Rot, Gold, Gelb – Das Licht, die Farben und die Oberfläche des Iseosees zur Sommersonnenwende 2016

The Floating Piers (Project for Lake Iseo, Italy) Collage 2014, 43.2 x 55.9 cm (17 x 22") Pencil, wax crayon, enamel paint, photograph by Wolfgang Volz, map, fabric sample and tape on brown board © Christo / Photo: André Grossman
The Floating Piers (Project for Lake Iseo, Italy)
Collage 2014, 43.2 x 55.9 cm (17 x 22″)
Pencil, wax crayon, enamel paint, photograph by Wolfgang Volz, map, fabric sample and tape on brown board
© Christo / Photo: André Grossman

Christo und Jeanne-Claudes neues Projekt The Floating Piers

Seitdem Jesus seinerzeit am See Genesareth auf dem Wasser zum Boot seiner Jünger gelaufen ist, träumen die Menschen davon, auf dem Wasser gehen zu können. Das Geh-fühl , was dem am nächsten kommt, ist das auf einem Schwimmsteg, der als hybride Konstruktion einerseits im Unterschied zum mobilen Schwimmkörper wie dem Boot dauerhaft verankert ist, sich andererseits aber durch seine schwimmende Konstruktion auf dem Wasser, welche mit einem oder mehreren Auftriebskörpern versehen ist, der Wellenbewegung anpasst. Handelt es sich bei den Schwimmkörpern um ein Schwimmdocksystem aus 220.000 hochverdichteten Polyethylenwürfeln, über die 70.000 Quadratmeter glitzernder dahliengelber Stoff gelegt sind, um vorübergehend einen drei Kilometer langen Steg über die Oberfläche des Iseosees zu bilden, der das Festland mit den Inseln Monte Isola und San Paolo verbindet, befinden wir uns in neuesten Kunstprojekt von Christo und Jeanne-Claude: Willkommen bei The Floating Piers!

Seit gestern und bis zum 3. Juli können hier, 100 Kilometer östlich von Mailand und 200 Kilometer westlich von Venedig, die Menschen auf dem Wasser wandeln. Die Stege sind 16 Meter breit und rund 40 Zentimeter hoch und an den Seiten abgeschrägt. Besucher können das Kunstwerk besichtigen, indem sie von Sulzano zum Monte Isola und hinüber nach San Paolo laufen. Von den umliegenden Bergen wird man das Projekt aus der Vogelpanoramaperspektive betrachten können.

Die kreative Vorgeschichte von The Floating Piers geht bis in das Jahr 1970 zurück: „Jeanne-Claude und ich verwirklichten zusammen 22 Projekte, aber für 37 erhielten wir keine Genehmigung. Einige der Projekte wurden abgelehnt, aber sie blieben in unseren Herzen und in unseren Köpfen.“ erzählt Christo.

Bereits 1970 regten Christo und Jeanne-Claude mit dem Projekt 2000 Metres Wrapped Infalted Piers für das Delta des Rio de la Plata in Buenos Aires eine schwimmende Oberfläche auf einem stillen Gewässer an, das Projekt wurde aber nicht verwirklicht. 1995 folgte mit The Daiba Project der Entwurf für mehrere Schwimmstege im Daiba-Gebiet der Bucht von Tokio, doch aus verschiedenen Gründen wurde auch dieses Projekt abgesagt.

Im Mai 2014 besuchte Christo mit Vladimir Yavachev, Josy Kraft und Wolfgang Volz den Lago Maggiore, den Comer See und eben auch den Iseosee, dessen Charakteristik ihm für das geplante Projekt am geeignetsten erschien: Das Kunstwerk würde die Stadt Sulzano auf dem Festland mit Peschiera Maraglio auf der im Iseosee befindlichen Insel Monte Isola verbinden, Peschiera Maraglio mit der zweiten Insel San Paolo und San Paolo wiederum mit Sensole auf der Insel Monte Isola.

Der Rest ist die typische Geschichte eines Christo-Projekts, von der Planung, Christos Skizzen, der Auswahl und Entwicklung sowie der Fertigung von Stoff und Schwimmkörpern und deren Tests bis zur Verankerung der 190 Fünftonnen-Anker, welche die Stege auf dem Boden des Sees sichern.

„Um das Spiel von Licht, Farbe und Oberfläche zu verstärken, entschloss sich Christo, 20 Prozent mehr Stoff zu verwenden, als die Gesamtlänge der Stege verlangt. Er legte das Projekt auch zeitlich in die Wochen um die Sommersonnenwende, also mit dem meisten Tageslicht, um die sich verändernde optische Wirkung zu maximieren. ‚Der See besitzt eine konstante Feuchte, und die Farbe reagiert und verändert sich ständig. Er glüht am Morgen rot und durchläuft im Laufe des Tages Gold- und Gelbtöne.‘“

Die Wechselwirkung zwischen dem Steg, seiner Farbigkeit, dem See und seiner Umgebung sind zentraler Bestandteil des Projekts. Der Besucher wird durch seine individuelle Perspektive und Lauf-Bewegung durch den temporären Raum zum Co-Regisseur:

„Es dreht sich alles um das Spazieren. Wenn man die Stücke an Land mitrechnet, muss man fünf Kilometer laufen, um das Projekt zu würdigen, die ständig wechselnden Ansichten, den See, die Berge, die anderen Besucher. All diese Dinge bilden zusammengenommen das Kunstwerk in seiner Endform.“, so Christo.

Das Gehen auf dem Schwimmkörper macht besonders fühlbar, sich auf einem natürlich-beweglichen Terrain zu bewegen, das nachgibt: „Am besten läuft man barfuß. Um die Wellenbewegung und das Material zu spüren. Es ist gespenstisch und erotisch zugleich.“

The Floating Piers ist 24 Stunden am Tag geöffnet, aber nur bis zum 3. Juli, anschließend werden sämtliche Bauteile entfernt und wiederverwertet. Die Vergänglichkeit als wesentlicher Bestandteil von Christos und Jeanne-Claudes Kunst kennen wir seit der Verhüllung des Reichtstags in Berlin 1995. Wie alle ihre Projekte wird auch The Floating Piers ausschließlich durch den Verkauf von Christos Originalkunstwerken finanziert.

Wenn Sie es einrichten können, dann machen Sie sich auf die Socken. Denn auch wenn es in keinem Reiseführer steht; The Floating Piers ist eine Reise wert.

Zum Trost für alle, die es bis zum 3. Juli nicht zum Iseosee schaffen, ist im Kölner Taschen Verlag das Buch zum Projekt erschienen, in dem – in der legendären Taschen-Qualität – zusammen mit Christos Skizzen, Modellen, Fotografien, Dokumenten und Entwürfen die vollständige Entstehungsgeschichte von The Floating Piers unter Einbeziehung sämtlicher Details hervorragend dokumentiert ist. Wenn man das gelesen hat, kann man nachher wirklich nicht mehr behaupten, man hätte nicht gewusst, was man verpasst.

Christo and Jeanne-Claude
The floating Piers
Project for Lake Iseo, Italy 2014-2016
Englisch/Italienisch
Softcover mit Klappen
23.5 x 29 cm, 96 Seiten
Taschen Köln 2016
€ 19,99
ISBN 978-3-8365-4786-4
ISBN 978-3-8365-4786-3 (updated version)

Eine Collector’s Edition, die nach Abschluss des Projektes erscheint, wird von Christo selbst entworfen sein.

Weitere Infos http://www.thefloatingpiers.com/#introduction

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Martin Kaysh
8 Jahre zuvor

Die Reservisten bei der Bundeswehr bauen die Dinger auch, wenn auch ohne Textilüberzug. Die Soldaten laufen allerdings nicht barfuß, sondern in Stiefeln drüber. Oder sie sitzen in Fahrzeugen, ganz schweren. Insofern haben sich Militärs diesen jesusualen Traum längst erfüllt, ohne Christus oder Christo dafür zu benötigen

Es ist leider so. Christo ist endgültig in der Torismusförderung nicht angekommen, sondern aufgegangen. Wann genau er den falschen Abzweig genommen hat, werden Experten erklären müssen. Es gibt jedenfalls keinen Bericht, der nicht die erhofften gigantischen Auswirkungen auf den Tourismus beschwafelt.

Mir müsste dann noch jemand erklären, was Jeanne-Claude mit dem Zeug zu tun hat. Wikipedia meint: Jeanne-Claude (* 13. Juni 1935 in Casablanca, Französisch-Marokko, als Jeanne-Claude Denat de Guillebon; † 18. November 2009 in New York City).

Wenn man das Gerede über diese Kunst ernst nimmt, das mesite ist ja reiner PR-Lärm, dann ist das in Italien ja ein originäres Projekt, dessen Entwicklung gerade mal zwei jahre in Anspruch genommen hat. Wäre es quasi temporär und geografifisch transloziert, dann… sollte man diese Pontons und anderen Kram gleich per Franchise anfertigen lassen.

Martin Kaysh
8 Jahre zuvor

Man merkt, ich habe von Krieg keine Ahnung. Ich meinte "Pioniere". Durcheinander kam ich, weil auf den Ruhrgebietskanälen jahrelang so ein Miltärboot rumfuhr, das "Reservist" hieß.

Arnold Voss
8 Jahre zuvor

Wie wäre es mit einem solchen barfusfreundlichen und weithin sichtbar-leuchtenden Ponton-Steg von der italienischen zur nordafrikanischen Küste? Da gibt es viele, die gerne über das Wasser gehen würden, anstatt in einem löchrigen und überladenen Gummiboot darüber zu schippern und unterzugehen. Und Schuhe haben die meisten von denen auch nicht.

Aber ich weiß natürlich, dass man so über große Kunst nicht schreiben darf.Und so ein Steg wäre ja auch viel zu lang und überhaupt, das würde doch gar nicht funktionieren…… obwohl, von einer der vorgelagerten griechischen Inseln in Richtung türkische Küste könnte es ….. Und wenn dann doch ein Sturm kommt?…. Vergesst es Leute, war einfach nur so eine Idee. 🙂

Walter Stach
Walter Stach
8 Jahre zuvor

Arnold,
ich denke, es ist doch ein gutes Zeichen für eine freiheitliche Gesellschaft -und für unsere persönlichen Verfassung-, daß ein solches Kunstprojekt im öffentlichen Raum überhaupt noch möglich ist, daß die Gesellschaft es ermöglicht, und daß u.a. wir es nicht für verwerflichoder gar für abartig halten , jetzt und hier darüber zu diskutieren, trotz…………………
Ich fand es jedenfalls heute früh angesichts einer farbigen Abbildung des Objektes in der TAZ als wohltuend, über dieses Kunstobjekt streiten zu können und nicht über Flüchtlinge, IS ,Brexit, Gabriels neuen Kurs für die SPD und nicht über die EM.

Andreas
8 Jahre zuvor

"Politkunstclown" Ai Weiwei vs. "Tourismusförderer" Christo

endlich hat die Kunst-Debatte das Niveau, das ich mir schon immer gewünscht habe …

( @ Arnold Voss: für die Verbindung zu den arabischen Ländern schlage ich aus nahe liegendem Grund "Fliegende Teppiche" vor, statt schwimmende )

Arnold Voss
8 Jahre zuvor

Die Freiheit der Kunst schließt die Freiheit der Debatte über sie ein, Andreas. Auch die Ironie gehört dazu, ja sogar das Lächerlichmachen. Die Kunst ist nicht sakr0sankt, sondern von Künstlern, also von Menschen gemacht. Die Kunstdebatte selbst ist durch den immer weiter um sich greifenden postmodernen „Kuratorenquark“, den man überall zu lesen und zu hören bekommt, selbst so beliebig geworden, dass auch das „Niveau“ der Diskussion darüber sich das Recht der Beliebigkeit nehmen kann.

Ja gerade die von ihnen selbsterhöhend behauptete Niveaulosigkeit (der anderen natürlich), könnte ohne Weiteres selbst zur Kunstform werden, wenn sie denn als Dekonstruktion der Kunstkritik selbst in den frei flotierenden Kunstmarkt eindringen würde, wie vieles andere, was früher als „niveaulos“ bezeichnet wurde. Die Konzeptkunst ist da schon etwas weiter als sie, Andreas. Denken sie mal ganz niveauvoll darüber nach. 🙂

Ach ja, und natürlich ist Kunst ein Tourismus- und damit ein Wirtschaftsfaktor, egal ob das der Künstler will oder nicht. Die, die zur Zeit erfolgreich sind, haben damit offensichtlich kein Problem. Ganz im Gegenteil. Es erhöht unter anderem die Preise für ihre Kunst.

Arnold Voss
8 Jahre zuvor

@ Daniel Kasselmann # 5

Ich habe die "Verpackung" des Reichstages in Berlin durch die Christos selbst miterlebt. Es war großartig. Aber Ich glaube nicht, dass man die Arbeitsteilung zwischen Kunst und Politik aufrecht erhalten kann. Zumindest nicht, wenn es der betreffen Künstler oder die betreffende Künstlerin selbst nicht will. Dass sich Kunst auf dem Weg in die Politik schnell überfordern, bzw. von dieser vereinnamt werden kann, ist allerdings an der aktuellen polititischen Kunst gut zu sehen. Aber das war immer schon so und die Künstler wissen in der Regel auch um diese Gefahr.

Walter Stach
Walter Stach
8 Jahre zuvor

Arnold,
in Deinem Sinne:

"Nie und nirgendwo ist der Mensch so frei wie in seinem künstlerischen Tun.
Nie und nirgendwo ist der Mensch so frei wie in seiner Sicht auf künstlerisch Geschaffenes, bei dessen Wahrnehmung und in dessen emotionaler und rationaler (Be-)Wertung".

Und nichts ist deshalb -folglich- so uneingeschränkt der Freiheit einer Gesellschaft überlassen, ausgeliefert, und in "ihrer Verfügung" -ideell und materiell- wie die Kunst. Das gilt auch für die Politik als ein, als das (?) gesellschaftlich relevantes Gestaltungs- und Steuerrungsmittel.

Die Geschichte weist unzählige Versuche auf, daran etwas zu ändern -durch wen und aus welchen Gründen auch immer. Zum Teil waren diese Versuche räumlich und zeitlich begrenzt erfolgreich.

Ob Deutschland eine freie und pluralistische Gesellschaft ist, läßt sich deshalb m.E. am ehesten daran erkenne, wie Gesellschaft und Staat mit der Kunst, mit den Künstlern, mit den Produkten ihres Schaffens "umgehen".

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