Barbara Frey hat sich in ihrer ersten Inszenierung als Intendantin der Ruhrtriennale 21-23 mit Edgar Allan Poe programmatisch in die Gedankenwelt eines amerikanischen Schriftstellers vertieft, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die überschießenden Phänomene der Frühindustrialisierung und die daraus folgende Zersplitterung der altvertrauten Welt erlebte und die wuchernde Verunsicherung der Menschen sowie den Einbruch des Irrationalen in seinen Texten verarbeitete.
Im Prolog ist Barbara Frey ganz Musikerin: Wumm, wumm, wumm erfüllt die monoton wiederholte zerhackte Akkordlinie zweier synchron spielenden Pianisten den Maschinenraum der Zeche Zweckel. Der Rhythmus hält die Melodie gefangen und verhindert sie auf quälende Weise. Das Auge erfasst Maschinenkörper, die – außer Funktion – sich in ästhetische Objekte verwandelt haben. Mit Brettern zugenagelt sind die Rundbogen-Fenster. Für einen Atemzug geistert das Kohle-Aroma aus dem früheren Leben des Industriedenkmals vorbei.
Der kleine „Schwarm“ gleichgewandeter Figuren mag zunächst als Abordnung des Publikums gelten, der in engem Kontakt zueinander durch den Bühnenraum zur Fensterfront sich bewegt, um zu sehen, wer da draußen wohl singt. Auch der Chor eines antiken Dramas kommt in Erinnerung, aber mehrperspektivisch rezitieren die Schauspielerinnen und Schauspieler Passagen aus Poes Erzählung „Der Untergang des Hauses Usher“ und anderen seiner Texte, die von Frey aufgetrennt und anders zusammengesetzt wurden. Von der verheerenden Isolation des Roderick Usher und seiner Schwester Madeline im Familiensitz ist die Rede, von Schwermut und Melancholie hören wir, und einem wachsenden Grauen vor dem Unerklärlichen.
Unsagbar schön, wie die Schauspielerstimmen des Dichters Sprache zelebrieren und in ihrem individuellen Klang färben. Vor dem nach allen Seiten offenen Panorama dieser Inszenierung heben sich dramatische Blöcke ab, etwa die schrille Totenklage des Geschwisterpaares (Katharina Lorenz und Jan Bülow) oder ein inzestuöses Liebesduett (Annamária Láng und Markus Schaumann). Ironisch süffisant bedient sich Frey der Popmusik. Wir ducken uns vor der Wucht des Spiels; der Schreck fährt uns in die Glieder, wir zucken zusammen, wenn ein Lichtblitz einschlägt, wir folgen aber auch den abstrakten Ausführungen über den Unterschied zwischen einem Scharfsinnigen und einem Analytiker, zwischen Phantasie und Vorstellungskraft und bewundern den Zusammenklang von Sprache, Musik, Geräusch und Lichteffekten.
Genau das hat dieser Poe-Abend den verunsicherten Menschen unserer pandemischen Zeiten des Klimawandels zu bieten: zwei Stunden des Nachdenkens über die Realität des Irrationalen, des Spiegelns im Schau-Spiel, des Heraustretens aus dem eigenen Unvermögen.
Sitzt da am Ende nicht Büchners Märchen-Kind, dem der Mond „ein Stück faul Holz“, die Sonne „ein verwelkt Sonnenblum“ und die Erde ein „umgestürzter Hafen“ ist, zwischen den Maschinenmonumenten?
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