Die „Nordstadt Phantasien“ erzählen bei der Ruhrtriennale eine verstörende Geschichte von Gentrifizierung. Mit viel Durcheinander und der Verquickung von Künstlichkeit und Realität entsteht so ein großes Stück Kunst: Schorsch Kamerun ist ein Zwitter aus unendlichem Fluxus-Happening gelungen, welches mit einer Sozialreportage vereinigt worden ist.
Wenn Schorsch Kamerun früher nach Dortmund kam, spielte er mit seiner Band „Die Goldenen Zitronen“ meist im alten FZW am Neuen Graben. Mitte der 1980er Jahre hatte sich seine Band dem Fun-Punk verschrieben und in Dortmund kamen damals viele Skinheads zu den Konzerten der Zitronen. Einer der bekanntesten Dortmunder Skins war damals Sir Hannes, Sänger von The Idiots. „Edeka“ ist einer der wichtigsten Songs der Idiots – ein dreiminütiger Schnellschuss, der Funpunk-Züge in sich trägt: „Ein deutscher Esel kauft alles“, das sei das volkstümliche Kürzel dieser Supermarktkette, so verspricht es dieser Idiots-Song. Sänger Hannes absolvierte Anfang der 1980er Jahre im Edeka-Laden seiner Eltern eine Lehre zum Aussenhandelskaufmann und dieser Laden befand sich an der Ecke Gneisenaustraße/Feldherrenstrasse, direkt im Herzen der Dortmunder Nordstadt. Rund 35 Jahre später befindet sich hier der Adem Supermarkt, einer von vielen türkischen Gemüseläden, die es überall in der Nordstadt gibt. Und genau dies ist der Ort, den Schorsch Kamerun für sein Theaterstück „Nordstadt Phantasien“ auserkoren hat.
In einem selbstgebauten Wellblech-Holzverschlag mit grünem Dach sitzen die Zuschauer auf einer selbstgezimmerten Tribüne auf der Seite am Blücherpark und schauen auf das wilde Treiben gegenüber. Zwischen Sportsbar, dem Ex-Edeka und Gemüseladen Adem, sowie einem türkischem Café und Kiosk tanzen verkleidete Ballerinas in Gummischwänen umher, später gibt es an Ort und Stelle einen inszenierten Wrestling-Kampf. Die Nordstadt ist „im echten Leben“ das Problemviertel unter den Dortmunder Vororten. Auf etwa 14 Quadratkilometern leben hier knapp 60.000 Menschen. Zwischen Borsigplatz und Hafenamt gibt es aber wunderschöne Gründerzeit-Häuser – und im Zeitalter von immer knapper werdendem Wohnraum hat Schorsch Kamerun einen Immobilienmogul mit Namen Bobby Reich erdacht, der das Aschenputtel-Viertel zu einer exponierten Wohngegend mit viel Vision gentrifizieren möchte. Die glatzköpfige Real Estate-Hauptfigur riecht die Spur des Geldes und fabuliert sich mit viel Marketing-Vokabular eine millionenschwere Zukunft: „Etwas derart echtes, so eine Realness – die wissen gar nicht, auf was für einer Goldader sie hier sitzen.“ Rund 70 Prozent der Nordstadt-Bewohner haben ausländische Wurzeln, hier leben Menschen aus insgesamt 126 Nationen nebeneinander her – das sind die bewussten Indikatoren des Geschäftsmannes.
„Gentrifizierung“ bezeichnet die Veränderungen eines Stadtviertels. Neue Bewohner tragen zur Verbürgerlichung der Viertel bei. Sie renovieren Wohnungen, eröffnen angesagte Geschäfte, fördern kulturelle Aktivitäten und geben dem Stadtteil ein neues Gesicht. Irgendwann werden aus Studenten bürgerliche Existenzen wie Oberärzte, Studienräte und Architekten, die sich in Weinhandlungen, Streetart-Galerien, Feinkostgeschäften, Pop-Up-Stores und Buchhandlungen ihre Lebensqualität kaufen. Diese Städtebaupolitik hat aber auch zur Folge, dass das Preisniveau im Immobiliensektor spürbar steigt und so die restliche Bevölkerung Stück für Stück ausgegrenzt wird, da sie finanziell nicht in der Lage ist, bei dieser Preissteigerung mitzuhalten. Die Preisblase hat schon den Prenzlauer Berg befeuert, gerade kippt es in St. Pauli, wie Schorsch Kamerun es mit seinem eigenen Laden, dem Golden Pudel Club, selbst erfahren hat. Als Musiker und Sprecher begleitet er sein Stück und sagt ins Mikro: „Aktien und Effekte – entfesselte Sekte; Aktien und Effekte – körperlose Objekte“ – als wolle er verklausulieren, dass der Weg der Geldes im Kapitalmarkt so unglaublich ungezähmt ist, wie eine Naturgewalt.
Das Stück ist verwirrend und soll die Zuschauer auch bedrängen, um den Einschnitt, den sich yuppieske Stadtplaner erdenken, sichtbar und physisch spürbar zu machen. Wie ein Situationist operiert Kamerun an der Schnittstelle von Kunst und Politik, er vermengt Architektur, Streetlife und Wirklichkeit. Der Soundtrack dazu, den die meist dreiköpfige Band zu dieser Theater-Performance spielt, ist ein wilder Mix aus Lo-Fi-Elektronik, Post-Punk, New-Wave und Avantgarde. Einer der Musiker des Ensembles ist Bassmann Oliver „Pille“ Pilsner, der im „echten“ Leben nur fünf Häuser weiter wohnt. Er spielt sonst in Sixties-Bands, wie den Morlocks oder den Fuzztones. Bei einem Casting hat er sich vorgestellt und Kamerun hat ihn direkt verpflichtet. Dazu kommt noch das Dortmunder Akkordeon-Orchester 79, deren Mitglieder zum Teil am Nordmarkt wohnen.
Die Folge der einzelnen Szenen ist wirr, aber sie sollen den Zuschauer auch verstören. Dies ist keine Wohlfühlzone, die einen abholt und trägt, wie eine rosa Wolke. Bereits vor dem Stück gibt Kamerun mit den Worten: „Machen Sie viele Fotos und noch mehr Selfies während des Stücks, damit sie auch merken, dass sie da waren“ eine sarkastische Marschrichtung vor. Das schafft dann aber kaum ein Zuschauer, die mit Kopfhörern auf der Bühne sitzen und dem Stück gespannt folgen. Die vielen Wortbrocken, die Kamerun und sein Ensemble dem Zuhörer einhämmern, wirken wie ein unendliches Fluxus-Happening gepaart mit Sozialreportage: „Menschen stehen still, wenn der Kreator es will. Das ist der Fortschritt ohne Bedenke. Auf vielen Fotos sieht man uns lachen, wie wir uns gerade selbst abstrafen.“ Dazu kommt ein Nordstadt-Hobo vor den Kiosk, der seine Habseligkeiten in einem Einkaufswagen vor den Kiosk trägt. Er bereitet Crêpes dort zu. Diese werden an spielende Kinder verteilt und die Bewohner, die dort vor den Häusern sitzen – und den Sommerabend genießen. Die Grenzen zwischen Schauspiel und tatsächlichem Leben zerfließen – und das ist volle Absicht.
Die „Nordstadt Phantasien“ verquicken Leben mit Inszenierung. Noch lange nach dem Stück stehen Bewohner, Bühnen-Techniker und Kunstinteressierte auf der Straße und debattieren lange über den Sinn und Zweck von Kultur im öffentlichen Raum. Schorsch Kamerun ist mit diesem Ruhrtriennale-Open-Air eine spannende Theater-Performance gelungen. Dieses Stück provoziert nicht, um Provokation zu erzeugen, sondern will mit viel Subtext-Wissen auf die herrschenden Verhältnisse reagieren. Wenn am Ende von der Schauspielcrew riesige, weiße Ballons auf die Feldherrenstraße getragen werden, könnte das ein Symbol für die aufheizende Immobilien-Spekulationsblase der Dortmunder Nordstadt sein. Denn diese kann schneller platzen, als den Bürgern das bewusst ist.
Haben wir eine Gentrifizierung in der Nordstadt?
Ich kenne kaum Personen, die hier den Lebensmittelpunkt suchen, wenn es nicht mangels Kohle kaum Alternativen gibt.
Insgesamt ist das Potenzial sicherlich da. Aber hohe Mietpreise gibt es wohl nur in den stark belegten Wohnungen.
@ke: ich glaube, Gentrifizerung in der Nordstadt ist eher ein Wunschdenken – und etwas mehr Gentrifizierung würde dem Quartier gut tun. Ganz kleine Ansätze gibt es am Hafen, aber der macht nur einen Bruchteil der Nordstadt aus.
@ke: Nein, leider nicht. Ich wünschte, die hoch gehasste Gentrifizierung würde tatsächlich in der Dortmunder Nordstadt Einzug halten. Ihre Vorboten sind seit nahezu zwei Jahrzehnten da, zu ihnen zählen übrigens v.a. die (selbsternannten) Künstler, die noch studieren, Geld von Papi bekommen, in günstigen WG-Zimmern leben und an der Theke wichtig über die böse Gentrifizierung diskutieren. Sagte ich Diskutieren? Nein, man ist sich einig. Böser Kapitalismus, böse Immobilienbesitzer, böse Menschen mit Geld. Dass sie es sind, die mit ihrem Bafög, Mamis Zuwendungen und Nebenjob (man arbeitet bereits, wenn man 2 Stunden die Woche einen Webauftritt pflegt) und ihren niedrigen Fixkosten zu den Besserverdienern im Viertel gehören-geschenkt.
Gäbe es endlich (endlich!) Gentrifizierung hätte der Norden eine Chance.
Aber ach, was solls, gehen wir heute Abend zu der subversiven Veranstaltung von Kamerun, gefördert durch öffentliche Gelder.
Ich finde die Lage am Fredenbaum mit Hafen hervorragend. Leider schafft es die Stadt nicht, den Wasserbereich am Hafen oder am Kanal beim Fredenbaum zu beleben. Wenn dann doch etwas passiert, ist Lärm ein Problem. In einem alten Industriehafen :-).
Beim Lesen hatte ich auch das Gefühl, dass Dortmund jetzt erklärt werden muss, was Gentrifizierung ist. Ein Begriff, der schon viele Jahre aktuell ist.
Reinald Grebes "Prenzlauer Berg" ist zumindest bei Youtube aus 2010.
@3 Nordi
Wenn das wirklich so ist, was nicht meiner Erfahrung entspricht, hätten wir zumindest in der Nordstadt Berliner Verhältnisse :-).
Es fehlen nur die vielen vom Bund gesponsorten gut bezahlten Jobs in den Verwaltungen/Organisationen etc.
Die beste und prägnannteste Definition kommt von Adrej Holm: Gentrifizierung = Vertreibung durch Aufwertung. Das damals von Recht auf Stadt Ruhrgebiet etwas augenzwinkernd gemeinte "bischen Gentrifizierung wäre nicht schlecht" trägt hier in den Kommentarspalten seine Früchte: Begriffsverwirrung.
Keine kaufkräftigen Mittelschichten weit und breit, keine Player auf dem Immobilienmarkt. Wer soll die Gentrifizierung betreiben? Zudem ist die Dynamik aus dem Wohnungsmarkt, soviel Leerstand und Schrott gibt es in der Nordstadt gerade nicht mehr. Der x-te Versuch der Aufwertung am Hafen liegt in Gebieten, wo eh niemand wohnt und somit niemand vertrieben werden kann.
Bei der Rolle der Kunst wird oft ein Symptom (arme Künstler mögen niedrige Mieten) für die Ursache von Aufwertung gehalten. Und viele sehen nun in jeder Baustelle in der Nordstadt schon die Vorboten von flächiger Aufwertung.
Das Stück von Schorsch Kamerun befeuert ein bischen die Phantasie in die Richtung, was wäre, wenn plötzlich hippe Leute von überall in den Dortmunder Norden ziehen (ausgerechnet!) und warnt vor den Konsequenzen. Kann man mal drüber nachdenken, wird aber nicht passieren.
Ich finde es schade, dass es so wenig aktuelle Bezüge zur Nordstadt gab, da Gespräche mit den Akteuren vor Ort auf Augenhöhe nicht im Projektbudget vorgesehen waren. Also das Wort City-Profi könnte man aus dem Programm streichen. Dadurch bleibt das Stück, der Ort und die politische Diskussion dazu hinter ihren Möglichkeiten. Ich kann mich an solch einen kulturimportives Vorgehen auch 8 Jahre nach der Kulturhauptstadt, weitergeführt durch Urbane Künste Ruhr, nicht gewöhnen.
Die Areale der Stadtkrone Ost und des Phoenixsees haben gezeigt wie schnell Brachland in eine Hipster-Gegend für Besserverdienende umgewandelt werden kann. Das kann für manche Ecken der Nordstadt sicher auch gelten. Wenn ein schlüssiges Konzept vorliegt, um die Ansiedlung von
Firmen aus dem Bereich neue Technologien, Unternehmen mit digitalem Schwerpunkt, Gründer
-und Innovationsszene, sowie kreative Berufe und verwandte Dienstleistungsanbieter dahinzulocken, (wie es ja für die Ecke am Hafenamt geplant ist) wird das sicher schon bald umgesetzt werden.
Nichts gegen Schorsch Kamerun. Aber was auch immer er oder sonst ein eingeflogener Künstler in der Dortmunder Nordstadt macht, es ändert dort rein gar nichts. 🙂
@9 Arnold: Doch, es ändert etwas-es fließt Geld in die Taschen von Kamerun und anderen wichtigen Künstlern, die ein Auge auf das Viertel werfen, um von außen darüber zu schwadronieren.
😀
Ein Wandel wie in Hörde am Phönixsee kann ich mir schwer vorstellen-der Norden ist zu dreckig und von der Demographie her ist es ein Abladeplatz für alle, die keiner will, seien es Empfänger von Sozialeistungen, Drogenkonsumenten oder Ausländer und Migranten.
Wie viele Künstler aus der REgion bzw. NRW profitieren eigentlich von dem doch erheblichen Budget der Ruhrtriennale?
Die bisher hier vorgestellten Stücke waren für mich wenig interessant/inspirierend. Es sah eher so aus, dass irgendwelche Fördergeld Bingo Begriffe in den Programmheften abgearbeitet werden mussten.
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[…] der Theatermacher Schorsch Kamerun stellte mit seinem Theaterstück „Nordstadt Phantasien“ für den Dortmunder Norden schon ähnliche Fragen. Janna probiert sich klar zu positionieren: „ […]