In ihrem Buch „Die friedfertige Antisemitin reloaded“ wirft
Heute bin ich nicht sicher, ob das, was ich geschrieben habe, wahr ist. Sicher bin ich, daß es der Wahrheit entspricht (Charlotte Delbo, Auschwitz und danach)
Frauen durchlebten die Entrechtung, Deportationen und Sterilisationen in dem deutschen Vernichtungslagersystem, etwa im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück, anders als männliche Gefangene. Frauen litten im Gegensatz zu ihren männlichen Barackenkameraden unter einer doppelten Zurichtung: Das deutsche Vernichtungslagersystem war die Hölle auf Erden, weibliche Lagerinsassen wie bspw. die französische Kommunistin und Widerstandskämpferin Charlotte Delbo oder Hanna Lévy-Hass waren darüber hinaus einer „Vernichtung der Vernichtung“ willen ausgesetzt. Hanna Lévy-Hass, die im Nationalsozialismus nach Bergen Belsen deportiert wurde, veröffentlichte im Jahr 1979 zusammen mit Eike Geisel ihren Erinnerungstext „Vielleicht war das alles erst der Anfang. Tagebuch aus dem KZ Bergen-Belsen 1944-1945“. in welchem sie ihre Lagererfahrung mit Blick auf die „unzweckmäßige Vernichtung“ so beschrieb:
„BB. April 1945 [Gemeint ist das Konzentrationslager Bergen Belsen] Es ist abscheulich, was man aus den Menschen gemacht hat […] Die demütigenste und düsterste Sklaverei, die man sich vorstellen kann, hat bewirkt, daß das Leben im Lager nichts mehr mit einer menschlichen Auffassung vom Leben gemein hat. In Wirklichkeit handelt es sich darum, den teuflischen und sicheren Tod Tausender menschlicher Lebewesen herbeizuführen. Darüber gibt es nicht den geringsten Zweifel, nicht den geringsten Zweifel. […] „Dieses Lager ist in bewußter Absicht und mit wissenschaftlicher Gründlichkeit so geschaffen und eingerichtet worden, daß hier methodisch und planmäßig Tausende menschlicher Wesen ausgerottet werden.“
Die spezifische Erfahrung von Frauen in den Lagern, drückte der italienische Chemielaborant Primo Levi, ebenfalls Widerstandskämpfer und mit seinem 1947 veröffentlichten Erinnerungstext über Auschwitz bekannt geworden, so aus: „La perte de la dignité humaine a été plus forte chez les femmes que chez les hommes.“ (Sinngemäß: „Der Verlust der Menschenwürde war bei Frauen größer als bei Männern.)
Auch Charlotte Delbo, schreibt in ihrem Erinnerungstext Auschwitz et après über ihre Erfahrungen in der Shoah. Sie wurde 1944 mit einem der letzten Deportationszüge für politische Gefangene nach Auschwitz deportiert. Delbo schrieb über ihre Lagererfahrung: „Was mich betrifft, bin ich noch dort und sterbe dort.“ Und schon der Titel Auschwitz und Danach weist darauf hin, dass Auschwitz ewige Gegenwart ist.
Heute ist bekannt, dass das Kollektivsingular Auschwitz für die präzedenzlosen Verbrechen der deutschen gegen die europäischen Juden steht und die Vorgänge in Auschwitz oder Treblinka weder rational noch ideengeschichtlich-erkenntnistheoretisch erklärbar sind. Sicher ist, dass über die katastrophalen Lebensbedingungen in den Lagern hinaus, sadistische AufseherInnen, Terror und Trauma über die Frauen brachten, etwa indem sie diese in den von der SS eingerichteten Bordellen ausbeuteten.
Die Ausbeutung von Frauen durch nationalsozialistische Frauen
Es liegen jedoch nicht nur Erinnerungszeugnisse von antisemitisch verfolgten Frauen vor. In den Jahren 1933- 1945 waren Frauen nicht nur Opfer des NS. Vielmehr häufen sich Belege, dass sich Täterinnen und Zuschauerinnen proaktiv an der massenhaften Entrechtung, Verfolgung und Vernichtung von Juden beteiligten. Antworten auf die Frage, welche Rolle Frauen auf der Täterseite spielten, liefert die Politikwissenschaftlerin Ljiljana Radonić in ihrem Buch „Die friedfertige Antisemitin reloaded – Weibliche Opfermythen und geschlechtsspezifische antisemitische ‚Schiefheilung‘“ aus dem Jahr 2018.
Während in populärwissenschaftlichen Diskursen die Rolle von weiblichen Täterinnen oftmals anhand von schockierenden Taten wie bspw. die Verbrechen Ilse Kochs, in Film und Presse als „Hexe von Buchenwald“ bezeichnet, auf einen kleinen Kreis von Frauen reduziert wird, ergibt sich bei der Lektüre aktueller Literatur ein anderes Bild: Es ist Radonić zu verdanken, dass in den letzten fünfzehn Jahren das „(…)positive, auf den Opferstatus“ fokussierte Bild dekonstruiert wurde, und auf die Verantwortung und proaktive Mittäterschaft als KZ-Wächterinnen und Denunziantinnen sowie schließlich auf die judenfeindliche Mitwirkung in den Vernichtungslagern aufmerksam gemacht worden ist. In Die friedfertige Antisemitin reloaded kommt sie zum Schluss, dass „antisemitisch motivierte Verbrechen von Frauen im Nationalsozialismus“ integraler Bestandteil der Umsetzung der Judenverfolgung unterm NS-Regime waren, sei es im Nachgang der Nürnberger Gesetze aus dem Jahr 1935 oder im Zuge des nationalsozialistischen Vernichtungsantisemitismus im Nachgang der Berliner Wannseekonferenz 1942. Ferner sei, so Radonić, die Vorstellung von Frauen als friedvolles Geschlecht nicht haltbar, weil jene sowohl auf dem Territorium des Deutschen Reichs wie auch in den besetzten Gebieten, von Nordfrankreich bis in die ehemalige UDSSR, an „[…]unterschiedlicher Art und Weise an rassistischen und antisemitischen Verfolgungsmaßnahmen beteiligt […]“ waren. Radonić schreibt über das wohl bekannteste „Frauen-KZ“ in Ravensbrück und über die Selbstinitative weiblicher Täterinnen:
„Das Frauen-KZ Ravensbrück diente als Ausbildungsort für KZ-Aufseherinnen. Während seines sechsjährigen Betriebs durchliefen rund 3500 Frauen die Ausbildung. Von den großen Lagern gab es einzig in den Vernichtungslagern Bełżec, Chełmno, Sobibór und Treblinka kein Frauenpersonal.“
Bis zur Befreiung 1945 wurden im Frauen-KZ-Ravensbrück mehr als 130.000 Jüdinnen, Sinti und Roma und politische Gegnerinnen interniert. Die Lagerinsassinnen wurden von den weiblichen Aufseherinnen verprügelt und gefoltert, auch Vergasungen von Frauen durch Nazifrauen fanden statt.
Dass Frauen im Nationalsozialismus, man erinnert sich an die Unterscheidung des Holocaustforschers Raul Hilbergs zwischen Tätern, Opfern und Zuschauern, nicht nur eine Rolle als Zuschauerinnen, sondern ebenso als Täterinnen innehatten, zeigt sich überdies an dem Einsatz von etwa einer halben Million deutscher Frauen im Zuge des Unternehmens Barbarossa. Deutsche Frauen haben sich freiwillig für den Einsatz an der „Ostfront“ gemeldet, um sich im Rücken der Sondereinsatzkommandos an den Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung hinter der Front zu beteiligten.
Radonić schreibt:
„Damit (angesprochen wird hier der sog. Ostrausch) gemeint sind das Gefühl größerer Freiheiten, aber auch Picknicks an den Massenerschießungsstätten, ´Judenjagdgesellschaften` und die der Ehefrau oder Geliebten ermöglichten Raubzüge durch das eine oder andere Ghetto. Frauen verpflichteten die Häftlinge der Konzentrationslager als Dienstpersonal und beteiligten sich engagiert an der Ausraubung der jüdischen Bevölkerung in den besetzten Gebieten.“
Zum Weiterlesen:
- Delbo, Charlotte; Groepler, Eva; Thielicke, Elisabeth; Kolb, Ulrike (1993): Trilogie. Auschwitz und danach. Ungekürzte, korrigierte Ausg. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verl. (Fischer-Taschenbücher, 11086).
- Lévy-Hass, Hanna; Geisel, Eike (Hg.) (1979): Vielleicht war das alles erst der Anfang. Tagebuch aus dem KZ Bergen-Belsen 1944-1945. 13.-14. Tsd. Berlin: Rotbuch-Verl. (Rotbuch, 191).
- Radonić, Ljiljana (2018): Die friedfertige Antisemitin reloaded. Weibliche Opfermythen und geschlechtsspezifische antisemitische „Schiefheilung“. Graz: CLIO (Vorlesungen des Centrums für Jüdische Studien, Band 12).