Unser Gastautor Thomas von der Osten-Sacken besuchte das berüchtigtste Gefängnis des Assad-Regimes, in dem Zehntausende Menschen gefoltert und ermordet wurden.
Sednaya ist laut Reiseführern neben Ma’alula einer der Orte, in denen bis heute noch aramäisch gesprochen wird; jene Sprache, die auch Jesus verwendete und einst im ganzen Nahen Osten Lingua franca war. Die Stadt liegt inmitten der Hügel des Anti-Libanon ca. dreißig Kilometer von der Hauptstadt Damaskus entfernt und gilt als beliebte Sommerfrische.
So viel zu Reiseführern, denn seit Jahrzehnten bekommt jeder in Syrien eine Gänsehaut, wenn er diesen Namen hört. Neben Tidmor in der östlichen Wüste und einigen anderen Orten galt nämlich das Gefängnis in Sednaya als einer der schlimmsten Folterhöllen des Assad-Regimes. Hier »verschwanden« Zehntausende von Menschen auf Nimmerwiedersehen. Zwar ahnte jeder im Land, was in diesen Gefängnissen alles geschah, es gab genügend Gerüchte, um es zu wissen; aussprechen durfte man es aber nicht, wollte man sich selbst nicht in Gefahr bringen.
Das Regime machte ja auch keinen Hehl aus der Existenz dieses Gefängnisses. Ganz im Gegenteil liegt der gigantische Komplex schon von Weitem sichtbar oben auf einem Hügel. Wüsste man nicht, woraufhin man zufährt, könnte man es aus der Ferne für einen Palast der ehemals Herrschenden halten.
In gewisse Weise ist es das auch: Ein Palast des absoluten Schreckens, eines der Kernstücke des baathistischen Terrorstaates, den der Assad-Clan in Syrien errichtet hatte. Hierher konnte jeder gebracht werden – ein falsches Wort zur falschen Zeit oder eine Anzeige durch einen Nachbar reichten aus, um für Jahre, Jahrzehnte oder gar für immer in einem dieser Komplexe zu verschwinden.
Nicht wirklich vorbereitet
Von Sednaya, Tidmor, dem ganzen Archipel an solchen Gefängnissen, konnte man seit den 1980er Jahren wissen: Human Rights Watch und Amnesty International berichteten ausführlich über sie, wobei besonders Sednaya als »Schlachthaus für Menschen« bezeichnet wurde. Und doch ist man, selbst nach Lektüre solcher Berichte, nicht wirklich vorbereitet auf das, was einen bei einem Besuch dieses Ortes erwartet, der nur mit Genehmigung zu besichtigen ist.
Den Haupteingang zum Gelände bewacht eine Gruppe HTS-Milizionäre, die beim Verlassen des Areals auch den Wagen kontrollieren wird, ob man unerlaubterweise etwas zu entwenden versuchte. Dies allein ist schon ein großer Unterschied etwa zum berüchtigten Abu-Ghraib-Gefängnis im Irak, das ich kurz nach dem Sturz Saddam Husseins im Mai 2003 besichtigte. Dort gab es keinerlei Bewachung, weswegen auch so viel geplündert wurde. Viele Dokumente kamen abhanden, später nutzten unverzeihlicherweise US-Truppen Teile der Anlage, um Verdächtige zu inhaftieren und zum Teil zu misshandeln.
Ähnliches soll in Syrien offenbar nicht geschehen; angeblich soll Sednaya in eine Gedenkstätte und in ein Museum umgewandelt werden.
Nachdem man das erste Tor passiert hat, geht es eine kurvige Straße, vorbei an zwei ausgebrannten Panzerwagen, den Berg hinauf. Offenbar kam es, als das Gefängnis kurz vor dem Fall von Damaskus im Dezember 2024 befreit wurde, noch zu kleineren Gefechten.
Nach der Durquerung zweier weiterer Tore steht man vor dem riesigen Hauptgebäude, vor dem sich sogar eine recht gepflegte Gartenanlage befindet. Wer früher hier ausgeladen wurde, in Handschellen und mit verbundenen Augen, kam meist schon aus anderen Gefängnissen, war schon gefoltert worden, ausgehungert und entwürdigt worden, manche seit Jahren. Gerade für sie sollte es zur letzten Station ihres Martyriums werden, sozusagen zu einem Grab für die gerade noch Lebenden.
Aber, so berichtete später ein hier vier Jahre lang Inhaftierter, bedeutete eine ganz besondere Form des Terrors allein schon zu wissen, nach Sednaya zu kommen. Stundenlanges Warten in Stehkäfigen auf Registrierung und Aufnahme, systematische Misshandlungen inklusive, wurden von den Wärtern als »Wilkommens-Party« bezeichnet. Ein ehemaliger Häftling beschrieb sie so:
»Man wird zu Boden geworfen und mit verschiedenen Instrumenten geschlagen: Elektrokabel mit freiliegenden Kupferdrahtenden, die kleine Haken haben, sodass sie einen Teil der Haut mitreißen, normale Elektrokabel, Wasserrohre aus Kunststoff in verschiedenen Größen und Metallstangen. Außerdem haben sie etwas hergestellt, das sie ›Panzer-Gürtel‹ nennen. Er besteht aus einem Reifen, der in Streifen geschnitten wurde. … Er erzeugt ein ganz bestimmtes Geräusch, das wie eine kleine Explosion klingt. Mir waren die ganze Zeit die Augen verbunden, aber ich habe versucht, irgendwie etwas zu sehen. Alles, was man sieht, ist Blut: das eigene Blut, das Blut anderer.«
Ewige Dunkelheit
Die Halle, in dem das geschah wirkt jetzt, da sie leer und verlassen ist, umso größer. An ihrem Ende befinden sich Bohrlöcher. Dort versuchten Rettungskräfte im Dezember vergangenen Jahres, zu den Insassen ins verriegelte Untergeschoss zu gelangen, weil man befürchtete, sie könnten verdursten. Eine halb zerstörte Treppe führt in dieses Kellerverlies, in dem ewige Dunkelheit herrschte. In den ca. fünf Quadratmeter großen Zellen waren bis zu zehn Menschen eingepfercht in dunklen, kalten Verschlägen, in die nur Licht drang, wenn durch eine kleine Luke Nahrung oder Wasser gereicht wurde.
Das eigentliche Gefängnis befindet sich in den drei oberen Etagen. Auf jeder zweigen von einem Zentrum je fünf Gänge mit jeweils fünfzehn fensterlosen (mit Ausnahme des Frauentrakts) Zellen ab. Auf etwa zwanzig Quadratmetern leben bis zu dreißig Gefangenen mit einer einzigen, offenen Toilette und einem gemeinsamen Wasserhahn. Bis zu dreiundzwanzig Stunden täglich herrschte absolute Dunkelheit. In den meisten dieser Zellen liegen noch die dünnen Matratzen und Decken und die wenigen Habseligkeiten, die man den Häftlingen ließ: hier und dort das Bild eines Kindes oder Partners. Mehr als ein Nagel in der Wand zum Aufhängen oder eine kleine Styroporverpackung als Aufbewahrungsort ließen die Wärter nicht zu.
Und obwohl die hier Inhaftierten schon vor mehr als sechs Wochen befreit wurden, ist der Gestank noch immer kaum erträglich. Es riecht nach Fäkalien, Schweiß und anderen menschlichen Ausdünstungen. Wie muss es in diesen Zellen gerochen haben, als hier eng auf eng dreißig Menschen eingesperrt waren, bei verschlossener Tür und vor allem an heißen Sommertagen? Ab und zu, vielleicht einmal monatlich, durften die Gefangenen duschen. Auch das war Teil jener systematischen Entwürdigung, denen diese Häftlinge ausgesetzt waren – und das über Jahre.Mord am laufenden Band
Unser Führer Abdullateef kennt die Zustände, die hier geherrscht haben: Krätze, Flöhe und anderes Ungeziefer, Dehydrierung, chronischer Durchfall, Hunger und Durst. Pro Tag gab es in der Regel ein paar Scheiben altes Brot, einige Oliven und vier Eier. Man habe die ganze Zeit unter furchtbarem Hunger gelitten, berichtete er, und ja, viele seien tatsächlich verhungert, was auch das Ziel der Wärter gewesen sei: Jeden Morgen hätten die Wachen gefragt, wie viele in der vergangenen Nacht gestorben seien (häufig bis zu zwanzig pro Trakt), um sie anschließend in Massengräbern zu verscharren. Solcherart und durch die ständigen Exekutionen sei Platz für neue Häftlinge geschaffen worden.
Wir rechnen nach: Drei Stockwerke mit je fünf Korridoren à fünfzehn Zellen, in die bis zu dreißig Menschen eingesperrt wurden, dazu das Untergeschoss und weitere Nebengebäude: In Summe hatte die Anlage Platz für bis zu zehntausend Insassen. Unklar ist bis heute, wie viele von ihnen durch Exekutionen oder systematische Unterernährung zu Tode kamen. Ein syrischer Menschenrechtsaktivist erklärte 2016, er gehe davon aus, dass drei Viertel aller Eingelieferten das Gefängnis nicht lebend verließen.
Ein sicherer Weg, sofort getötet zu werden, berichtet Abdullateef, sei es gewesen, sich krank zu melden. Wer immer das getan hätte, wäre noch am selben Tag mit einer mit Luft gefüllten Spritze umgebracht worden. Hinzu kam die Gewalt, vor allem die regelmäßigen und systematischen Prügel und Psycho-Folter-Spiele. So mussten alle Insassen einer Zelle vier von ihnen aussuchen, die dann bis zu zwei Stunden mit Elektrokabeln oder Wasserschläuchen ausgepeitscht wurden. In seiner Zelle habe man sich für ein Rotationsprinzip entschieden, erzählt Abdullateef, in anderen hätten die Starken die Schwachen gezwungen, sich mehr als einmal auspeitschen zu lassen. Möglichkeiten zur Wundreinigung gab es keine, und Salz wurde ihnen bewusst vorenthalten.
Folter als Selbstzweck
Eine junge syrische Übersetzerin weiß vom systematischen sexuellen Missbrauch nicht nur weiblicher Gefangener in den syrischen Gefängnissen und bricht damit das Schweigen über ein absolutes Tabu im Nahen Osten. Auch Amnesty International berichtet, dass Wärter Männer zwangen, sich gegenseitig vor den Augen der anderen zu vergewaltigen und zitiert zum Beispiel diesen Zeugen: »Sie zwangen die Menschen, sich auszuziehen, sich an empfindlichen Stellen zu berühren und sich gegenseitig zu vergewaltigen. Ich habe das nur einmal erlebt, aber ich habe sehr oft davon gehört.« Schwangeren Frauen seien ihre Kinder weggenommen und unter anderem Namen in Waisenhäuser untergebracht worden.
Wagte ein Insasse, einem Wärter ins Gesicht zu blicken, wurde er besonders brutal misshandelt. Im dritten Stock hängen sie noch, die Flaschenzüge, an denen man mit hinter dem Rücken gefesselten Händen hochgezogen wurde, um so stundenlang über dem Boden zu baumeln. Oder man wurde in eine unterirdische, dunkle Einzelzelle (ohne Toilette) verlegt.
All diese Quälereien hatten keinen anderen Zweck, als Menschen systematisch zu brechen, denn gefoltert wurde in Sednaya keineswegs, um Geständnisse zu erpressen. Das hatten zuvor in anderen Einrichtungen wie der ebenso gefürchteten Palestine-Branch des Geheimdienstes in Damaskus schon andere erledigt. Sednaya diente einzig dazu, Menschen in lebende Leichname zu verwandeln.
Hin und wieder wurde sogar jemand entlassen, wobei es unter Androhung einer erneuten Inhaftierung verboten war, selbst nahen Familienangehörigen etwas über den Gefängnisaufenthalt zu erzählen.
Dennoch sprach sich in der Nachbarschaft herum, in welchem Zustand die Häftlinge in ihre Heimatorte zurückkamen, was vom Regime auch beabsichtigt war: Jeder sollte wissen, dass es einen jederzeit und überall selbst treffen konnte. So verbreitete das Regime jene Angst, die Kanan Makiya einst, als er das ganz ähnliche System im Irak der 1980er Jahre zu beschreiben versuchte, veranlasste, sein Buch Die Republik der Angst zu nennen.
All diese Quälereien hatten keinen anderen Zweck, als Menschen systematisch zu brechen, denn gefoltert wurde in Sednaya keineswegs, um Geständnisse zu erpressen. Das hatten zuvor in anderen Einrichtungen wie der ebenso gefürchteten Palestine-Branch des Geheimdienstes in Damaskus schon andere erledigt. Sednaya diente einzig dazu, Menschen in lebende Leichname zu verwandeln.
Hin und wieder wurde sogar jemand entlassen, wobei es unter Androhung einer erneuten Inhaftierung verboten war, selbst nahen Familienangehörigen etwas über den Gefängnisaufenthalt zu erzählen.
Dennoch sprach sich in der Nachbarschaft herum, in welchem Zustand die Häftlinge in ihre Heimatorte zurückkamen, was vom Regime auch beabsichtigt war: Jeder sollte wissen, dass es einen jederzeit und überall selbst treffen konnte. So verbreitete das Regime jene Angst, die Kanan Makiya einst, als er das ganz ähnliche System im Irak der 1980er Jahre zu beschreiben versuchte, veranlasste, sein Buch Die Republik der Angst zu nennen.
Zugleich diente Sednaya dem Regime auch als Einnahmequelle. Nicht etwa, weil man Gefangene arbeiten ließ, sondern, weil man Familien die Möglichkeit gab, ihre Angehörigen freizukaufen. So etwa überlebte Abdullateef: Nach über drei Jahren hatte seine Familie die einhunderttausend Dollar zusammengekratzt, die der Geheimdienst für seine Freilassung verlangte.
Sein Vergehen? Abdullateef war als Offizier der Armee in Dar’a, jener Kleinstadt an der jordanischen Grenze stationiert, in der im März 2011 die friedlichen Proteste gegen das Assad-Regime ihren Anfang nahmen. »Sie forderten nicht einmal den Sturz des Regimes, nur ein paar Reformen.« Als seine Einheit in die Demonstrationen schießen sollte, weigerte er sich – wie viele andere Offiziere und Soldaten –, den Befehl auszuführen, weshalb er verhaftet, gefoltert und nach Sednaya eingeliefert wurde. Der eigene Trakt für Armeeangehörige liegt etwas abseits des Hauptgebäudes und verfügt immerhin über einige kleine Außenfenster.
Verzweifelte Suche
Überall im Land suchen Menschen nun verzweifelt ihre Angehörigen und befestigen dazu Zettel mit Bildern und Telefonnummern an öffentlichen Plätzen, sogar am Eingang von Sednaya. Zugleich werden immer neue Massengräber entdeckt, in denen das Regime die Toten aus den Gefängnissen verscharren ließ. Man kennt das aus dem Irak, wo man auch zwanzig Jahre nach dem Sturz des Regimes immer noch neue solcher Massengräber findet – und hin und wieder gelingt es per Zahnabdruck, die Toten zu identifizieren.
Fast zwei Monate nach Ende des Assad-Regimes besteht aber kaum noch Hoffnung auf Überlebende. Jene, die nach manchmal jahrzehntelanger Inhaftierung befreit werden konnten, müssen erst ins Leben zurückfinden. Auch zehn Jahre nach seiner Freilassung kann Abdullateef kaum eine Viertelstunde über seine Erlebnisse sprechen, ohne dass die Erinnerungen ihn zu überwältigen drohen. Je länger er spricht, desto öfter stockt seine Stimme.
Nach seiner Freilassung floh er nach Idlib, das nicht unter Kontrolle des Regimes, sondern der HTS-Miliz stand. Dort wurde er ausgewählt, um nach dem Sturz Assads neuer Interimsbürgermeister der Kleinstadt Yabroud zu werden, aus der er ursprünglich stammt. Lange Zeit in Händen der Opposition, wurde sie monatelang von der libanesischen Hisbollah und pro-iranischen Milizen aus dem Irak belagert und schließlich eingenommen. Fast die Hälfte der Bevölkerung floh damals in den benachbarten Libanon oder den Norden des Landes.
Nun gilt es, sich an den Wiederaufbau zu machen. Strom gibt es nur eine Stunde, die Wasserversorgung ist miserabel, und es fehle an allem, meint Abdullateef. Neben ihm gebe es ein paar Dutzend Exgefangene in der Stadt, um die er sich kümmern wolle, da er nur zu gut wisse, in welchem Zustand sie sich befänden.