Heute wäre Rio Reiser, der Sänger von Ton Steine Scherben, 70 Jahre alt geworden.
1969 war ein langweiliges, zum größten Teil von eher banalen Ereignissen geprägtes Jahr: Neil Armstrong betrat als erster Mensch den Mond, es kam fast zum Krieg zwischen China und der Sowjetunion, die Universität Bielefeld wurde gegründet und Jennifer Lopez geboren. 1969 war also ein Jahr, das man getrost für immer hätte vergessen können, wenn da nicht ein einziges, herausragendes Ereignis gewesen wäre:
Ton Steine Scherben veröffentlichte die Singe „Macht kaputt was Euch kaputt macht“. Eine kleine Vinylscheibe rettete also ein ganzes Jahr davor, für immer ohne Spuren zu hinterlassen im Orkus der Geschichte zu verschwinden.
Mit dieser einen Single erfanden die Scherben die deutschsprachige Musik neu, sie gaben der damaligen Revolte eine wütende Stimme und schufen eine der Wurzeln des Punk. Ihr Einfluss auf alles, was später einmal mit einer elektrischen Gitarre in Deutschland auf einer Bühne stehen sollte, ist vergleichbar dem von Velvet Underground oder den Rolling Stones. Die beiden Köpfe der Band, Ralph Peter Steitz aka R.P.S. Lanrue und Ralph Christian Möbius aka Rio Reiser bildeten ein Kompositionsduo, das in seiner Qualität und seiner musikalischen Bandbreite nur mit McCartney/Lennon und Jagger/Richards zu vergleichen ist.
Sicher, nach dieser distanzierten Einleitung wird es jeden Leser überraschen, dass es keine andere Band gab, die mich jemals so geprägt hat, wie es Ton Steine Scherben taten. Mit 12 Jahren war mir klar, dass der Staat und ich niemals eine besonders innige Beziehung haben werden. Das lag an einem einzigen Stück: Keine Macht für Niemand
Ich bin nicht frei und kann nur wählen,
welche Diebe mich bestehlen, welche Mörder mir befehlen.
Ich bin tausendmal verblutet und sie ham mich vergessen.
Ich bin tausendmal verhungert und sie war’n vollgefressen.
Im Süden, im Osten, im Westen, im Norden,
es sind überall dieselben, die uns ermorden.
In jeder Stadt und in jedem Land,
schreibt die Parole an jede Wand.
Schreibt die Parole an jede Wand.
Keine Macht für Niemand!
Keine Macht für Niemand!
Zugegeben, heute denke ich bei der Textzeile „welche Diebe mich bestehlen“ eher an den Staat, aber eine bis heute skeptische Grundhaltung gegenüber allen, die mir etwas vorschreiben wollen, geht zurück auf diese Zeilen.
Das schönste Liebeslied aller Zeiten wird für mich immer „Schlaf bei mir“ sein, ich kenne keine tröstlichere Textzeile als „Wenn die Nacht am tiefsten, ist der Tag am nächsten“. Jahrelang hörte ich jeden Morgen vor der Schule ein Stück: „Guten Morgen“
Als Jugendlicher habe ich drei Scherben-Konzerte gesehen. Beim ersten Mal, 1981, stand ich 20 Minuten lang mit offenem Mund vor der Bühne in der Vestlandhalle Recklinghausen, weil ich es nicht fassen konnte, Ton Steine Scherben live zu sehen.
1985, ich arbeitete in den Sommerferien im Siemens-Werk in Gladbeck, las ich in der Spex die Meldung, Ton Steine Scherben hätten sich aufgelöst. Ich versuchte den Tag mit Fassung zu überstehen.
Später machte Rio Reiser dann eine Solokarriere, ich hab ihn ein paar Mal live gesehen, aber das war etwas anderes. Lanrue und die Band fehlten. Und vieles von Reiser war mir zu nah am fünften Album der Scherben, mit dem ich wegen seiner Schlagerhaftigkeit wenig anfangen konnte.
Scherben, das Kapitel war vorbei. Ab und an entdeckte ich noch Spuren von ihnen. Bei einem Konzert der Sterne, auch sie große Scherben-Fans, entdeckte ich in fast jedem Stück, in vielen Riffs, ein kleine Scherben-Zitate. Kein Wunder, ihre Coverversion von „Jenseits von Eden“ wies sie ja als Kenner aus:
Heute wäre Rio Reiser, der 1996 starb, 70 Jahre alt geworden.
❤️❤️❤️Scherben❤️❤️❤️
Scherben haben mich oft getröstet und auch in Liebesdingen unterwiesen.
"Lass uns 'n Wunder sein
'n wunderbares Wunder sein
Nicht nur du und ich allein
Könnte das nicht schön sein?"
Mein Lieblingsstück war immer "Wir müssen hier raus". Hat mich immer hochgezogen, wenns mir so richtig dreckig ging…
"Die Stunde vor Sonnenaufgang ist die dunkelste" wusste schon der hinkende Vorzeigearier Goebbels sich im Bunker unter der Reichskanzlei Mut zu machen-vergeblich Gott sei Dank. Also keine bahnbrechend neue Erkenntnis der Reisertruppe. Wie man allerdings die kosmopolitischen Töne aus Woodstock im doch eher provinziellen Lärm von TSS überhören konnte und kann….tstststs.