Reiselektüre I: Die Matrix des Unterwegs

Der literarische Flaneur Alain de Botton nimmt den Leser in seinem belletristischen Essay „Kunst des Reisens“ mit auf einen Spaziergang im Plauderton durch die verschiedenen Facetten, Chancen und Gefahren des Reisens.

Vorfreude und falsche Erwartungen

u1_978-3-596-15804-1_kompEs beginnt mit den Erwartungen des Reisenden an die bevorstehende Reise. Alain de Botton erzählt von Joris-Karl Huysmans’s Roman Gegen den Strich, in dem er beschreibt, wie der französische Adlige Jean Floressas des Esseintes eine Reise nach London plant, sie sich ausmalt und nach ein paar gelungenen Präluminarien kurz vor dem eigentlichen Reiseantritt abbricht. Dass eine Reise nie so ausfällt, wie wir sie uns ausgemalt haben, liegt in der Ungewissheit der Zukunft, denn erstens kommt es anders und zweitens als man denkt: „Des Esseintes, so wie Huysmans ihn schildert, kam zu dem Schluss, dass die Vorstellung mehr als nur ausreichenden Ersatz bietet für die gemeine Realität der tatsächlichen Erfahrung“ (37). De Botton warnt davor, von der Reise das zu erwarten, was man in die Bilder, die man vorher gesehen hat, hineinprojiziert hat. Da man sich selbst mit auf die Reise nimmt, schließt dieses Selbst auch die eigene Vergangenheit, Erinnerungen und die Zukunft samt Ängsten und Sorgen mit ein. Dieses individuelle Reise-Ich kann niemals den idealisierten Zustand des Vorfreude-Ichs erreichen.

„Im Gegensatz zu der ungetrübten, dauerhaften Zufriedenheit, die wir erwarten, erweist das Glück mit und an einem Ort sich für einen wachen Geist offenbar zwangsläufig als nur kurze und flüchtige Erscheinung als Episode, in der wir empfänglich sind für die uns umgebende Welt, in der Vergangenheit und Zukunft in positiven Licht erscheinen und Ängste zerstreut werden. Dieser Zustand hält aber selten länger als zehn Minuten an.“

Reisen als angewandte Philosophie

Im zweiten Kapitel Über Reisestationen wählt  de Botton vier Orte als Beispiele und den Dichter Charles Baudelaire sowie dem Maler Edward Hopper als Guides aus. An Baudelaires Biographie sowie an ausgewählten Zeilen seiner Lyrik verdeutlicht er dessen Fernweh, während er Hoppers Interesse an verschiedenen Aufenthaltsorten von Reisenden in die fünf Kategorien unterteilt, die in seinen Bildern regelmäßig vorkommen: Hotels, Straßen und Tankstellen, Diners & Cafeterias, Blick aus Eisenbahnen, Blick auf Eisenbahnen und ins Wageninnere.

Die einsamen Menschen im Kosmos und die Situation der menschlichen Isolation im Werk von Hopper macht er anhand einer prägnanten Bilderbeschreibung von Gas (1940) deutlich. Hopper hat die Poesie der Einsamkeit des modernen Menschen auf seiner Reise durch das Leben als Suche nach sich selbst in großartigen Bildern festgehalten. Das Reisemotiv erläutert de Botton dergestalt, dass auf Reisen die Gedanken am besten in Gang kommen. Reisen ist praktische Philosophie, die Fragen sind wichtiger, als die Antworten, jede neue Antwort gebiert neue Fragen, der Weg ist das Ziel und das Zurücklegen von Wegstrecke auf der Reise entspricht dem Zurücklegen von Etappen beim philosophischen Denken. Das Reisen ist in seiner dauerhaften Bewegung dem philosophischen Denken als Suchbewegung adäquat.

„Es existiert ein merkwürdiger Zusammenhang zwischen dem, was uns vor Augen steht und den Gedanken, die in unserem Kopf entstehen: große Gedanken erfordern zuweilen eine weite Aussicht, neue Erkenntnisse neue Orte.“

Die Suche des Reisenden nach seinem wahren Ich

Als hauptsächliche Gründe für das Reisen nimmt er im dritten Kapitel das Exotische und im vierten die Wissbegierde in den Focus seiner Betrachtungen. Von Victor Hugos Orientliteratur kommt er auf Gustave Flaubert, der sein eigenes Leben „stets banal und mühselig“ fand und der zuerst in seiner Erzählung „Les Memoires d’un fou“ seinen autobiographischen Helden eine Jugenderinnerung im Mittleren Osten andichtet, bevor er selbst mit 25 Jahren nach dem Tod seines Vaters durch dessen Erbe finanziell frei geworden zu seiner ersten Reise nach Ägypten aufbrach. De Botton verknüpft diese wie auch die vorangegangenen Reisesujets im Wechsel mit der Beschreibung von eigenen Reiseerfahrungen: so zieht er im Kapitel III eine Parallele zwischen Flauberts Ägypten und dem Jordaan-Viertel in Amsterdam, in dem er sich ein Zimmer nahm:

„Amsterdam hatte anderes, jedoch vergleichbar Exotisches zu bieten: Gebäude aus länglichen blassrosa Ziegeln, die mit seltsamem weißem Mörtel verbunden waren (viel regelmäßiger als bei englischen oder nordamerikanischen Backsteinbauten und im Gegensatz zu französischen oder deutschen Häusern unverputzt; lange Straßenzeilen schmalbrüstiger Wohnhäuser mit großen Fenstern im Erdgeschoss, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts errichtet worden waren; Fahrräder, die vor jeder Haustür und Häuserblock abgestellt waren (und an Universitätsstädte erinnerten) eine demokratische Schäbigkeit des Mobiliars auf öffentlichen Plätzen, das Fehlen prunkvoller Gebäude, schnurgerade, von kleinen Parks unterbrochene Straßen, die das Werk von Bauplanern zu sein schienen, die von einer sozialistischen Gartenstadt träumten.“

De Botton vergleicht den niederländischen Baustil mit dem englischen, deutschen, französischen und amerikanischen in kleinen Details, denen er seine Aufmerksamkeit schenkt; der unterschiedlichen Art, Form und Farbe der Ziegeln, des Mörtels und des Putzes der Backsteinbauten in den verschiedenen Ländern und arbeitet daran die Besonderheiten und damit das Exotische des niederländischen Baustils heraus. Weitere Punkte sind die großen Erdgeschossfenster, die Fahrräder, das öffentliche Mobiliar und die Art der Straßenarchitektur, die zusammen für ihn die Vision einer sozialistischen Gartenstadt ergeben. Und es ist typisch für den besonderen Blick des müßiggängerischen Flaneurs de Botton in der fremden Stadt, dessen wachem Blick kein Detail in der besonderen Andersartigkeit entgeht und der hier in wenigen Zeilen eine holländische Poesie entwirft, ein Augen-Blick, auf den wir und er selbst später noch zurückkommen werden. Er kommt zu dem Schluss: „Was wir im Ausland exotisch finden, ist vielleicht genau das, wonach wir uns zu Hause vergeblich sehnen.“

Wieder zurück zu Flaubert, thematisiert der Autor ausführlich dessen Orient-Sehnsucht und sein Plädoyer, die nationale Zugehörigkeit eines Menschen „nicht nach dem Land seiner Geburt oder der familiären Abstammung, sondern nach den Orten, zu denen sich der Betreffende hingezogen fühlt“ zu bestimmen. Und wenn das mittels Pass schon nicht möglich ist, resümiert de Botton, so doch immerhin durch das Reisen, denn „wir werden als Erwachsene mit der Freiheit beschenkt, in der Phantasie unsere Identität entsprechend unserer wahren Zugehörigkeit neu zu bestimmen“.

Die Entdeckung der eigenen Neugier wider die Autorität des Baedekers

Anschließend stellt de Botton uns den Forscher Alexander von Humboldt vor, der seine fünfjährige Südamerika-Expedition von 1799 an in den zwanzig darauffolgenden Jahren in seinem dreißigbändigen Bericht Reise in die Aequinoctial-Gegenden des neuen Kontinents auswertete. Er erläutert von Humboldts Neugierde, vergleicht sie mit derjenigen, des modernen Touristen und der Situation des heutigen Reisenden, für den es die Terra incognita wie zu Humboldts Zeiten nicht mehr gibt und der stattdessen schlimmstenfalls von sternenfixierten Reiseführern ferngelenkt wird, weil wir uns als bildungsbürgerliche Kulturtouristen dazu verpflichtet sehen. Stattdessen – so der Gegenentwurf – sollte man sich  seine eigene und individuelle Reiseroute gemäß der eigenen unvoreingenommenen Hierarchie dessen, was man für sehenswürdig hält, bauen.

Die Erkenntnis des Göttlichen in der Natur

Anschließend geht de Botton mit dem Dichter William Wordsworth der Frage nach den Möglichkeiten des Urlaubs auf dem Land für den Stadtbewohner nach: „Für den Dichter nämlich stellte die Natur mit all ihren Erscheinungen, Vögeln, Flüssen, Narzissen und Schafen ein unverzichtbares Korrektiv zu dem durch das Stadtleben angerichteten psychischen Schaden dar.“ (150). Er geht sogar so weit, das Naturerlebnis in seinen besten Momenten einer religiösen Grunderfahrung gleichzusetzen: „Die Herrlichkeiten der Natur können umgekehrt uns, so Wordsworth, dazu ermutigen, Gott in uns selbst zu erkennen.“

Im Kapitel „Über das Erhabene – Landschaften“ setzt er diese Beobachtungen zur  Naturreligionserfahrung fort: „Erhabene Orte wiederholen im größeren Rahmen eine Lektion, die wir im Alltagsleben normalerweise auf die harte Tour lernen, die Lektion nämlich, dass das Universum größer ist als wir, dass wir schwach und vergänglich sind und nicht umhinkommen, anzuerkennen, dass unserem Willen Grenzen gesetzt sind und dass wir uns Notwendigkeiten beugen müssen, die größer sind, als wir.“ (184). Das führt er an Texten von Schriftstellern aus und gelangt hier bis zum Buch Hiob aus dem Alten Testament.

Die Schule des Sehens und die ästhetische Erziehung

Wenn wir davon ausgehen, dass ein zentraler Aspekt des Reisens ist, Neues zu sehen, dann ist das folgende Kapitel VII Über Kunst, die die Augen öffnet von maßgeblicher Wichtigkeit. Diesmal geht es in die Provence mit keinem geringeren Führer als Vincent van Gogh. Seine Prämisse ist: „Am wirkungsvollsten wird unsere Wahrnehmung dessen, was in Landschaften zu entdecken ist, wohl durch bildende Kunst geschult.“ (201) Seine Auswahl für den Reiseführer Vincent van Gogh für das Reiseland Provence erklärt sich aus dessen Entscheidungen, was er in seinen Bildern zeigen wollte: „Schlechte Kunst ließe sich definieren als eine Reihe von unglücklichen Entscheidungen bezüglich dessen, was gezeigt und was ausgelassen werden soll. Und genau das beklagte van Gogh an den meisten Künstlern, die bis zu seiner Zeit den Süden Frankreichs gemalt hatten: Sie hatten das Wesentliche ausgelassen.“ (207). De Botton erläutert am Beispiel von van Goghs Zypressen-Bildern, dass man an ihnen erkennen kann, was den Baum so besonders im Wuchs und in seinem Verhalten im Mistral macht. Er geht außerdem auf die Farbpalette der Provence ein und erzählt mit van Gogh dessen Herangehensweise: „Statt genau wiederzugeben bediene ich mich der Farbe eigenmächtiger, um mich kraftvoll auszudrücken.“ (221). Kunstrezeption hat für die Landschaftswahrnehmung des Reisenden insgesamt eine Katalysatorfunktion: „Kunst bestärkt lediglich in der Bewunderung und schult uns darin, Gefühle bewusster wahrzunehmen, die wir uns vorher vielleicht nur zaghaft oder flüchtig gestattet haben.“

In der nächsten Klasse der Schule des Sehens geht es um die Erlangung, um die Aneignung  des Schönen. Der weltweite Siegeszug der Fotografie ist der beste Beweis dafür; indem wir auf den Auslöser der Kamera drücken, versuchen wir, das Schöne festzuhalten, zu konservieren und uns zu eigen zu machen. Die heimische Einrichtung mit Souvenirs vermag bei ihrem Anblick die Erinnerung an das Erlebte, Schöne wieder wachzurufen, doch  bleiben beide Formen der Aneignung an der Oberfläche. De Botton wählt den englischen John Ruskin, dessen Interesse am Schönen diesen zu fünf Schlussfolgerungen brachte, von denen die letzte von zentraler Bedeutung ist: „Und fünftens: der erfolgversprechendste Weg zu einem solchen bewussten Verstehen ist der Versuch, schöne Landschaften, künstlerisch darzustellen, sie zu beschreiben oder zu zeichnen, ob ein Talent dazu vorhanden ist, oder nicht.“

Ruskin veröffentlichte zwei Bücher The Elements of Drawing und  The Elements of Perspective und machte in Vorträgen immer wieder deutlich, dass Zeichnen selbst bei Untalentierten die Wahrnehmung schult, weil man durch den geplanten Kopiervorgang dazu gezwungen wird, genau hinzuschauen, statt nur flüchtig. Und, so  führt De Botton weiter aus,  die Auswahl dessen, was wir zeichnen, „hilft uns zu verstehen, aus welchen Gründen bestimmte Landschaften und Gebäude uns ansprechen. Wir finden Erklärungen für unseren Geschmack, wir entwickeln eine ‚Ästhetik‘, die Fähigkeit zu beurteilen, was schön und was hässlich ist.“ (245). De Botton lenkt den Leser neben den Ausführungen von Ruskin zum Zeichnen auch auf dessen wortmalerischen Beschreibungen, die seiner Meinung nach Ruskins Ruhm im ausgehenden viktorianischen Zeitalter mitbegründeten. Dafür wählt er zwei Tagebuchaufzeichnungen, von denen sich eine wie folgt liest:

„!. November 1857. „Zinnoberroter Morgen, die gesamte Bandbreite von gedämpftem Scharlach, klar begrenzt und an den Rändern ins Violett spielend. Graue Nebelschwaden darunter, langsam von Südwesten heranziehend, graue Kummulihaufen – zwischen den Schwaden und dem Zirrus – am Horizont. (…)“

Reisen als Grundeinstellung zur Welt

Im letzten Kapitel kommt De Botton auf den Franzosen Xavier de Maistre zu sprechen, der im Frühjahr 1790 eine Reise durch sein Zimmer unternahm und diese später unter dem Titel Reise um mein Zimmer beschrieb. Er erfand damit eine Art des Mikroreisens, die sich besonders für ängstliche, schwerfällige und mittellose Mitmenschen eignet. De Botton kommt zu dem Schluss: „dass das Vergnügen, welches Reisen bereitet, wohlmöglich mehr von der Einstellung zum Reisen abhängt, als vom gewählten Reiseziel. Bewegen wir uns mit der Einstellung von Reisenden an unserem angestammten Platz, erweist der sich wohlmöglich als nicht weniger interessant“ (264). Vor dem Aufbruch zu Reisen in ferne Länder wäre das die Aufgabe an den Reisewilligen; zunächst einmal einen demütigen und vorurteilsfreien Blick auf unsere nächste, täglich erlebte Umgebung zu werfen und dabei empfänglich zu sein für das Neue darin, das unserem alltäglich allzu routinierten Blick bisher entgangen ist und so die Welt in ihrer geringsten Ecke neu zu entdecken. Dann werden wir zu Reisenden im philosophischen Sinn, dann wird jeder Moment unseres Lebens zur Reise, deren Ziel damit erreicht ist, dass man den Weg zurücklegt und jedes neue Ziel birgt neben neuen Ansichten und damit verbundenen Einsichten auch wiederum neue Fragen, Ziele und Reisen.

Die essayistische Reise mit Alain de Botton findet hier ein vorläufiges Ende. Von den Erwartungen, über das Reisen als Grundhaltung und als Selbstsuche des Reisenden über die Wiederermächtigung zur kindlichen Neugier und der Entdeckung des Göttlichen im Kosmos hat er uns mitgenommen in seine Schule des Sehens und die ästhetische Erziehung und ist mit uns beim Reisen als Grundhaltung zur Welt angelangt. Damit hat er die zentralen Aspekte im Spektrum des Reisens auf kluge, unterhaltsame und erhellende Art und Weise thematisiert und man wundert sich als Leser nicht, dass man nach der Lektüre geneigt ist, weiterzulesen, bei Huysmans, von Humboldt und Flaubert, die Bilder von Hopper und van Gogh erneut anzuschauen und dass man gewöhnliche Rapsfelder oder die Leitern an der Wand des Trockenbodens im eigenen Haus mit neuen Augen sieht. So sehr es logisch und vernünftig für die Menschheit war, sich an Orten niederzulassen, sie zu besiedeln und sesshaft zu werden, so natürlich war das vormalige Leben der nomadisierenden Völker.  Das Reisen bietet uns die Möglichkeit, die pragmatischen Vorteile der Sesshaftigkeit zu nutzen und parallel dazu die Natürlichkeit des Nomaden in uns zumindest für eine gewisse Zeit immer wieder neu zu erleben und unseren Horizont stetig über den eigenen Tellerrand auf die ganze Welt zu erweitern.

Alain de Bottons „Kunst des Reisens“ ist eine großartige Einführung in die verschiedenen Aspekte des Reisens und der ultimative Beipackzettel für alle Patienten mit Reisefieber.

Alain de Botton: Kunst des Reisens
Fischer Taschenbuch, 6. Aufl. 2003 Frankfurt am Main
288 Seiten, Paperback
9,95 EUR (D) / 10,30 EUR (A)
ISBN  9-783596 158041

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