Robert Menasse gilt vielen in Österreich immer noch als Nestbeschmutzer. Ein dickes unfreiwilliges Kompliment eigentlich, denn nicht zuletzt ist es immer auch der Schmutz, der ein gutes Nest erst dauerhaft zusammenhält. In den vergangenen Jahren habe ich des Öfteren diesen Wiener Schriftsteller zu Lesungen und Gesprächen ins Ruhrgebiet eingeladen. Mal las er seine Romane „Die Vertreibung aus der Hölle“ und „Don Juan de la Mancha oder Die Erziehung der Lust“ vor 130 Gästen, mal vor 80. Immer aber fanden seine Erzählungen auch bei Lesungen hierzulande mehr Zuhörer als seine streitbaren Essays. Kein Wunder, öffentlich-kritisches Nachdenken steht nicht hoch im Kurs im Ruhrgebiet; beliebter ist das Gesundbeten der Region durch die Event-Schamanen der Kulte um Creative Economy oder „Leuchtturm-Projekte“.
Menasses komplexe Romane, Erzählungen und (politischen) Essays sind glänzend geschrieben und – zumeist unbemerkt von der Kritik – gespickt mit großer Spottlust, Ironie, Groteske, Humor in vielen Spielarten. Zwei Motive vor allem sind es, die mich immer wieder an Menasses Büchern faszinieren: Einmal ist es seine aus dem Ernstnehmen der Sprache erwachsene bissige Sprachkritik bloßer Phrasensäer, zum anderen das damit notwendigerweise verbundene Nachdenken über die Verantwortung des Intellektuellen.
Sprachkritik als Praxis kritischen Denkens betrieb Robert Menasse zuletzt elegant mit seinen Essays „Permanente Revolution der Begriffe. Vorträge zur Kritik der Abklärung“. Im diesem Titel schwingt nicht allein die Kenntnis der Schriften Trotzkis mit, sondern etwa auch die der Texte Herbert Marcuses mit seinen Thesen zur permanenten Kulturrevolution. Jener Marcuse, der in seinem Aufsatz „Repressive Toleranz“ auch geschrieben hatte, es gehe „darum, die Tyrannei der öffentlichen Meinung und ihrer Hersteller in der geschlossenen Gesellschaft zu brechen“.
Kritik der Abklärung
Was der Untertitel meinen könnte, „Vorträge zur Kritik der Abklärung“?
Kritik, das heißt zuerst „Trennen“, „Unterscheiden“, besser vielleicht: „Unterscheidenkönnen“. Kritik der „Abklärung“ also. „Abklärung“ – im Duden nicht verzeichnet – als Neologismus wortspielend sicher ein Gegenbegriff zu „Aufklärung“. Wir könnten es mit einem Auf und Ab der Klärung, des Sichklarwerdens zu tun haben. Vorsicht auf jeden Fall: Da steht nicht etwa „Abgeklärtheit“. Es scheint so, als ob es sich bei Menasses Kritik der „Abklärung“ vor allem um eine Kritik der Verdunkelung von Wirklichkeit, Verschleierung, Desinformation, Auflösung von Zusammenhängen handeln könnte.
Der Abgrund ruft den Abgrund
Robert Menasse hat in einem Interview zu seinem fulminanten Roman „Die Vertreibung aus der Hölle“ einmal gesagt: „Im Buch geht es aber nicht vor allem um die Abgründe, sondern eher darum, wie unernst wir uns verhalten, wenn wir in die Abgründe schauen. Wie wir mit Geschichte umgehen, wie wir sie missbrauchen, was wir vorgeben aus ihr gelernt zu haben, was wir uns weigern aus ihr zu lernen, wie wir sie oft hilflos nachspielen.“
Diese Worte zur Geschichte gelten natürlich auch und erst recht, wenn es um die Betrachtung der Sprache geht: Da könnten sie variiert etwa so lauten:
Es geht darum, wie unernst wir uns verhalten, wenn wir in die Abgründe schauen. Wie wir mit Sprache umgehen, wie wir sie missbrauchen, was wir vorgeben aus ihr gelernt zu haben, was wir uns weigern aus ihr zu lernen, wie wir sie oft hilflos nachsprechen, wie wir mit Hilfe der Sprache missbrauchen und missbraucht werden.
Interventionen
Robert Menasses große Leistung in seinen Vorträgen zur „Permanente(n) Revolution der Begriffe“ ist nicht nur, Begriffe zu erhellen, mit Geschichte und neuen Inhalten aufzuladen, ihren Gebrauch und Missbrauch zu kritisieren. Robert Menasse macht auch etwas, das heute in Diskursen als Intervention in öffentlichen Debatten wenig erwünscht ist. Er stellt in Erstaunen versetzende Zusammenhänge her, macht Wechselbeziehungen sichtbar zwischen Intimität, Privatheit und Gesellschaft, zwischen Macht und Ohnmacht, zwischen den veröffentlichten und den unbeschriebenen Welten. Er macht also Kontext/Subtext lesbar, wo sonst doch in der Regel das Ich an zersplitterten Verhältnissen sprachlos oder Worthülsen stotternd auch zu zerbrechen droht und wohl auch zerbrechen soll.
Subversive ReKonstruktion
Menasse macht hehre, uns prägende Begriffe wie z.B. Arbeit, Freiheit, Wahn, Europa, Utopia oder Kultur nicht nur in ihrer Wortgeschichte kenntlich, sie werden auch über ihren Gebrauch und Missbrauch unterscheidbar. Menasse dekonstruiert Begriffe, aber rekonstruiert sie auch und lässt sie nicht zerstört am Boden liegen. Er konfrontiert uns als Sprecher mit den den Begriffen zugrundeliegenden Geschichtsfiktionen und zeitgenössischen Wirklichkeiten. Erkenntnis und Interesse gehen hier Hand in Hand.
Schon in seinen sogenannten Poetikvorlesungen ging es Menasse z.B. beim Begriff „Engagement“ nicht um die zynische Dekonstruktion des Begriffes und damit gar um die Zerstörung von „Engagement“, sein Lächerlichmachen oder Abwerten, Diffamieren als unzeitgemäßes Gutmenschentum oder gar als antidemokratisches Verhalten. Wie es zuletzt etwa mit dem „Engagement“ gegen Stuttgart 21 geschah, wo die Vertreter der politischen Schein-Elite, also bloße Elitedarsteller, so taten, als seien undurchsichtige formaldemokratische Zulassungsverfahren unter Hinterzimmer-Einfluss von Lobbygruppen schon gelebte Demokratie und jeder Widerstand schon Terror.
Vom Engagement light zum hellsichtigen Wider-Wort
Menasse rekonstruiert „Engagement“ anders: Indem er nämlich jedes naive Verständnis von „Engagement“ radikal zerpflückt, jeden Glauben an Geschichtsautomatismen oder Dogmen, an Erlöser und ihre jeweiligen Himmelreiche – und mögen sie am Ende gar Diktatur des Proletariats heißen. Menasse macht deutlich, dass Engagement weder eine homogene Zielgruppe hat – und nötig hat, noch ein gleichbleibendes historisch handelndes Subjekt, noch ein fixes Ziel, noch eine verdummende politische Rhetorik.
Engagement, das ist auch unter dem Aspekt einer permanenten Revolution der Begriffe heute eher so etwas wie die Zerstörung von Ideologien, des Glaubens an diese oder jene künstlich hergestellte Wirklichkeit in Leben und Sprache, an Systeme, von denen Jean Paul einmal gesagt hat: Ein System kennt keine Ferien.
Sich zu engagieren – wie es Robert Menasse auch im öffentlichen Nachdenken vormacht – das meint eher, vom Glauben zum Wissen zu konvertieren, zu recherchieren, Ketzerei gegen geschlossene Weltbilder im Alltag einzuüben. Und diese Übungen fangen natürlich zuerst bei und in der Sprache an, weil über (Un-)Worte, (Glaubens-)Sätze, Text-Bausteine mit dem Sprechen immer auch das Denken vergiftet wird.
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Noch ein paar Worte zu Robert Menasses Biobibliografie:
Robert Menasse, geboren in Wien, studierte Germanistik, Philosophie und Politikwissenschaft in Wien, Salzburg und Messina. Er promovierte mit einer Arbeit über den „Typus des Außenseiters im Literaturbetrieb“. Menasse lebt heute als Romancier und Essayist in Wien und Amsterdam, schrieb auch Schauspiele, zuletzt eins mit dem Titel: Dr. Höchst. Ein Faustspiel.
Robert Menasse veröffentlichte u.a. auch noch die Romane „Selige Zeiten, brüchige Welt“ „Schubumkehr“, „Die Vertreibung aus der Hölle“, „Don Juan de la Mancha“ und die Essays „Das war Österreich. Gesammelte Essays zum Land ohne Eigenschaften“ sowie die Frankfurter Poetikvorlesungen „Die Zerstörung der Welt als Wille und Vorstellung“, die aber vor allem pointierte politische Analysen sind. Auch mit und in ihnen versucht der Autor zunächst zu erkennen, wie die Welt ist, in der ein Autor schreibt, bevor er sich der unbeschriebenen Welt zuwendet und sie in Literatur übersetzt.
Mehr unter: http://de-de.facebook.com/Robert.Menasse
Danke für den Beitrag. Neben den schon genannten Büchern (Permanente Revolution der Begriffe, Vertreibung aus der Hölle, etc) ist auch die „Phänomenologie der Entgeisterung“ empfehlenswert! Ein Mann, der bei Luk Perceval und Tom Lanoye klaut (Vgl. Rezitation der Lanoye-Perceval-Bearbeitung von Shakespeares Rosenkriegszyklus in „Die Vertreibung aus der Hölle“, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1. Aufl. 2003, S. 232 – 234) kann kein schlechter Mensch sein.
#1 Stauder: Hhmmhh, da weißt Du mehr als ich. Mein Exemplar „Vertreibung aus der Hölle“ ist übrigens ein Lese-Exemplar von 2001, kurz danach erschien auch die 1. Auflage.
Selbst, wenn sich RM bei Perceval/Lanoye was ausgeborgt haben sollte: Ein bisschen Intertextualität darf es in der Literatur immer sein. Hauptsache, die Eigenständigkeit eines Werkes bleibt bestehen – und das tut sie bei Menasses eigensinnigen Büchern auf wunderbare Weise.
Ohne Intertextualität (in Motiven, Figuren, Handlungen, ganzen Stoffen …) könnte man einen Großteil aller literarischer Traditionen/Werke sowieso vergessen. Manchmal ist das Benutzen von Erzählhaltungen, Motiven, Figuren, Namen …anderer Autoren auch eine Hommage an diese, etwa, wenn Salman Rushdie in seinen ‚Mitternachtskinder(n)‘ viele Anleihen bei Grassens ‚Blechtrommel‘ macht.
Von guten Leuten ‚klauen‘, heißt Fliegen lernen. (Ein alter Spruch von mir, den die DDR böse verfremdet hat! 😉 )
Vor lauter Überlegeungen um Wörter ringen, richtige Begriffbenutzung oder passende Satzzusammenhänge kann man leicht den Inhalt des ganzen vergessen: Worum geht es und welche Aussage habe ich. Wie kann man das normalsterbliche, nichtliteraten, nichtfachleuten verständlich machen.
Schönschreiben ist ja schön und gut und nett zu lesen, nur, wenn der Leser oder Zuhörer verstanden hat -unerheblich wer gesprochen hat ob Politiker, Soziologe, Arzt, Wissenschaftler, Journalist, Literat,…- ist das Ziel erreicht.
Zuviel Sprachkunst kann auch das eigentliche verdrängen, auch unbeabsichtigt.
Bin durch Zufall auf das „Zitat“ gestoßen, weil ich die Rosenkriegsbearbeitung parallel zu seinem Roman gelesen habe. Der Protagonist gibt „Richard of Gloster. Alone.“ und setzt an mit:
goodblooddiemodderfokking fauliges vermodern
o gott: das greuel… das kläglich lovegemetzel
Die Lehrerin kommentiert das Ganze und weist ihn darauf hin, dass dies kein Oxford English sei. Eine Hommage ist der beeindruckende Text von Lanoye und Perceval alle Mal wert. Die zwei haben da eine zeitgenössische Meisterleistung hingelegt.
#4 Danke Chantal. Schöner Hinweis. Wird Zeit, dass ich mehr Lanoye lese.
Vielen Dank für Ihren Artikel, Herr Herholz.
Ich schätze Menasse sehr, habe ihn vor genau einem Jahr für die „Jüdische Allgemeine“ interviewt:
https://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/7406/highlight/menasse
Unvergesslich ist natürlich die erste Seite seines Romans „Don Juan de la Mancha oder Die Erziehung der Lust“ (Stichwort Peperoni); das steht, ohne zu übertreiben, den Sex-Beschreibungen eines Philip Roth in nichts nach.
Bemerkenswert auch die Passage, in der der Held des Romans sich ein Bad einlässt und Badesalz benutzt, das dieselbe Zusammensetzung hat wie – nun, derjenige, der das Buch gelesen hat weiß Bescheid 😉
# 7 P.: Dank für Link auf Ihr Interview. Schöne komplexe Antworten gibt er da. Und meist führen sie ins Offene, statt dass etwas „zu Ende gedacht“ wird.
Gutes Gegengift gegen die grassierende Selbstgefälligkeit. Auch so ein Satz wie:
„Es ist die ewig glühende Scham wegen all dem, was man erlebt und getan hat, die dir die neurotische Energie gibt für den Kampf um gesellschaftliche Vernunft, pathetisch gesagt. Und der Blick auf das Komische: die (Schall-)Platte, die stumm am Ohr gedreht wird – und man weiß, was gespielt wird!“