Hier sind Schrecken und Komik Schwestern: Zwei Studenten haben den Klum`schen Topmodels mit einer simplen Seminararbeit brutal in den grazilen Walk gegrätscht und sie dem Bochumer Rottstr5 Theater zum Sezieren vom Runway auf den Autopsie-Tisch gelegt. Nach knapp zweieinhalb Stunden Trash-Tranchieren endetet die Premiere und Uraufführung von „Wow, toll – Heidi und die Chicas“ mit tosendem Applaus.
Die Textvorlage stammt aus „Das ist der Tag, von dem ihr noch euern Enkelkindern erzählen werdet“ von Gregor Weichbrodt und Grischa Stanjek Die zwei Berliner Studenten hatten für eine Seminararbeit in Typographie den gesamten Text des 2011er Finales von Germany`s Next Topmodel verschriftlicht. Wort für Wort. Sie erhielten daraufhin hunderte Anfragen – von Journalisten, Zeitungen, Blogs und Verlagen. Aber nur eine Anfrage stammte von einem Theater. So sagten die zwei kurzerhand dem Rottstr5 Theater zu, das den Stoff als Action-Lesung auf die Bühne bringen wollte. Sie war innerhalb weniger Wochen ausverkauft. Eine zweite Vorstellung ist für den 9. März geplant.
Ohne groß zu proben, machte die Crew den transkribierten Stoff – nun mehr handlicher Leichnam, als Show – mit einem Großaufgebot von 13 Schauspielern und einfachsten Mitteln, wie etwa gut choreografiertem Lichteinsatz, sprechen. Sie zersägten Satzglieder und benutzten Rhythmen, Pausen und Betonungen wie ein Skalpell. Mithilfe dezenter Bearbeitung legten sie so sämtlichen Subtext frei und entblößten die volle Palette des Fremdschäm-Potenzials. Selten wurde aus einer Show, wie sie Klum & Co. sonst wie selbstverständlich in die Welt würgen, post mortem noch so viel herausgeholt. Es war, als hätte die Leiche gesprochen.
Der Walk-In der Models und Moderatoren wurde von einzelnen Spots begleitet. Heidi Klum (Nermina Kukic) betrat erst nach ihrem Hofstaat mit Engelflügeln und Wunderkerzen ausstaffiert die Bühne. Jeweils ein Sofa zur Linken und zur Rechten ruhte die Eiskönigin mit dem Gefrierlächeln im Zentrum des Geschehens. Die drei Finalistinnen wurden gegen den Strich mit Männern in Pumps besetzt. Kukic balancierte das charakteristische Klum-Gehabe gekonnt auf ihren (mindestens 14 Zentimeter hohen) Skyscraper Heels. Der obligatorische Hairstylist war ein echter. Denn Sven Reisner frisierte live während der Show.
Als Erzähler benannte Max Florian Kühlem jede noch so absurd wirkende Regieanweisung wie „Musik. AC/DC. TNT. Thomas und Thomas erscheinen“. Die Crew hielt bei jedem der unzähligen Superlative und auch bei allen Sinn entleerten Kommentaren und Komplimenten entsprechende Schilder hoch. Ständig war in großen Lettern zu lesen: „Wow“, „Toll“, „Super“. Auf nahezu jeden zweiten Satz folgte laut Skript übermäßiger Jubel. Das Maß an Redundanzen wurde innerhalb kürzester Zeit fast unerträglich und ließ jede Menge absurde Zweideutigkeiten zutage treten. Irgendjemand aus dem Publikum scheit regelmäßig etwas Richtung Bühne. Wahlweise „Rebecca!“ oder „Jana!“, aber auch „Der Zafira ist deiner!“. In dieser Welt ist ein Leben in Freiheit eben ein Leben ohne Bügeleisen.
So wurde sich das Publikum trotz beständigem Lachreiz über das erhebliche Ausmaß der Sinnfreiheit bewusst. Fast schmerzlich erkannte es, wie substanzlos das Gesagte eigentlich war und was wirklich passierte, während man vor dem heimischen Fernseher zu beschäftigt damit war, anderes wahrzunehmen. Heidi fasst es aber an anderer Stelle noch einmal zusammen: „Wir haben nichts, aber wir schaffen das auch so.“ Es schien, als wäre man beim Fernsehen von visuellen und akustischen Effekten, dem Cat-Walk und den Menschen derart abgelenkt gewesen, dass einem zwar irgendwie dämmerte, dass die Beiträge stumpfsinnig und die Show vollkommen inhaltslos waren. Die Zuschauer erfuhren: Thomas Tipps für die Kandidatinnen während der Sendung waren immer „very international“. Worauf dieser entgegnete, es wäre „very gern geschehen“. Zutage trat zudem ein Mangel an ganzen Sätzen. Stattdessen gab es Gestammel und Gestotter: „War nicht so einfach das, oder?“, so die blondierte Topmodel-Mutter. Kurz gesagt: Weder Heidi noch einer ihrer beiden Kollegen würden grüßen, wenn Sprachgefühl und Grammatik auf der anderen Straßenseite stehen und winken würden.
Jedem, der die Show auch nur ein einziges Mal gesehen hat, dürfte schon vorher klar gewesen sein: Der Anteil an Information tendiert gegen Null. Aber welches Aussagengemisch stattdessen mit einem Format wie diesem transportiert wurde, war drastischer, als erwartet. Denn mit der Lesung ließ sich nun auf eindrucksvolle Weise zeigen, dass die Sendung, die Zuschauer sonst gerne zur Unterhaltung einschalten, zum großen Teil mit menschenverachtender Selektion und Abwertung arbeitet.
Auch, weil niemand genau hinhört, funktioniert die Show mit sexistischen Anzüglichkeiten. Sprachliche Parallelen zu Prostitution inklusive. So sprechen alle ständig von Kunden und Jobs. Einer der Juroren zu einer dunkelhaarigen Kandidatin: „Du schaffst es, einen Kunden, der ein blondes Mädchen sucht, dass er hinterher dich nimmt.“ Kurz vor der finalen Entscheidung resümierte Heidi: „Jetzt haben wir ja eine, die weint und zwei, die glücklich sind. Aber das war erst der Anfang“, während ihr eisiges Lächeln gefriert. Eine Besucherin sagte: „Das sagen die alles wirklich. Man kann es nicht ausblenden. Sie verschweigen nichts. Es ist der Wahnsinn und dabei so bescheuert.“
Da die Songs von Gesangsact Lady Gaga (verkörpert von einem wunderbaren und zu Recht gefeierten Christian Krautien) auf Deutsch gelesen wurden, zeigte sich auch, dass sie das einzig kritische Gegengewicht zu den in der Show propagierten Werten bildete. Anders als in der Show, hatte auch der slowenische Kulturphilosoph Slavoj Žižek (Honke Rambow) einen Kurzauftritt, um die Gerüchte über eine Affäre mit Lady Gaga zu dementieren. Es mache keinen Unterschied, ob jemand ein Gerücht bestreitet, sagte Žižek. Es lebe trotzdem fort. Auf seinem T-Shirt war zu lesen „Freedom of Speech Go to Hell“. Nachdem Lady Gaga ihre Songs gesungen hatte, sagte sie schließlich (wie schon in der Original-Show) zu Heidi: „I was fantasising about a guillotine on a runway for some time and I thought I would do it with you.“ Amen und langer Applaus.
Die beiden Studenten Weichbrodt und Stanjek waren nach einer Einladung zur Premiere extra aus Berlin angereist und gaben sich zufrieden: „Die Interpretation war wirklich lustig. Das Buch war schon aussagekräftig, aber im Theater kann man natürlich auch mit Pausen und Ähnlichem arbeiten.“ Dennoch hatten die beiden viele Details des Textes schon wieder vergessen. Weichbrodt sagte: „Als ich es jetzt auf der Bühne gesehen habe, wurde mir wieder klar: Der Text erscheint so unglaubwürdig, aber das haben die alles so gesagt.“ Nach dem ersten Bühnen-Experiment hätten sie Lust auf weitere Interpretationen. „Ich würde es mir auch gerne nochmal in einem großen Haus ansehen“, so Stanjek. Ob der Text bald als Buch in die Läden kommen wird, können die zwei noch nicht sagen. Da sie vor allem mit rechtlichen Unklarheiten konfrontiert sind, haben sie diese Aufgabe an Verlage übertragen. Die Idee, das Finale von Germany`s Next Topmodel zu transkribieren, war übrigens aus der Not unter Zeitdruck vor einer Präsentation an der Uni entstanden. Sie entwickelten sie spontan innerhalb von nur dreißig Minuten.