Frage der Großen verneinen muss, ob der gerade durchfahrende Zug nun endlich unser ist, d) Es gibt Momente, in denen selbst die leidenschaftlichsten Gegner von Überregulierung (ich) Raucher mit Fußtritt in die zum Rauchen vorgeschrieben gelben Quadrate schicken möchten, nämlich genau dann, wenn sie sich eine Zigarette anzünden, den Qualm einem weinenden, weil zwischen Stühlen feststeckenden Kleinkind ins Gesicht pusten, und ihm tröstend durchs Gesicht streicheln, e) die voraussichtliche Verspätung unseres Zuges beträgt 30 Minuten (macht 90 Minuten Wartezeit total).

Vater runzelt also die Stirn, kann sich augenscheinlich aber nicht entscheiden, ob ihm eher die Frau oder die Tochter auf die Nerven geht, oder ganz allgemein diese gesamte verdammte Schöpfung. Am Ende des Abteils gibt es Tumult. Auslöser ist die mit Luftdruck betriebenen, zwei Meter breiten Tür zur Behindertentoilette, die fast die gesamte Stirnseite des Abteils einnimmt. Selbstverständlich ist die Erfindung dieser Tür ein wichtiger Schritt in der Geschichte der Barrierefreiheit bei der Deutschen Bahn, aber die Technik ist nicht ganz leicht zu bedienen. Die Bahn hat sich für eine Armatur mit drei Druckknöpfen entschieden: ein Knopf oben, der die Tür auffahren, einen darunter, der sie zugehen lässt – und einen dritten, ganz unten, der sie verriegelt. Die Symbole für die einzelnen Funktionen sind, naja, sagen wir, anschaulich gewählt aber doch nicht ganz unmissverständlich: < > bedeutet „auf“, > < „zu“, und ein Schlüssel heißt „Verriegeln“. Die Leuchte darunter kann zwischen den Farben grün und rot wechseln, und ein rätselhafter Aufkleber am untersten Ende der Leiste zeigt (zur Erklärung? Zur zusätzlichen Verwirrung? Einfach nur so?) eine Art Triptychon aus Schlüssel und zwei Kreisen, einem grünen und einem roten.

Die Sommersprossige mit dem Rollkoffer hat einen Flirt mit der Kleinen auf meinem Schoß angefangen. Die Kleine, völlig unbeeindruckt von Familie Biedermeier, dem Tumult an der Klotür und der Trostlosigkeit dreckstarrer Fensterfronten hinter denen sich schemenhaft Köln verabschiedet, lacht zahnlos und mit aufgerissenem Mund, mit einem tief ins Herz fahrenden Vertrauen in das Gute, Schöne und Wahre. Ihre Augen blitzen. Sie wirkt, als wollte sie sich von innen nach außen stülpen. Ich atme. Gerade will ich mich den Biedermeiers ästhetisch und organisatorisch um Längen voraus fühlen – aber ich komme nicht dazu, das ist immer so mit Kindern: sie stimmen einen demütig, und zwar vor allem vor anderen Eltern. Nichts mit Überlegenheit. Das Buch von Elmar dem Elefanten fällt in einer Pfütze unbekannter Flüssigkeit zwischen unseren Sitzen und die Große zieht sofort einen gefährlichen Fluntsch. Und wie x-mal an einem Tag mit Kindern stellt sich wie aus dem Nichts eine ethische Frage: Elmar retten oder liegen lassen? Ich entscheide mich für retten, fische mit der freien Hand ein paar Taschentücher aus dem Rucksack und will mich gerade nach dem Buch bücken, da wird die andere Hand unter dem Windelhintern meiner Kleinen feucht, oder warm, was bekanntlich schwer zu unterscheiden ist (seltsame Trickkiste Sinneswahrnehmung): Die Speicherkapazität der Windel ist ausgeschöpft, oder die Windel ist verrutscht. Ich sacke innerlich zusammen, sammele mich wieder, sacke wieder zusammen, und wie zur Flucht vor den schadenfrohen Blicken der Biedermeiers (eingebildet) starre ich auf das klitschnasse Titel-Bild von Elmar dem karierten Elefanten – – – und mein ganzes Sein verliert sich in dem Bild, dringt in sein Verschwinden selbst, die Konturen der Zeichnung fransen bereits aus; Elmars Farben werden blass und mischen sich miteinander, sein Körper diffundiert in den eigenen Hintergrund hinein, der ihn wiederum Millimeter für Millimeter verschlingt; es ist wie bei der Blüte der Sauerkirsche: ein friedliches und rasches Werden und Vergehen.
Für alle Klobesucher aus dem letzen Jahrhundert, die aus sehr alter Gewohnheit nach einem Schieber oder Drehknopf suchen oder die sonst wie zum erstem Mal mit dieser automatischen Tür konfrontiert sind, birgt sie bedrohliche Hindernisse. Gefahr 1: Unter hohem Zeitdruck nicht schnell genug herauszufinden, wie man sich verlässlich vor den anderen Fahrgästen verschließt. Gefahr 2: Den Schlüssel-Knopf zu kurz, oder aus Versehen zweimal zu drücken, oder naiver Weise anzunehmen, dass > < auch gleichzeitig „Verriegeln“ bedeutet (eine grenzenlose Naivität) – so dass man mit Pech mitten beim Geschäft den Blicken des ganzen Fahrradabteils ausgesetzt wird, wenn z.B. der oder die Nächste in der Schlage auf die Idee kommt, gedankenlos den „Auf“-Knopf auszuprobieren. Gefahr 2 ist besonders pikant, weil die Tür fast schon provokativ langsam auffährt (und zufährt) und darüber hinaus aufgrund ihrer Breite das Bild in seiner ganzen detailreichen Schönheit freigibt. Diese Tür ist einfach gefährlich – und das ist auch der Grund, warum sie im Fahrradabteil vom Regionalexpress keinen geringen Teil dazu beiträgt, dass Reisende ihre Großstadt-Isolation überwinden und einander besorgt fachsimpelnd näher kommen.

Jede schwierige Situation mit Kindern kann schwieriger werden. Die Große wird still, ihr Gesicht spannt sich an. Es konnte nicht warten. Die Sommersprossige hat ihren Flirt mit meiner Kleinen unterbrochen und sieht nun höflich aus dem Fenster. Elmar, bzw. was von ihm noch nicht in die ewigen Seinsgründe zurückgeflossen ist, wird erstmal liegenbleiben müssen. Ich habe Halsschmerzen. Warum bemerke ich das jetzt? Der Zug passiert eine Weiche, zwei Dutzend Fahrgäste im Abteil schütteln synchron mit dem Kopf. Ein Rennrad, das neben mir an einem der silbernen Haltestangen lehnt, fällt mit leichter Zeitverzögerung (rätselhafte Kräfte in den Dingen) um und rammt mir seinen Lenker in die Hüfte. Ein Hobbyrennfahrer im Profioutfit, er hat seinen Helm im Zug merkwürdiger Weise aufbehalten, stürzt vom anderen Ende des Abteils zu uns herüber und zieht das Fahrrad aus meiner Hüfte. Er entschuldigt sich hektisch. Ich nicke erschrocken und froh, dass der Lenker nicht in der Fontanelle meiner Kleinen steckt. Es ist 17.45 Uhr, wir sind seit zehn Minuten unterwegs. Ich habe Schmerzen in der Hüfte und ein Unheil verkündendes Brennen im Rachen, zwei winzige Kinder mit vollen Windeln in einem völlig überfüllten und verdreckten Regionalzug. Hinzu kommen erste ernstzunehmende Verluste an der Entertainment-Front (Elmar). Bis Dortmund sind es noch 60 Minuten.
Die Protagonisten des besagten Tumults an der Klotür sind eine Frau um die siebzig und drei hilfsbereite Fahrradhelme aus der Clique des Lenker-Killers. Gerade ist die Toiletten-Tür zum dritten Mal wieder aufgefahren, ohne dass die zunehmend in Zeitdruck geratende Dame auch nur die Chance gehabt hätte, zu tun, was zu tun ist. Tanzende Fragezeichen entsteigen ihrem dünnen, lila gefärbten Haupthaar und sammeln sich unter der Decke zu kleinen Grüppchen der Verzweiflung. Die technikversierten Männer erklären ihr geduldig die Funktionsweise der Tür und wie man die Knöpfe korrekt bedient, widersprechen sich aber immer wieder in entscheidenden Details.
Es riecht und meine Kinder werden unruhiger. Ich krame nach Kalendersprüchen aus dem gedanklichen Umfeld der Aufklärung, die doch dem bedächtigen Tun eine Menge zutraute: erst denken, dann handeln. In meiner Lage kann viel schief gehen, gerade wenn man sie zu verbessern versucht. An Wickeln ist vorerst nicht zu denken, ich gehöre nicht zu den Vertretern der Wickeln-ist-doch-so-natürlich-wie-der-Duft-von-hundert-Rosen-und-deshalb-wickel-ich-auch-an-der-Käsetheke-Fraktion, weshalb ich auf meine Chance warten muss, mich selbst mit meinen Kindern hinter der Toilettentür einzuschließen.

Erstmal trage ich der Großen aus dem Buch „Bobo-Siebenschläfer“ vor, ein weiteres Highlight am ewigen Firmament der Kleinkindliteratur. Bobo-Siebenschläfer ist, na klar, ein Siebenschläfer, und die zahllosen Bücher über diesen frechen Protagonisten erzählen in provozierend einfachen Sätzen von seinen „Abenteuern“ auf Spielplätzen, in Zoos und im Schwimmbad. Neben den Biedermeiers sitzt eine Frau um die Vierzig im Rollstuhl, mit kurzen Beinen und langem Oberkörper, die Haare blond gefärbt und zu glänzenden Stacheln in die Luft gegelt. Sie lächelt mit dieser benebelten Rührung in meine Richtung, die Leute angesichts einer Vorlese-Idylle mit Kleinkindern überfällt; aber jede Rührung ist nun mal blind für die schiere Materialität von Situationen: Vielleicht hat die Frau im Rollstuhl eine schlechte Nase oder sitzt einfach zu weit weg. Ich lächle zurück. Das rote Besetztzeichen leuchtet jetzt. Endlich. Einer der Fahrradhelme wischt sich erleichtert den Stressschweiß vom Kinn. Ich hoffe das Beste für die Dame.

Bobo-Siebenschläfer ist ein echter Page-Turner. Die Handlung steigt mit scharfem Konflikt ein, schon auf der ersten Seite geht es darum, dass Papa-Siebenschläfer lieber Zeitung lesen möchte als mit Bobo einen Bauklotzturm zu bauen. Ich entwickle sofort Sympathie für die Position des Vaters und habe eine Identifikationsfigur ganz für mich allein. Ich lese betont gelassen. Ich habe hier alles im Griff. Hier brennt nichts an, trotz Krisenwindeln. Ah, sieh mal einer an, Emily Biedermeier hört auch zu. Ihr Bruder Julian krampft die Hände ineinander, aus seinem Mundwinkel läuft Spucke. Mutter Biedermeier bittet Vater Biedermeier um einen Schluck aus der 1-Literflasche Sprite im Aufbewahrungsnetz des Kinderwagens, aber Vater hat wenig Lust, sich nach der Flasche zu bücken: „Ich bin hier doch nicht dein Diener geworden, is dat klar?“
Die Toilettentür, vor der sich eine Schlange gebildet hat, fährt auf. „Pffft“. Stille. Die Dame kommt erschöpft und erleichtert (alles gut gegangen) heraus und fragt, ob sich jemand erinnern könne, von wo aus sie das Abteil betreten hat. Sie möchte gerne den Rückweg zum Platz antreten, aber in die richtige Richtung. Das ist verständlich. Am Rande meines Sehfelds lehnt jetzt ein Bodybuilder mit Bauchansatz am Fenster. Er trägt ein schwarzes T-Shirt mit zwei weißen Pfeilen, einer weist in Richtung Mund, der andere in Richtung Schritt. Dazwischen die Aufschrift: Bier rein, Bier raus. Mein besorgter Blick gilt der Dame, die das Abteil nun in Fahrtrichtung verlässt, der Mehrheitsentscheidung der Fahrgäste folgend (zwei Stimmen für Fahrtrichtung, eine gegen die Fahrtrichtung, ca. 15 Enthaltungen/ungültige Stimmen). Bier-rein-Bier-raus betritt das WC. Die drei Fahrradhelme sehen diesmal keinen Unterstützungsbedarf.

Meine Große wird unruhig, sie beginnt auf ihrem Sitz zu turnen und sucht in ihrer unmittelbaren Umgebung nach Möglichkeiten, ein paar Höhenmeter zu machen (z.B. über die schmale Fensterbank, den grauen Rollkoffer der Sommersprossigen, meine Schulter). Meine Kleine flirtet wieder, diesmal mit dem Stachelkopf, die Sommersprossige liest „Intouch“. Emily packt gerade ihre dritte Packung Goldbären seit Leverkusen aus, sitzt aber ruhig. Neben ihr ist ein weiterer Erdenbewohner aufgetaucht, ein Türke vermutlich, um die vierzig mit dickem Bauch und dunkelblauem T-Shirt, auf dem in weißen Schwüngen tatsächlich steht: BREAK THE HIGHSCORE – HUMILIATE YOUR OPPONENTS. Julians Hände, die aussehen wie die eines Maulwurfs, nur kleiner, umklammern eine Dose Fanta, als wäre sie die letzte Hoffnung auf Erden.

Die Berührungsfläche zwischen meiner Hand und dem Windelhintern der Kleinen ist noch nass, aber nicht mehr warm. Ich wage kaum, umzugreifen. Mit der freien Hand taste ich meine Lymphknoten ab, ich bilde mir ein, sie seine auf die Größe von Tischtennisbällen angeschwollen. Ich fürchte mich völlig unverhältnismäßig vor Erkältungen. In Düsseldorf-Flughafen steigt eine japanische Mami mit ihrer Tochter zu. Riesige, braune, zweijährige Augen sehen mich seelenruhig aus den Tiefen eines Luxus-Buggys an. Die Händchen umklammern jeweils einen Traubenzucker-Lutscher, was meiner Großen nicht entgeht. Von ihrem Aussichtspunkt auf der Fensterbank aus hat sie längst auch Emilys Gummibärchen gespottet, und nun wechselt ihr Blick zwischen Emily und dem japanischen Mädchen hin und her, mit diesem glasigen und ganz und gar humorlosen Gesichtsausdruck von Süßigkeiten-technisch kurz gehaltenen Kindern, sobald sie irgendwo Zucker vermuten. „Willst du einen Schluck Wasser aus deiner neuen Trink-Flasche?“ sage ich, um sie abzulenken. Dass sie angesichts einer solchen Frechheit nicht ansatzlos in Tränen ausbricht, ist im Grunde eine Sensation. Mir schießt ein schmerzhaftes Bild aus den ersten Jahren meines Lebens in den Sinn. Meine Mutter sitz in der von Sonne durchfluteten Küche, vor sich eine flache Schüssel mit fünf sogenannten „Augustäpfeln“ aus dem eigenen Garten, allesamt entstellt von Druckstellen, Wurmlöchern und anderen undefinierbaren Flecken und Pickeln. Die Stimmung im Bild ist die einer erdrückenden Scham gegenüber zwei Neunjährigen (meine Freunde) mit Grasflecken am Knie (vom Fußball im Garten), die meiner Mutter auf der Küchenbank gegenüber sitzen. Mit ausdruckslosen Gesichtern, in denen die Schweißperlen glänzen wie Tränen der Enttäuschung, sehen sie meiner Mutter dabei zu, wie sie die hellgrünen Äpfel mit dem mehligen Mark für sie viertelt. Nein, auch damals gab es bei uns kein Duplo und Hanuta, wenn nicht gerade Weihnachten war. Der Augustapfel fällt nicht weit von Stamm. Traumata vererben sich über Generationen.

Neben dem WC-Eingang schiebt eine fleischige Pranke einen Jugendlichen mit Kopfhörern zur Seite. Franz Joseph Strauss betritt das Abteil, als wäre es sein Wohnzimmer (naja, es IST sein Wohnzimmer), und fragt nach den zugestiegenen Fahrgästen, und für einen Moment bin ich mir unsicher, ob sein Auftritt gerade nicht tatsächlich von Donnergrollen unterlegt war. Meine Große verlangt lautstark nach Geld („Ich will Geld!“), warum auch immer und von wem auch immer. Draußen zieht Duisburg im Schneckentempo vorbei. Die Dämmerung hat eingesetzt, zwischen fünfstöckigen Häusern brechen rote Sonnenstrahlen hervor, in denen der Staub tanzt, seinen ewigen Tanz der Gleichgültigkeit. Oh und ach, was ist es eine düstere Lust, ins Ruhrgebiet einzufahren. Der Zug kommt zum stehen; draußen kein Bahnsteig weit und breit. Durch die Lautsprecher ertönt die Stimme der Dame mit den Stressflecken. Die Verspätung beträgt inzwischen vierzig Minuten. Eine technische Störung. Daher der Halt. Mit einer Hand fische ich aus meinem Portemonnaie einen Bärentaler und halte ihn der Großen vor’s Gesicht (Bärentaler bekommt man für Einkäufe ab 5,- Euro in der Bären-Apotheke im Dortmunder Kreuzviertel. Man kann die Bärentaler als Chip für Einkaufswagen verwenden, aber auch bei verschiedenen Einzelhändlern im Viertel gegen Waren eintauschen, zum Beispiel beim Vorwerk-Bäcker gegen Backwaren im Wert von sechzig Cent: eine tolle Initiative für das Quartier mit vielen Gewinnern). Die Stachelige lächelt noch immer, inzwischen sitzt sie völlig unbeweglich und fixiert einen Punkt am Ende des Universums, der irgendwo in meinem Rücken liegt. Ihre Haut schimmert wie Käse oder Wachs, als hätte man sie direkt von Madame Tussaud’s hierher gerollt.

„Pffft“. Bier-rein-Bier-raus tritt in die sich öffnende WC-Tür und trocknet sich mit einem grünen Papierhandtuch die Hände. Er steht breitbeinig da, sein Blick fällt auf die Sommersprossige, er mustert sie mit mäßigem Interesse. Die Fahrradhelme beginnen damit, ihre Räder zu enthakeln, lustlos und mit auffällig viel Reibungsverlust – meiner Ansicht nach ein Aktionismus ohne Grund, wer weiß wann es hier weitergeht. Als hätte sie einen freien Willen, stoppt die aufgehende Toilettentür auf drei Vierteln ihres Wegs, wechselt die Richtung und schließt sich wieder. Bier-rein-Bier-raus reagiert mit verhängnisvoller Verzögerung und macht dann zugleich einen Sprung nach oben, einen Schritt nach vorn und einen Schritt nach hinten (= null). Sein Papierhandtuch segelt zu Boden, und nun kann der arme Kerl machen was er will, sein selbst gewähltes Image (irgendwas Unantastbares zwischen Ballermann und Til Schweiger) ist dahin: Eine Zug-Tür hat ihn im Klammergriff, sie wechselt im Takt von Millisekunden die Richtung und massiert ihm keuchend oder pfeifend die Schulter, eine Schulter, groß wie ein Basketball und bronzen glänzend wie eine antike Skulptur. Für den Bruchteil einer Sekunde steht der ganzen Schrecken angesichts einer unvollständigen Schöpfung in seinem Blick (schrecklich tritt die ganze Verlorenheit des Daseins zutage).

Die Kleine gibt einen leisen Ton von sich. Für Außenstehende vermutlich wenig bemerkenswert, mache ich an der Hörgrenze oder gut verborgen in den Obertönen eine Weinerlichkeit aus, die mit Zurückhaltung aber doch unmissverständlich vom kommenden Krieg kündet, falls man bestimmte Bedingungen nicht erfüllt. Milchpulver habe ich noch, aber wo sollte ich in diesem verfluchten Zug heißes, keimfreies Wasser herbekommen? Die Große begibt sich von ihrem Aussichtspunkt herunter und baut sich mit dem Bärentaler in der Faust entschlossen vor den Buggy mit der kleinen Japanerin auf, die ihre Lutscher zwar weiterhin fest umklammert, sie jedoch offensichtlich völlig vergessen hat. Will sie ihr die Lollies abkaufen?

Vor mir baut sich Franz Joseph Strauss auf, ein Gasometer in Uniform. „Was tun Sie, wenn es brennt?“ fragt er mich. Ich bin unsicher, ob er einen Witz machen will oder ein Lehrstück aufführt. Ich kann nicht einmal einschätzen, ob der Mann freundlich ist und unfreundlich tut oder unfreundlich ist und freundlich tut. „Sagen Sie es mir,“ sage ich. Die Große lässt ihren Traum vom Traubenzucker fahren und mischt sich in unser beginnendes Gespräch, völlig unbeeindruckt vom Volumen des Mannes: „Ich will eine Fahrkarte haben.“ Ah, dafür das Geld. Ich finde das ungeheuer schlau für eine Zweijährige und schiele zu Vater Biedermeier, ob er das auch mitgeschnitten hat. Strauss: „Wenn es brennt, müssen Sie fliehen können.“ Stimmt, denke ich, aber es brennt ja gar nicht. Außerdem ist mir die Ausgangsfrage zu unkonkret. Wo genau brennt es in dem besagten Szenario? Und bin darin ich in Gefahr, oder meine Kinder, oder die anderen Fahrgäste, oder Familie Biedermeier, oder ist es jemand ganz anderes? Strauss zwinkert meiner Großen in Schaffnermanier zu und zieht mit einer pathetischen Geste, als sänge er gerade die Hauptrolle im Troubadour, die Ticket-Maschine aus der Innentasche seiner Uniform. Plötzlich legt sich seine Stirn in Falten, ganz ungespielt und mit ernstem Ernst, als müsse er noch darüber nachdenken, ob man für einen Bärentaler von hier aus nur bis Wattenscheid oder doch bis ganz nach Dortmund kommt. Er drückt auf dem Eingabefeld der Maschine herum, als hätte er sie zum ersten Mal in der Hand, und während die Große ungeduldig zu ihm aufblickt und ihm die Münze entgegenstreckt, dämmert mir etwas.

Fehlt nur noch, denke ich in einem Anfall eingeübter Gereiztheit, dass er mir einen triumphierenden Zeigefinger unter die Nase hält und über einer langsam lauter werdenden Parsifal-Overtüre in Dauerschleife zuruft (während ich jedes seiner Worte riechen, ja, fast schmecken kann): „Ich sage nur: Fluchtwege!“. Aber das muss er nicht rufen, das übernimmt schon mein Über-Ich für ihn. „Das ist eine schlaue rhetorische Frage von Ihnen,“ sage ich, „wo hätte ich den Kinderwagen sonst hinstellen sollen?“ Ich richte mich auf und spanne die Bauchmuskeln an, in gespannter Erwartung, gleich wieder einmal einen völlig falsch verstandenen kategorischen Imperativ abwehren zu müssen, der in solchen und ähnlichen Situationen häufig vorgetragen wird – von diesen ganzen Idioten mit ihren Teetässchen voll exekutiver Macht, die sich zu Hütern des Rechts hochstilisieren oder zu Vorsitzenden eines Ethikrats („Wenn das alle machen würden!“ „Mir sind da die Hände gebunden.“ „Ich verstehe Sie ja, aber Vorschrift ist Vorschrift“). Aber der gute Mann hört schon nicht mehr zu, nichts dringt an sein Bewusstsein, denn er muss seine kleine Maschine dazu bringen, einen beliebigen Streifen Papier für ein Kleinkind ohne Zahlen- und Buchstabenkenntnisse (fast ohne, sie kann A, O, 2 und Y, wobei sie ein A schon mal mit einer 4 verwechselt, aufgrund einer Ähnlichkeit in der Form, für die ich 33 Jahre alt und Vater werden musste, um sie zu bemerken) auszudrucken, wobei natürlich sein Abrechnungssystem nicht durcheinander geraten darf: Ich vermute, dass sein Gerät keine Tickets für 0,- Euro vorsieht, daher die Stirnfalten. Mich rührt die Humorlosigkeit und Hingabe, mit dem er das Spielangebot meiner Tochter annimmt, und schon tut es mir leid, dass ich zickig war. Die beiden sind so sehr in ihren Handel vertieft, dass sie nicht bemerken, wie sich der Zug wieder in Bewegung setzt. Der Gemeinwohl gefährdende Kinderwagen schaukelt im Takt der letzten Weichen, bevor wir wieder zum Stehen kommen. Duisburg, alte Perle. Ausstieg in Fahrtrichtung rechts.

Mir ist heiß und kalt. Gegenüber von uns, zwischen der Stacheligen und dem Hammer, wird eine Bildzeitung aufgeschlagen; sie verdeckt ein Gesicht, an das ich mich bereits im Moment seines Verschwindens nicht erinnern kann. Manchmal müssen Menschen erst abhanden kommen, damit man sie bemerkt; ein deprimierendes Paradox. Unter der Zeitung schaut eine dunkelblaue Trainingsjacke hervor, darunter eine schneeweiße Hose aus Ballonseide und türkisene Nikes. Ich versuche, aufgrund der Hände darauf zu schließen, ob es sich um eine Leserin oder einen Leser handelt. Mein Blick gleitet an den weißen, geschlechtslosen Fingern ab und lässt sich in die von „BILD“ gestellte Frage des Tages verwickeln, nämlich ab wann man ein Nazi ist. Heino hat anscheinend Jan Delay verklagt, weil der ihn einen „Nazi“ genannt hat, ob in einem Lied, einem Interview oder vis-à-vis, kann ich nicht erkenne. Die Kleine erhöht Takt und Lautstärke ihrer Drohungen, lässt sich aber noch mit Pfeifen, Werfen, Schaukeln oder in die Haare Pusten beschwichtigen, d.h. zum Lachen bringen, d.h. zu einer Art Lach-Weinen: kurze hilflose Waffenstillstände, aber niemand rechnet mehr ernsthaft damit, jemals an den Verhandlungstisch zurückzukehren.

Die BILD wird umgeblättert. Dort, wo gerade noch BREAK THE HIGHSCORE stand, steht jetzt niemand mehr. Ich stelle mir vor, wie BREAK THE HIGHSCORE gerade das Duisburger Bahnhofsgebäude in Richtung Innenstadt verlässt und allein eine breite Fußgängerzone hinaufgeht, sehr langsam, an leeren Ladenlokalen (Schlecker) und Bikini-Werbung für H&M vorbei, Nieselregen setzt ein, er denkt an ein Mädchen in einem anatolischen Dorf, das er vor einer Ewigkeit geliebt und die ihn geliebt hat, heimlich haben sie sich in der Abenddämmerung am Fluss getroffen und geküsst, einzig die untergehende Sonne war Zeuge, rot und riesig wie ein Gott versinkt sie hinter den Hügeln, ihre Lippen sind heiß und feucht, ihre sich weitenden Augen sind dunkel wie die Nacht, und das Straßenpflaster wird weich, erst wie heißer Teer, dann wie Honig, schließlich wie Kartoffelbrei, und mit jedem Schritt versinkt der Mann ein Stück tiefer, bis zum Knöchel, bis zu den Knien, er bemerkt es nicht, schon steht ihm der Brei bis zum Hals und schlägt ihm über dem Kopf zusammen, und als hätte Orpheus auf seinem Abstieg in die Hölle noch einmal den Blick zurück nach Duisburg geworfen, erstarrt der Kartoffelbrei sofort wieder zu Stein, das Straßenpflaster ist zurück, und BREAK THE HIGHSCORE – HUMILIATE YOUR OPPONENTS ist für immer von der Erde weggewischt, und nicht einmal der Wind trägt diese schaurige Geschichte weiter.

Ich drücke meine Stirn gegen die kühle Scheibe. Ich habe bestimmt Fieber. Aber ich weiß, es ist unmöglich, durch Handauflegen bei sich selbst erhöhte Temperatur festzustellen. Ein ärgerlicher Umstand für Hypochonder. Mir ist klar: Von meiner bisherigen Strategie (buchstäbliches Aussitzen des Windelproblems) werde ich abweichen müssen. Die Tür zur Toilette steht weit geöffnet. Aber einladend ist anders. Sie erinnert mich an ein Fallbeil. Mittlerweile bin ich davon überzeugt, dass sie lebt. Bier-rein-Bier-raus sitzt erschöpft und irgendwie unglücklich auf einem der Plätze, die vorher von den Fahrradhelmen besetzt waren und wischt auf seinem iPhone herum. Vielleicht wartet er auf einen Anruf. Zumindest das Problem der Großen muss jetzt dringend gelöst werden, am besten noch bevor der Terror der hungrigen Kleinen losgeht.

Schuld- und Schamgefühle sitzen in der Brust und den Oberarmen, ungerichtete Wut (besonders unangenehm) im Brustkorb, nervöse Angst in den Knien und Oberschenkeln. Meine sogenannte Vernunft hat zu diesen drei Abenteuerspielplätzen des Gefühls nicht mehr beizutragen als die Empfehlung, mir nach Möglichkeit weiterhin wenig anmerken zu lassen, damit um Himmels willen keines der Gefühle auf die Kinder überspringt, weil man das, „glaube mir, mein Lieber, auf dieser Zugfahrt mit Sicherheit nicht mehr einzufangen wäre“. Enttäuschend, diese Rhetorik der Vernunft, ohne Phantasie und völlig machtlos. Im Grunde verwaltetet sie meine Gefühle nur – weit davon entfernt etwas Substantielles zu ihrer Bearbeitung beizutragen. Julian ist eingeschlafen, und selbst im Schlaf scheint er sich vor seinem Vater zu ducken. Emily popelt, die Sommersprossige liest weiter Intouch, kramt dabei gedankenverloren in ihrer Handtasche, der Stachel lächelt, lächelt, lächelt und mein Hirn verwandelt das ganze Szenario bereits in Text, ohne sich darüber bewusst zu sein: eine schreckliche, ganz schreckliche Marotte, aber sie trägt einen durch schwere Stunden.

Von der Toilette aus zieht ein Geruch durch das Abteil, der nicht dazu einlädt, auch nur irgendwo in der Nähe seines Herds (den ich mir als vollbesetzte Tribüne einer Pferderennbahn vorstelle, auf der nicht Menschen sondern Viren, Keime und Bakterien einer bösen Macht zujubeln, die man nur als überdimensionierten, für den Bruchteil eines Augenblicks in die Anwesenheit drängenden, schwarzen Pinselstrich wahrnimmt, weil sie so schnell an der Tribüne vorüber jagt) – der also nicht gerade dazu einlädt, einer zweijährigen Unschuld die Windel zu wechseln. Die Große ist den Tränen nah. Das wiederum liegt an Franz Joseph Strauss, der in Duisburg plötzlich aus dem Zug auf den Bahnsteig gestürzt ist, ohne vollendete Transaktion, und nach der abermaligen Abfahrt nicht wieder zurückgekommen ist. Wie soll man angesichts solcher Gepflogenheiten Kindern glaubwürdig vermitteln, dass es in der Welt so etwas wie stabile Beziehungen gibt? Den Bärentaler hat er natürlich auch mitgehen lassen, der Sack.

Die Stimme der Frau mit den Stressflecken kündigt uns Mülheim an der Ruhr an. Ich verspreche der Großen zum Trost mein iPhone, damit sie Selfies mit Ziegen von unserem letzten Zoobesuch ansehen kann, aber „erst, wenn wir hinter Bochum sind, hast du mich verstanden?“ Das iPhone ist der letzte Trumpf, weil ich aus Prinzip gegen Traubenzuckerlutscher als Bestechungs-, Beruhigungs- oder Euphorisierungsmittel bin. Die Große zeigt Verständnis und Vorfreude auf die Ziegenfotos. Sie referiert bereits: „Erst kommt Mülheim, dann kommt Wattenscheid, dann kommt Leverkusen, dann kommt Bochum, dann darf ich Fotos gucken, und“ – ab hier liegt Triumph in ihrer Stimme, jedes der folgenden drei Worte betont sie einzeln – „dann kommt Köln.“

In meiner Brust Gefühle wie Seufzer. Ohne es zu ahnen (Wirklich? Sind Menschen in ihren ersten Lebensjahren nicht weiser als auf dem Höhepunkt ihrer sogenannten Schaffenskraft?), schlägt meine Tochter für diese Zugfahrt also eine Beckett-Dramaturgie vor: die Kreisfahrt von Köln-Mülheim nach Köln-Mülheim, als Bild einer Welt, in der es weder Ziel noch Zuhause gibt, nur unendliche Redundanz, oder in der die Redundanz das Zuhause ist, oder in der es nur ein Ziel und ein Zuhause gibt, und das ist der Tod: wenn das Lebensgleis (die ewige Kurve) plötzlich über einem Abgrund endet, jede Stahlschiene ragt noch einen oder zwei Meter hinein in die Leere, am Horizont (vor dem Licht einer rätselhaften Farbe) stehen dunkle Wolken, in der Tiefe das schwarze, anziehende Meer, es verdampft eine schweflige Wärme, man hat den Abgrund immer erwartet und ihn doch nicht kommen sehen, die Wagons gehen in Luft auf, die Körper fallen oder schweben hinab, einer nach dem anderen (mit jedem gefallenen Meter wird die Luft dünner), zu Tausenden, jeden Tag, und Milliarden Gedanken und Ideen und Erinnerungen gehen ein in das ewige Alles oder Nichts.

Die Toilettentür fährt hinter uns zu, ich drücke auf Verriegeln. Das Licht hört auf zu blinken und leuchtet jetzt konstant. Endlich allein. Oder besser: endlich allein mit den Viren und Bakterien. Sind das Gliederschmerzen? Die Kleine habe ich wieder um die Brust geschnallt, in der Anhock-Spreiz-Haltung, was ungemütlich aussieht, jedoch für Babys angenehm ist, es erinnert sie an den Mutterleib. Sie wirft ihren Kopf in einer Mischung aus Neugier und Ärger im Sekundentakt nach hinten. Sie will mehr von der Welt sehen als nur den Stoff meines T-Shirts. Ich habe dieses Verhalten schon oft beobachtet, ohne das es böse Folgen gehabt hätte, daher bin ich nicht in Sorge um ihr Genick, diese verletzlichste weil schmalste Stelle zwischen Scheitel und Sohle. Die Große soll sich festhalten, nur wo? Ich suche mit ihr den größtmöglichen Abstand zum Klo.

Es gibt ein Lied der Band „Wir sind Helden“, das vor etwa drei Jahren auf dem Radiosender EinsLive lief, zumindest glaube ich, dass es von „Wir sind Helden“ ist, es könnte aber auch von Mia sein. Es gibt in diesem Lied eine Zeile, die geht ungefähr so: „Tief im Innern ist alles in Ordnung“. Ich habe mit dem überraschenden Gedanken sofort sympathisiert, etwa aus demselben Grund, warum ich mit einem ähnlich überraschenden Satz aus Michael Hanekes „Amour“ sympathisiert habe: „Das Leben ist lang und schön“. Ich sympathisiere mit solchen Sätzen, weil sie regelmäßig aufs Hirn angewendet das Lebensglück erhöhen, und weil sie sich mutig und mit größtmöglicher Einfalt ihren ebenso populären wie düsteren Gegenthesen entgegenstellen, nämlich erstens dass das Leben auf der Oberfläche ein Lächeln und in der Tiefe die Hölle sei, und zweitens, dass es viel zu schnell vergeht und darüber hinaus in erster Linie qualvoll ist – zwei Sichtweisen, die meiner Ansicht nach eher von einer unverantwortlichen Tendenz zur Vereinfachung der Zusammenhänge zeugen als von einem realistischen, oder sogar dichterischen Blick auf Dasein und Dinge, mit dem sie sich so gern schmücken, oft mit Berufung auf Schopenhauer oder Nietzsche, die nun in ihrem überbordend ausformulierten Nihilismus paradoxer Weise so furchtbar bejahend gegenüber der Existenz waren wie ein Dschungel. Und während ich so nachdenke, schwitze und atme, und die Kleine ihre Stirn schmerzhaft in meinen Solarplexus rammt, steht die Große mit leicht gebeugten Knien da, ihre Ellenbogen bis auf Höhe der Ohren hochgezogen (was sie viel Konzentration und Anstrengung kostet, denn der Zug ruckelt und schuckelt). Sie hält tapfer ihr kleines T-Shirt über dem oberen Bauchansatz fest, damit ich das Windelproblem für sie lösen kann. Für eine kurzen Moment komme ich fast um vor Liebe.

Alexander Kerlin ist Dramaturg am Schauspiel Dortmund

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