„Rückkehr des Terrors“: Warum die Resolution des Bundestages gegen Judenhass so wichtig ist

„Gespächskanäle offen halten“: Tunnel der Hamas August 2024, sechs Geiseln ermordet | IDF Spokesperson’s Unit cc 3.0

Terror breche in Wellen herein, schreibt Peter R. Neumann in Die Rückkehr des Terrors, mit dem 7. Oktober baue sich eine neue Welle auf, eine weltweite. Die auf Juden zurollt und auf den jüdischen Staat, als werde sie getunnelt. Über Israelhass als Weltdeutung schreibt Neumann nichts, was er verdeutlicht: dass alle die Wahl haben, die Welle zu brechen oder auf ihr zu reiten.  

Zürich, Selnaustraße 2. Am späten Abend des 2. März, einem Samstag, sticht der 15jährige Houij A. mit dem Ruf „Tod den Juden“ auf einen Passanten ein, der Mann, orthodox gekleidet, überlebt schwerstverletzt. Das Attentat findet nur wenig öffentliches Entsetzen: ein Jugendlicher, in der Schule gemobbt, von TikTok verwirrt. Für viele Juden jedoch war es „ein Schock“, schreibt Peter R. Neumann in seinem jüngst erschienen Die Rückkehr des Terrors, schlagartig habe der Anschlag bewusst gemacht, dass es für Juden keinen Ort geben soll auf der Welt, sich sicher zu fühlen, kein Israel  –  die Massaker der Hamas sind wie gestern geschehen  –  und kein beschauliches Zürich, seit mehr als 750 Jahren leben Juden in der Stadt. „‘Wenn selbst Zürich nicht mehr sicher ist, was dann‘?“

Ein qualitativer Umschlag. Auf den ersten Blick fügt sich das Zürcher Attentat in gängige Deutungsmuster ein: alle paar Jahre ein Mord  –  im Juni 2001 war nur ein paar Straßen weiter Abraham Grünbaum niedergeschossen worden, der Rabbiner verstarb, der Fall ist ungeklärt bis heute  –  oder eben alle paar Wochen ein Mord, auch daran gewöhnt man sich schnell, seit dem 7. Oktober 2023 hat sich die Zahl dschihadistischer Attentate in Europa vervierfacht.

Einerseits, andererseits markiere die Vervierfachung dschihadistischen Terrors seit 10/7 „einen Quantensprung“, so Peter R. Neumann, der Politikwissenschaftler gilt als Experte für Terror-Analyse, 2008 hat er das International Centre for the Study of Radicalisation am King’s College der Uni Cambridge gegründet. In der nackten Zahl offenbare sich eine andere Qualität des Terrors, eine enorm integrative Kraft, es ist, so lässt sich Neumann deuten, als trete Terror mit offenen Armen auf und träfe auf eben diese. Weltweit ebenso wie im betulichen Zürich, wo ein Teenager-Terrorist imstande ist, drei sehr verschiedene Konzepte von Terror –  IS, Hamas und TikTok-Dschihadismus  –   in einer gezielten Terrorattacke zu bündeln. Bisher galt in der Terrorforschung als ausgemacht,

  • dass es Hamas zuvorderst ums eigene Reich gehe from the river to the sea,
  • dem IS dagegen mit seinem hochaktiven Ableger aus der Provinz Khorasan (ISPK) um einen weltweiten Religionskrieg, einen globalen Dschihad gegen den Westen,
  • während im „TikTok-Dschihadismus“ –  so heißt, wenn ein Radikalisierungszyklus vollständig virtuell abläuft, ein Phänomen, das Terror-Forscher noch vor wenigen Jahren für undenkbar hielten  –  die „Salatbar“-Strategie regiere: Ihr ideologisches Menü stellten sich die meist sehr jungen Probanden selbst zusammen, „aus ihrer Sicht macht es keinen Unterschied, ob im Nahen Osten für Palästina oder für ein globales Kalifat gekämpft wird.“

Was allerdings nicht bedeutet, sie kämen von Tik nicht über Tok hinaus, tatsächlich hat sich der 15jährige Houij A. in Zürich auf den neuesten Stand einer Entwicklung gebracht, die der islamistische Terror in all seinen Versionen nimmt, eine kurze Chronologie:

  • Im Oktober 2023 ruft Hamas –  es ist der erste und zweite Freitag nach 10/7  –  zum globalen Aufstand auf, einem weltweiten „Tag des Zorns“.
  • Wenige Wochen darauf, Mitte Dezember 2023, werden nahe Berlin vier mutmaßliche Hamas-Mitglieder festgenommen, sie stehen im Verdacht, vor Jahren angelegte Waffendepots auflösen und Anschläge in Europa verüben zu wollen –  was auf eine „radikal veränderte Strategie der Hamas“ hindeuten würde, so Neumann.
  • Zwei weitere Wochen später nähert sich der IS seinerseits der Hamas an. Nach wochenlangem Schweigen erklärt der Sprecher der Terrortruppe, Abu Hudhayfah al-Ansari, bei den Hamas-Massakern handele es sich nun doch „um einen Religionskrieg und nicht um einen Krieg um Grenzen oder Territorium“, wie Neumann die 34minütige Audiobotschaft wiedergibt: „Juden sollten terrorisiert werden, ‚weil sie Juden sind‘ –  nicht etwa, weil sie in israelischer Uniform gegen Palästinenser kämpften. (…) Gotteshäuser eigneten sich für Anschläge besonders gut. Alle Methoden kämen dabei infrage …“
  • Acht Wochen später, am 2. März 2024 in Zürich, beruft sich Houij A., der 15jährige TikTok-Dschihadist, Wort für Wort auf eben diesen Abu Hudhayfah: „‘Der Glaube, dass das Bekämpfen von Juden sich auf Palästina beschränkt, ist falsch‘“, zitiert Neumann die Strategie von Houijs Terror, „‘der Kampf findet überall auf der Erde und unter dem Himmel statt.“
  • Im Mai meldet der Iran seinen Führungsanspruch zurück. Vier Wochen nach dem erfolglosen Raketenangriff auf Israel, der dem Regime in der arabischen Welt mehr Spott als Respekt eingebracht hat, geben drei Jugendliche –  14, 15 und 16 Jahre  –  mehrere Schüsse auf die israelische Botschaft in Stockholm ab, ihre Botschaft: dass sie gar keine Kinder-Terroristen sind und keine TikTok-Dschihadisten, sondern Mitglieder einer schwedischen Drogengang namens Rumba, die wiederum vom Iran  –  den iranischen Revolutionsgarden (IRGC)  –  beauftragt worden sind, den Anschlag auszuführen. Seit Jahren arbeiten die IRGC mit lokalen Gangs zusammen, beim Anschlag auf die Synagogen in Bochum und Essen im November 2022 beispielsweise mit rheinländischen Hells Angels; im Ruhrgebiet könnte es überdies zu einer Verflechtung staatlich-iranischer Stellen mit clan-kriminellen Strukturen gekommen sein …
  • Juni 2024: Hassan Nasrallah, Kopf der vom Iran gesteuerten Hisbollah, die seit 10/7 Tausende Raketen auf die israelische Zivilbevölkerung lenkt, droht mit Terror „ohne Regeln und ohne Grenzen“. Als akutes Ziel gibt er Zypern aus, Mitgliedsstaat der EU.
  • August 2024: Einem Bericht des israelischen TV-Kanals Channel 12 zufolge, den die Jüdische Allgemeine aufgegriffen hat, hat die verbliebene Führung der Hamas förmlich beschlossen, die Strategie zu wechseln und ihren Terror zu internationalisieren.

 

Tel Aviv, Mai 2024: #BringThemHomeNow (Foto: Peter Ansmann)
Tel Aviv, Mai 2024: #BringThemHomeNow (c) Peter Ansmann

Der Trend ist eindeutig, die Massaker der Hamas am 7. Oktober haben „alle Spielarten des Dschihadismus aktiviert“, so Neumann: „Ähnlich wie die Anschläge vom 11. September 2001 wurde der 7. Oktober 2023 zum Kristallisationspunkt für eine in vielerlei Hinsicht heterogene Bewegung.“

Heterogen deshalb, weil die diversen Terror-Cliquen, die ihre Konzepte wie Franchise offerieren, einander keineswegs so grün sind wie die Farbe ihrer Fahnen  –  der IS etwa verübte noch Anfang Januar einen brutalen Anschlag gegen den Iran   – , bei allen aber „zeigt die Terrorkurve nach oben“.

Woraus Neumann schließt, „eine neue Welle des dschihadistischen Terrorismus“ baue sich auf, sie rolle auf Europa zu. Eine ähnliche Welle hat er auch 2015 in seinem „Die neuen Dschihadisten“ analysiert, damals ging es ihm darum, das Aufkommen des IS zu erklären, der seine Truppen in mehr als 90 Staaten rekrutieren konnte: Jeder fünfte Killer des IS stammte aus Westeuropa, seinerzeit reisten allein aus Deutschland  –  nicht zuletzt aus Dinslaken  –  rund 1150 Bürger zum Morden ab ins Kalifat.

Was sich seitdem geändert hat, spielt sich ebenfalls im Westen ab, nun aber in jenen Köpfen, die Dschihadisten abschlagen wollen. Es ist die wirklich beunruhigende Einsicht, die Neumann bietet, er verdeutlicht sie mithilfe des „Wellen-Konzepts“:

Um terroristische Bewegungen zu verstehen, hat der US-amerikanische Historiker David Rapoport, ein Doyen der Terrorismusforschung, den Blick nicht nur auf einzelne Akteure, Gruppen und Ereignisse konzentriert, sondern nach gemeinsamen Merkmalen gesucht und auf diese Weise vier Terror-Wellen unterschieden, die einem vergleichbaren Muster folgen:

  • die anarchistische Welle ab den 1880er Jahren
  • die anti-koloniale ab den 1920ern
  • die neu-linke ab den 1960ern
  • die religiöse ab den 1980ern.

Liest sich wie Konjunkturforschung  –  als spülte Terror so verlässlich ins Land wie Wellen an den Strand  – , auf diese Weise aber kann Rapoport Phänomene herausarbeiten, die allen vier Wellen gemeinsam sind, er tut es in der Hoffnung, dass es möglich werde, präventiv einzugreifen:

  • Jede Welle werde von einem ideologischen Konzept angetrieben,
  • jede benötige einen spezifischen Auslöser, die neu-linke etwa den Vietnam-Krieg,
  • jede beginne in einem einzelnen Land und weite sich von dort aus,
  • jede durchlaufe Phasen der „expansion and concentration“, der Radikalisierung, Repression und De-Radikalisierung,
  • jede halte rund ein Berufsleben lang an.

Die jüngste dieser vier Wellen, die religiöse  –  „Islam is at the heart oft he wave“  –  unterteilt und verlängert Neumann nun seinerseits in drei „Miniwellen“. Deren gemeinsamer Ur-Impuls gehe auf das Jahr 1979 zurück: Ayatollah Khomenei reißt die Macht im Iran an sich, seitdem baut Terrorismus auf einem Staatsapparat auf, gleichzeitig beginnt der palästinensische Terror gegen Israel  –  ebenfalls 1979 schlossen Israel und Ägypten politischen Frieden  –  sich zu islamisieren; schließlich „kam bin Laden zu dem Schluss, dass man zuerst gegen die westlichen ‚Strippenzieher‘, ganz besonders die Vereinigten Staaten, kämpfen müsse“. Daran schlossen an:

  • al-Qaida und die Welle des 11. September 2001
  • IS und die Syrien-Welle 2011
  • Hamas und die Welle des 7. Oktober 2023

 

25th anniversary of Hamas celebrated in Gaza by Hadi Mohammad cc 4.0

Erhellend an diesem Wellen-Konzept ist nicht allein, dass es einen politischen Zeit- und Handlungsraum ausmisst –  „Mini-Wellen“, schreibt Neumann, dauern „etwa zehn bis zwölf Jahre“  – , sondern Phänomene sichtbar macht, die dem Muster einer Terrorwelle entsprechen oder abweichen von ihm. Damit schärft Neumann den Blick für die Zäsur, die 10/7 markiert, es sind drei Punkte, die sich mit seiner Hilfe ausmachen lassen:

  • Das religiöse Konzept des Terrors verdampft

Während der ersten „Mini-Welle“ bereits verfasste Sayyed Imam Al-Sharif, führender Kopf der dschihadistischen Bewegung, eine scharfe Kritik an al Qaida, sein Urteil damals sei „vernichtend“ gewesen, so Neumann. In der anschließenden Syrien-Welle gab es kaum mehr fromme Studenten, die gemordet haben, dafür „Kleinkriminelle oder Abenteuerlustige“, Leute, die ihre eigene Bestialität, ihr Bestie-Sein-Können, als eine „Form von Erlösung“ verkaufen konnten: als „Selbstermächtigung“, wie Neumann sagt, als Selbsterlösung. Als dann im Herbst 2018 vom riesigen Kalifat des IS kaum mehr als ein paar Dörfer geblieben waren, offenbarte dies aller Welt, wie schnell doch ein Reich, das sich als göttlich denkt, in Luft auflöst. Und mit ihm das Motiv der Selbstermächtigung, die Hoffnung des Shahid, er könne sich selber gen Himmel sprengen. Globaler Religionskrieg? Im November 2020 schien der Dschihadismus am Ende …

  • Judenhass als Religionsersatz

Es war Hamas, die der Idee von einem globalen Religionskrieg ein neues „Framing“ gegeben hat: Seit 10/7, den Hamas-Massakern in Israel, schrauben alle Terror-Cliquen  –  oben beschrieben  –  ihren Anspruch ins Weltumfassende hinein, wie es IS schon immer tat, und alle konzentrieren sie ihren weltumspannenden Anspruch so, wie es Hamas schon immer tat, nämlich auf einen Landstrich, der halb so groß ist wie die Schweiz. Weltweiter Religionskrieg, der sich auf 0,004 % der Erdoberfläche zusammenzieht plus ein paar Hundert Synagogen, die es auf ihr gibt, Restaurants, Unternehmen, Botschaften. Think global, act local, kill Jews und vielleicht noch ein paar andere, die sich zu Juden oder zu Israel halten: Die Hamas-Welle hat keine fromme Idee mehr und kein politisches Ziel, keinen Gott und kein Kalifat, sie betet nackten Judenhass an. Purer Idealismus, auf ihn reagiert die

  • Terrorphilie des Westens

Innert Stunden haben die Massaker von 10/7  –  „noch bevor Israel seine Militäroffensive überhaupt begonnen hatte“  –   den Judenhass in Europa von der Leine gelassen, in fast allen europäischen Ländern liegt der Anstieg antisemitischer Vorfälle „im dreistelligen Prozentbereich“, so Neumann. Ein Wind of Change, der die Terror-Welle vor sich her bläst und aufbaut, Neumann macht dies an dem Vorwurf fest, Israel würde die Palästinenser „auslöschen“: Das Gerücht vom Genozid –  „sachlich falsch“, wie er nüchtern festhält –  wird von links bis rechts und quer durch die Mitten verbreitet, die Vereinten Nationen wüten gegen Israel, der Internationale Gerichtshof ermittelt, drei europäische Staaten erkennen einen „Staat Palästina“ an usw. Was den Genozid-Vorwurf so gefährlich macht, schreibt Neumann, „ist die existenzielle Dimension“: Komme sie ins Spiel, sei „fast jedes Mittel“ recht, um Israel daran zu hindern, sich gegen Terror zu verteidigen.

Dies die Reaktion im Westen der Welt, sie ist definitiv neu. Sympathien für Terror gab es auch in der anti-kolonialen und in der neu-linken Welle, aber Abscheu für den, der sich gegen Terror wehrt? Anstatt die Terror-Welle zu brechen, brechen die Dämme.

Weswegen die Resolution des Bundestages so wichtig ist. Soweit Entwürfe bekannt geworden sind, wollen die demokratischen Fraktionen unmittelbar auf die Terrorwelle reagieren, die Hamas ausgelöst hat, und auf die Sympathiewelle, die Hamas weich umspült. Was Terrorismus von anderen Formen der Gewalt unterscheidet, so Neumanns Definition, ist sein „symbolischer Charakter“, er ist es, der Terror heranrückt an Kunst und Kultur. Die kulturell eingeübte Deutung terroristischer Symbolik geht darauf, dass es sich um „Widerstand“ handele. Mit dieser Deutung wird, geht es um Terror gegen Demokratie, die Verkehrung von Täter und Opfer grundgelegt, und schon schlagen sich die Vielen auf die Seite des Terrors, weil es moral-ästhetisch erhebt, sich selber als Opfer zu entwerfen. So erst entsteht der symbolische Charakter terroristischer Gewalt, seine integrative Kraft: Antidemokratischen Terror als „Widerstand“ zu deuten, verschwistert Leute, die sonst wenig gemeinsam haben. In NRW etwa erklärt jeder Dritte  –  so die gestern vorgestellte Studie “Antisemitismus in der Gesamtgesellschaft von Nordrhein-Westfalen im Jahr 2024“  – , dass die Massaker der Hamas als „Befreiungsschlag der unterdrückten Palästinenser zu verstehen” seien. Und der Holocaust, wäre der nicht ebenfalls „kritisch zu hinterfragen“? Rund die Hälfte der Befragten in NRW stimmt „tendenziell zu“. Noch so ein „Befreiungsschlag“.

Wenn der Bundestag ein Jahr nach 10/7 erklärte, dass er diese Art von Verschwisterung nicht mit Steuermitteln antreiben wolle, wäre die Welle des Terrors lange nicht gebrochen, das versteht sich, aber es wäre ein Damm gegen Terrorphilie errichtet, symbolisch wie der Terror selbst. Sollte der Bundestag es überdies begrüßen, wenn aktivistische Gruppen wie die IRGC, die iranischen Revolutionsgarden, es endlich auf die Terrorliste der EU brächten, träte im Bündnis von Terror und Terrorphilie ein wirklicher Bruch auf.

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Peter R. Neumann
Die Rückkehr des Terrors
Rowohlt 2024
22 € / 19,99 €

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Titelfoto: Murder of the six Israeli hostages, August 2024. The bodies of six hostages abducted alive by Hamas on October 7 were recovered from a tunnel in southern Gaza’s Rafah overnight, shortly after they were murdered. The hostages were:

Hersh Goldberg-Polin, 23

Eden Yerushalmi, 24

Ori Danino, 25

Alex Lobanov, 32

Carmel Gat, 40

Almog Sarusi, 27

 

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