Kürzlich war ich mit dem Dezernenten einer Ruhrgebietsstadt essen (und trinken) in Essen. Später kam noch seine Frau dazu. Unser Gespräch mäanderte aufs Angenehmste durch alle Themen des Weltgeschehens. Irgendwann stellte er dann die These auf, Berlin sei sozial und kulturell spannender und vielfältiger als das Ruhrgebiet. Da war ich platt.
Denn ich kenne den Kollegen als extrem fach- und sachkundig, was alle wichtigen Entwicklungen des Ruhrgebietes betrifft (an alle, die jetzt raten: es ist kein früherer Chef von mir), ich nutze ihn sogar als Informationsquelle, wenn ich z.B. im Freitag über Ruhrgebietsthemen schreibe. Ich widerspreche ihm, aber halte dieses Phänomen für repräsentativ für das Ruhrgebiet: der permanente Minderwertigkeitskomplex, der Neid auf die Konkurrenz, sei es nun Düsseldorf, Köln oder Berlin und das Übersehen der eigenen Potenziale. Wer kennt es nicht, dass man seine Stadt erst kennenlernt, wenn einen auswärtige Gäste bitten, ihnen mal eine Führung zu organisieren? Als ich längst im Rheinland studierte, baten mich MitstudentInnen, ihnen eine "Tour de Ruhr" zu organisieren, inspiriert von der gleichnamigen TV-Serie der 80er Jahre (Drehbuch Elke Heidenreich; eine Hauptrolle: Marie-Luise Marjan, die spätere "Mutter Beimer"). Dabei lernte ich im hohen Alter von 25 erst die wahren Qualitäten meiner Heimat kennen, die Arnold Voss kürzlich an dieser Stelle in seinem lesenswerten Essay aktualisiert beschrieben hat. (ja, der Text ist lang, aber er lohnt sich!)
Nun bittet Europa das Ruhrgebiet als Kulturhauptsdtadt zu fungieren – und ja, das muss ein Erfolg werden – aber die Akteure finden Berlin irgendwie doller. Wenn es nicht so ernst wäre, wäre es zum lachen. Mein Gesprächspartner sah schnell ein, dass das Ruhrgebiet nicht nur doppelt so groß wie Berlin ist (an Einwohnern), näher am prosperierenden Rheinland, an Brüssel, Paris und London liegt, sondern auch ein Vielfaches an Opern, Theatern und kreativer freier Szene zu bieten hat. Gleiches gilt für die Einwohner mit, wie Landesminister Laschet sagen würde, "Einwanderungsgeschichte". Was hat Berlin dem Ruhrgebiet voraus? Die Bundesregierung, Beamtenapparate, politische Klasse (die dort besonders abgehoben weil fern der überwiegend westlichen Heimat agiert), Lobbbyisten- und Politikberatungsindustrie. Da kann ich als heutiger Bonner nur sagen: seid froh, dass die so weit weg sind! Seit sich viele von denen aus Bonn verzogen haben, hat die Stadt erkennnbar an ökonomischer, sozialer und kultureller Dynamik gewonnen – und wie Blei liegen sie jetzt auf dem ohnehin schon bitterarmen Berlin.
Die Musikindistrie ist fast komplett nach Berlin übergesiedelt. In Köln macht man dankbar drei Kreuze darüber. Denn sie ist – aufgrund eigener Dummheit, die eigenen Fans als Verbrecher zu jagen – mittlerweile noch töter als der Steinkohlebergbau. Und Dieter Gorny spricht für sie. Muss man Berlin darum beneiden?
Ich fragte also meinen Gesprächspartner, wie er denn darauf komme. Nun ja, meinte er, in Berlin- Mitte sei doch um diese Zeit (es war 22.30 in einem indischen Lokal in Essen-Rüttenscheid) mehr los als hier. Das musste ich zugeben. Allerdings ist es ein Irrtum, das für einen Beweis sozialer und kultureller Vielfalt zu halten. Es gibt nämlich kaum etwas monokulturelleres als Berlin-Mitte. Was mich an Berlin irre machen kann, wie auf engstem Raum so eine soziale Segregation statttfinden kann, dass z.B. in Straßen, die auf der Grenze der Bezirke Wedding und Mitte verlaufen, die Leute die Straße einfach nicht überqueren. Dagegen ist die U17 von Essen nach Gelsenkirchen-Horst ein avantgardistisch-multikulturelles Entwicklungslabor.
Ich muss nur zugeben, dass ich selbst das auch erst sehe, seit ich in der idyllischen Puppenstube Bonn (weniger als halb so viele Erwerbslose wie in Gelsenkirchen) lebe und sie regelmässig zum Verwandtenbesuch im wahren Leben des Ruhrgebietes verlasse. Die Chance des Ruhrgebietes ist die Alltagskreativität seiner Einwanderer (schon immer gewesen), und hier besonders der jungen, und von denen besonders der Frauen. Keine andere deutsche Region hat so viel davon, auch Berlin nicht. Ob die Kulturhauptstadt dem Rechnung trägt, weiss ich nicht. Aber sie muss es!
Als wir uns im Gespräch gerade darauf einigten, erschraken wir, es war schon viertel vor 11 geworden. Es war ein Werktag. Die letzte Bahn nach Karnap fährt um 23 Uhr. Ich musste zugeben, so wird das natürlich nichts. Berlin, Du hast es doch besser.
Schönes Stück. 🙂
Berlin ist nicht unbedingt spannender als das Ruhrgebiet, aber auf jeden Fall urbaner.Es gibt dort ganze Stadtteile die flächendeckend als Ausgehviertel funktionieren und nicht nur die Menschen aus Berlin sondern aus aller Welt anziehen. Da können die Innenstädte in Ruhr nicht mithalten. Auch nicht das viel gerühmte Bermuda-Dreieck und schon lange nicht das Kreuzviertel in Dortmund oder Essens Rüttenscheider Meile.Klassische Urbanität in großem Maßstab ist wieder ein Standortvorteil geworden, gerade wenn man die kreativen und unkonventionellen Menschen dieser Welt bei sich vesammeln möchte. Und diesen hat Berlin in den letzten 20 Jahren zu nutzen gewusst. Das Hauptschmiermittel waren dabei die äußerst günstigen Mieten in zentraler städtischer Lage.
Lieber Martin,
würde aus deine Zeilen nicht die (altersbedingte?) Sentimentalität eines seit 30 Jahren emigrierten Ex-Gladbeckers/Esseners geradezu triefen, dann würde ich das glatt für eine grossartige Aussenbetrachtung eines Ruhrgebietsinternisten halten.
Dir, aber auch meinem Vorredner hier möchte ich noch eine Vokabel zur Besinnungsaufgabe machen, die in all dem Kulturhauptstadthype natürlich kein Echo finden kann… doch was das Ruhrgebiet, und eben auch Bermuda, Rüttenscheider oder Kreuzviertel auszeichnet, dass ist ihre NORMALITÄT! Nicht zu verwechseln mit Durchschittlichkeit, aber eben ganz anders als Berlin, Köln, Hamburg oder Bonn.
Minderwertigkeitskomplexe sehe ich, so wie du Martin, auch all überall. Aber eben auch sie machen den Charakter des Reviers aus. Sie sind vermutlich nicht heilbar, jedenfalls nicht durch RUHR2010 Kampagnen oder andere Multi Millionen Euro Etats.
Lasst uns in ein/zwei Generationen nochmal darüber reden!
Als Exil Essener in der münsterlandischen Ex-Kreisstadt…
Glückauf!
Klaus
Lieber Vorredner, ich kann leider mit dem Begriff Normalität nicht viel anfangen. Ich weiß nur, dass die Rüttenscheidertraße keine normale Straße ist, und das Kreuzviertel kein normales Viertel und erst recht nicht das Bermuda3eck ein normales Straßendreieck. Helfen sie mir also auf die Sprünge, damit ich die von ihnen gestellte Besinnungsaufgabe bewältigen kann.
Hallo Martin,
ich denke, dass das Ruhrgebiet und Berlin überhaupt nicht vergleichbar sind. Berlin „an und für sich“ gibt es ja auch nicht. Durch meine berufliche Tätigkeit in Berlin habe ich ja die Möglichkeit, die Lage hier gründlich zu erkunden.
Obwohl nicht vergleichbar, fällt mir nach fast vier Monaten intensiven Kennenlernens von Berlin und 30 Jahren Kenntnis des Ruhrgebiet folgendes auf:
1. interessiert mich die „Mitte“ von Berlin überhaupt nicht. Die Gegend um den Potsdamer Platz ist für mich so interessant wie das Centro in OB, also gar nicht.
2. ist es ganz schön, die Vielfalt von Lokalen in KreuzbergFriedrichshainKreuköllnPrenzlauerberg genießen zu können, der Lärmpegel nervt aber schon und hat mE auch wenig mit urbanem Flair zu tun.
3. ist die Vielzahl von Kinos in Berlin eine echte Bereicherung. Ein vergleichbares Angebot im Ruhrgebiet fehlt.
4. ist das ÖPNV-System hier nahezu optimal. Davon kann im Ruhrgebiet überhaupt nicht die Rede sein. Aber eigentlich wissen wir das schon lange und wir wissen auch, dass es relativ schnell mit gutem Willen und entsprechender Prioritätenveränderung verbesserbar wäre.
Gern mehr zu meinen Metropolenvergleichen später
@Börje
Großstädtische Urbanität ist ohne einen gewissen Lärmpegel nicht zu haben. Und Berlin Mitte ist nicht (nur) die Gegend um den Potsdamer Platz. Ansonsten stimme ich deiner (ersten)kurzen aber doch prägnanten Berlinbeschreibung zu. Mehr davon!
@Klaus (3):
Etwa Lüdinghausen (ex-Kreisstadt)?
@Börje (5):
Über das Ruhrgebiet verteilt gibt es doch auch recht viele Kinos. Neben den Multiplexen (Cinemaxx, Cinestar, UCI usw.) auch kleinere Programmkinos usw. Alleine in Bochum gibt es da doch einiges.
Aber der große Unterschied zwischen Berlin und dem Ruhrgebiet ist meiner Meinung nach wirklich der Metropolen-ÖPNV, den es im Ruhrgebiet leider nicht gibt. In Berlin fahre ich gerne ÖPNV und verzichte noch mehr gerne auf mein Auto. Im Ruhrgebiet auf keinen Fall. Trotz A40.
@ Jens
Börje meint wahrscheinlich die Programmkinos.Davon gibt es in Berlin wirklich viel mehr (pro Einwohner) als in der Ruhrstadt.Für Cineasten ist das ein Dauereldorado, vom Mega-Filmfest Berlinale ganz zu schweigen.
Und was in Berlin noch auffällt sind die vielen jungen Leute die nicht nur in den Szenevierteln die Straßen bevölkern. Berlin wächst bis 2030, wie die neueste Statistik sagt,vor allem wegen des dauerhaften Zuzugs von 20-30jährigen.
Das ist der eigentliche Turnarround dieser Stadt.Und da muss die Ruhrstadt über kurz oder lang auch (wieder)hin.
@Arnold: Da kommen wir auch hin, hier im Ruhrgebiet gibt es nur keine richtigen „Szeneviertel“ oder der ÖPNV ist auch nicht gut ausgelegt, z.B. dauert es in Berlin nicht sehr lange, von Bernau bis zum Wannsee zu fahren(einzige Ausnahme ist in Berlin der HBF der von den U-Bahn Verbindungen noch relativ abgeschnitten ist).
Bei uns jedoch würde ich niemals ohne S-Bahn oder RE-Bahnen von Duisburg nach Dortmund oder von Haltern nach Hattingen kommen. Also, wir brauchen so ein Netz wie in Berlin oder London(die Wagen von dort haben wir ja schon :)), dann kommen wir wortwörtlich voran
tja, habe meiner Berliner (Ex)Freundin auch mal das Ruhrgebiet gezeigt und durfte durchaus mit Genugtuung feststellen das sie sehr sehr überrascht war das wir (aus Krefeld kommend) in kürzester Zeit in Duisburg, durch Mülheim, Oberhausen und Essen waren und Gelsenkirchen, Bochum, wie auch Dortmund (Castrop etc pp mal nicht erwähnt) zügig zu erreichen gewesen wären.
Aber es ist wohl das offizielle Bewußtsein das einem nur Städte wie Hamburg und Berlin (vll noch München & Köln) einfallen wenn man über dtsch. Millionenstädte redet. Schade.
Wie schon so oft erwähnt; ein einheitliches öffentlicher Nahverkehr von Dortmund bis Duisburg (vll. in Form einer U-Bahn) wäre förderlich … aber wohl zu teuer und ganz ehrlich; von Berlin aus wäre es auch niemals gewünscht (der Neidfaktor)
hallo martin,
ich mag deinen außerst reflektierten artikel sehr. in der tat: in berlin herrscht – und das ist wirklich einmalig für alle haupt- oder großen städte dieser welt- eine echte monokultur und hat mit sozialer- oder kultureller vielfalt nichts zu tun. ein besonderes beispiel für abnorme sozialstrukturen ist der stadtteil prenzlauer berg, in dem ich selbst 2 jahre lebte, bevor ich flüchten musste. es gibt keine alten menschen dort und keine jugendlichen. abgesehen von ein paar G7 -ausländern findet man dort genormte und formierte deutsche, insbesondere in den core-kiezen kollwitzstrasse, bötzow- oder winsstrasse. auch in mitte gibt es keine kulturelle vielfalt, abgesehen von den touristen. mitte ist nett zum spatzieren gehen, das wars auch. kaum ein berliner verirrt sich dort hin. leider gottes entdeckt wurde mitlerweile der bunte und fröhliche bezirk wedding von den nicht so fröhlichen gentrifizierern.(verwaltungstechnisch gehört wedding zu mitte). geht wedding verloren, ist berlin eine großstadt wie jede andere. in kreuzberg gibt es nurnoch konzept-alternative, die sich in second-hand läden teure, abgewetzte kleidung kaufen, die es im original günstiger gibt. steglitz und wilmersdorf haben wahrlich den charme von bielefeld oder hannover. wirkliche individualisten, die sich nicht an trends aufgeilen, gibt es in zehlendorf – weil man sich dort individualismus einfach leisten kann.
na ja..man kann das ruhrgebiet nicht mit berlin vergleichen – das ist richtig. aber berlin kann niemals mit den großen städten dieser welt mithalten, dafür wird diese wunderschöne stadt einfach seit je her zu sehr von seinen bürgern vergewaltigt, ausgenutzt. berlin scheitert schon im vergleich zu kopenhagen – da muss man über budapest, barcelona, rom nicht mehr sprechen!
eines aber sei gesagt – zum thema vergleich berlin versus ruhrgebiet: was höflichkeit und verbindlichkeit betrifft, läuft das ruhrgebiet den berliner sprech-kotzern weit weit voraus. die ruhrgebietler sind ein prächtiges völkchen eingebettet in eine gewachsene kultur. der berliner (egal ob zugezogen oder nativ) ist ein rumkotzendes, rummeckerndes, übervorteilendes und selbstdarstellendes ellenbogenwesen. viele künstler – insbesondere aus dem ausland – düsen wider ab, weil eine solche athmo nicht inspirirend ist.
Als Schweizer ist Deutschland für mich ein wunderbares, extrem vielfältiges Land. Dieses Duo Berlin Ruhr ist besonders faszinierend. Alle kennen Berlin, ein Grossstadt in krasser, fast schon grotesker Wandlung, aber mit einer gewissen Masse, die sich nicht unterkriegen lässt. Schweizer fliegen und fahren seit je her nach Berlin, eine Stadt mit einem Zentrum und Aussenquartieren. In den Ruhrpott, ja, da gehen sie auch hin, weniger, anders. eine Stadt der Städte, eine zuammengedrängte Schweiz, verklumpte Planeten, Jupiter hängt grad hinterm Mond am Himmel, Neptun schiebt sich vor die Sonne. vor dreissig Jahren war ich oefters im Ruhrpott, eine Reise führte mich von Düsseldorf nach Dortmund per Strassenbahn, eine Tagesreise, naja, fing wohl um Mittag an. Wie kurios und eigentlich unnatürlich ans Ende einer Stadt zu fahren und die Spurweite und den Betrieb zu wechseln und rein ins Zentrum und raus und rein. Dieses seltsame Erlebnis ist Ruhrerlebnis und wird es wohl bleiben. Es ist schwieriger zu vermitteln, hat weniger Glanz, versteckt sich hinter sich selber, Planeten im Stau. Den Ruhrpott zu erkunden braucht mehr Zeit. Aber irgendwann oder schon startbereit wird eine Idee von Ruhrmitte aufkommen, ja? Oder eben doch nicht? Polyzentismus als Touristenattraktion? Gibt es Tendenzen?
11 Jahre später und immer noch ist die ÖPNV-Versorgung schlecht! Die Kleinstaaterei muss aufhören, gerade was das ÖPNV-Netz angeht. Zentralisierung der Verwaltung, Fusion der verschiedenen Verkehrsbetriebe und Vereinheitlichung der Streckennetze, das wäre mal eine Idee. Dass dabei auch auch einige Chefsessel wohl überflüssig werden würden, ist von einem vernunftgeleiteten Standpunkt aus schlicht egal, sollen sie sich halt was Anderes suchen. Selbst wenn das für die Leute Armut bedeutet: Pech! Bisschen Schwund ist immer. Wir brauchen bessere Anbindungen an die Ränder (es reicht nicht, die Hauptbahnhöfe miteinander zu verbinden!), mehr Taktung, vor allem am Wochenende, und ein nachvollziehbares und faires Preissystem. Sollte seit Jahren klar sein, trotzdem ändert sich nichts! Das ganze Potenzial und das Blabla der Ruhrgebietsverfechter nutzt am Ende leider nichts, wenn von den Menschen keine Strukturen vorgefunden werden, die es überhaupt erst möglich machen könnten, hier irgendwelche Potenziale auch zu entfalten. Solange das alles so bleibt, rate ich jedem, der kann, entweder hier abzuhauen oder erst gar nicht herzukommen mit dem Versuch in Richtung Kultur oder Nachtleben irgendwas aufzubauen. Es nervt einfach nur, bin auch bald hier weg…