Ruhrtriennale: Die Choreografie „Y“ von Anne Teresa Keersmaeker im Museum Folkwang

Choreografie Y Foto: Katja Illner/Ruhrtriennale Lizenz: Copyright


Verwandlungen über Zeit und Raum hinweg.

Nichts zu hören, nichts zu sehen? Unsicher schauen die Gäste am Eingang um sich. Vorsichtig betreten wir den abgesperrten Bereich und schrecken fast zurück, als wir höchstens drei Armlängen entfernt auf eine reglos am Boden liegende Frau treffen. Wir hören die „Musik“ noch nicht, zu der sie „tanzt“. In einem amerikanischen, irrtümlich Friedrich Nietzsche zugeschriebenen Sprichwort werden die Tanzenden ja für verrückt gehalten von denjenigen, die die Musik nicht hören können. An diesem Nachmittag liegt die „Musik“ in dem Kunstwerk, mit dem der Tanzende kommuniziert.

Auf gut 800 Quadratmetern spannte Anne Teresa Keersmaeker, die seit fast zehn Jahren Choreografien für Museumsräume entwickelt, ihren „Spielraum“ im Museum Folkwang auf: 52 Kunstobjekte, von ihr und ihren Tänzerinnen und Tänzer zusammengestellt aus der weltberühmten Museumssammlung. Allein diese Auswahl von Gemälden, Skulpturen, Fotografien und Grafik aus verschiedenen Epochen beglückt den Betrachter, deren unsichtbare Inhalte in den Bewegungen der Tanzenden vor uns sichtbar werden.

„Why?  When? Where?“ schrillt, Vogelschreien gleich, eine Frauenstimme durch die Räume. Enthält die Frage in unseren Katastrophenzeiten, die mehr Fragen als Antworten hat, nicht schon die Antwort?

Der Choreografin geht es um das Verhältnis zwischen dem abstrakten und dem figurativen Kunstwerk. Etwa das Motiv des Zweifels und seiner Folgen in Shakespeares Tragödie „Hamlet“. das Édouard Manets Gemälde „Der Sänger Jean Baptiste Faure als Hamlet“ aus dem Jahr 1877 bestimmt. Der berühmten Frage „To be or not to be?“ steht ein Lichtfleck auf Barnett Newmans schwarzem Gemälde „Prometheus Bound“ von 1952 gegenüber. In das Zeiten und Ausdrucksweisen übergreifende Spannungsfeld zwischen den Kunstwerken ist der Körper des Tanzenden gestellt, der versucht, gerade das aufzunehmen und wiederzugeben, was über die sichtbare Darstellung hinausreicht. Der Doppelblick auf das Kunstwerk und den Tanzenden erweist sich als „Musik“: Alles im Gemälde nicht Sichtbare kann im Körper des Tanzenden Gestalt annehmen. Er ist Medium und reflektierendes Subjekt.

Choreografie Y Foto: Katja Illner/Ruhrtriennale Lizenz: Copyright

Wenn Nassim Baddag, Jean Pierre Buré, Synne Elve Enoksen, Nina Godderis, and Robson Ledesma den Kunstwerken auf den Pelz rücken, sind wir Zuschauer ihnen selten nah. Wir staunen über aggressiv anmutende Bewegungen zwischen Capoeira und Breakdance vor Rudolf Bellings Skulptur „Kain und Abel“ (1918), über beängstigende Regungslosigkeit und an Selbstverletzung reichende Aktionen.

Die Kunstwerke, die Tanzenden und eine Soundcollage überlagern sich, wenn wir den einzelnen Tanzexerzitien folgen von Station zu Station. Der schwere Atem der Tanzenden, nah, eine zarte Stimme hier, laute Rockmusik dort.

Wie die Tanzenden nicht einer erzählenden Choreografie folgen, sondern sich in Bewegungsfragmenten ausdrücken, liegen uns die von Alain Franco kombinierten Elemente der akustischen Landschaft in Gestalt klassischer Cello-Weisen, Schlager, elektronischer Töne,  zeitgenössischer Musik und Stimmen bekannter Dichter wie Ingeborg Bachmann und Heiner Müller bruchstückhaft auf den Ohren.

Unsere Sinne wollen dem einen folgen, ohne das andere zu überhören / sehen. So liefern die Rosas in ihrer Performance neben meditativer Betrachtung auch ein getreues Bild unserer geladenen, überspannten, zersplitterten Welt der unaufhörlich prasselnden Eindrücke.

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