Isabelle Huppert ist „Bérérenice“ in Romeo Castelluccis Version von Jean Racines gleichnamiger Tragödie.
Es scheint schon alles gelaufen, wenn die Zuschauer die Kraftzentrale betreten. Die Krise ist überwunden, die „Debatten“ sind verstummt, nur ihr Qualm verschleiert noch die Luft der riesenhaften Halle, in die Romeo Castellucci einen von transparenten Vorhängen unterteilten Kubus gesetzt hat.
Der vielbeschäftigte Regisseur, der ursprünglich von Malerei und Bühnenbild herkommt, offeriert uns seine Sicht auf Jean Racines berühmtes Sprachkunstwerk, die Tragödie „Bérérenice“, die an einem Tag im Jahre 79 vor Christus in Rom spielt.
Allein die politischen Scharmützel um die Macht im Kaiserreich scheinen ausgefochten, existentielle Entscheidungen getroffen, wenn der Vorhang sich hebt. Alles vergangen, vernebelt.
Dass die Interpretation eines Werks allein über die Erkennung seiner Struktur möglich sein müsse, schrieb der französische Strukturalist Roland Barthes im Kapitel „L’Homme Racine“ (in „Sur Racine“) vor über sechzig Jahren und erntete dafür Proteststürme. Castellucci scheint von ähnlichen Prämissen auszugehen, bezeichnet er doch in einem Interview vom Januar dieses Jahres das Verhältnis von Form und Chaos in seiner Arbeit als wesentlich. Er lässt die fünfaktige klassische Tragödie um die judäische Königin Bérénice und den römischen Kaiser Titus, die sich lieben, aber an der Staatsräson scheitern, zu einem Monolog gerinnen und zieht so eine Konsequenz aus deren oft bemängelter Handlungsarmut. Titus, der Geliebte, der ihr die Ehe versprach, ist aus Bérérenices Leben verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben. Sie ist auf sich selbst geworfen. Nur in ihrem unentwegten Reden lebt ihre Liebe weiter. Solange sie spricht, hält sie die Leere und den Abgrund von sich fern.
Roland Barthes beschrieb die Struktur der Stücke von Racine als „Zimmer, Vorzimmer, Außenwelt“. Das „Vorzimmer“ sei der unmittelbare Vermittlungsraum zwischen dem inneren und äußeren Kommunikationssystem, ein Raum der Sprache, wo die tragische Figur ihre Gedanken offenbare.
Starschauspielerin Huppert, die heuer Jurypräsidentin der Filmfestspiele von Venedig ist, flog zwischen zwei Aufführungen in Duisburg zur Eröffnung in die Lagunenstadt. Umso beachtlicher ist ihre elektrisierende Bühnenpräsenz über achtzig Minuten. Bedacht zieht sie, mutterseelenallein in ihrer Kemenate aus transparenten Vorhängen, alle Register ihrer Sprachkunst. Stehend, hockend, knieend, sitzend, mit sparsamen Gesten führt sie uns in ihrem unentwegten Reden doch ihr Verstummen vor Augen. Eine Stimme nur, und am Ende bedecken glänzende, glitzernde, leuchtende Roben (Kostümbild: Iris van Herpen) ihre Unsichtbarkeit.
Hinter der71-Jährigen stehen die Schatten so vieler Frauenfiguren, die sie in ihrem arbeitsreichen Leben seit der „Spitzenklöpplerin“ gespielt hat. Bérénice/ Isabelle Huppert verkörpert den Inbegriff der einsamen, an der Liebe leidenden Frau in der Unerbittlichkeit der Zeit.
Roland Barthes umreißt das „Zimmer“ als einen undefinierten, unsichtbaren und gefürchteten Ort, an dem die Macht herrsche, von dem alle Beteiligten nur mit Respekt und Furcht reden und es nicht wagen, ihn zu betreten. Castellucci scheint dieser Beschreibung zu folgen, wenn er im Halbdunkel jenseits eines Vorhangs eine Schar junger Männer geheimnisvoll agieren lässt. Geht es um kultische Rituale, Folter? Um Titus‘ Krönung?
Der Vorhang zwischen diesen beiden Orten hat Augen und Ohren, ein geisterhafter Ort, wie das Licht von Andrea Sanson, der Ton von Claudio Tortorici und die Geräusche und Klänge von Scott Gibbons nahelegen.
Mit der „Außenwelt“ könne die tragische Figur nach Barthes Analyse durch den Tod in Verbindung treten: Irrsinn umhüllt die trauernde Bérénice, sie lebt nur noch im fortwährenden, kreiselnden, taumelnden Reden, das allmählich stotternd, lallend, wispernd versagt. Sie stößt Laute aus, Wort- und Satzfetzen, die von ihrem völligen Versagen künden. Mit der Sprache stirbt auch sie und fleht, erstmals vor dem Vorhang, das Publikum an: „Schaut mich nicht an, schaut mich nicht an!“
Castellucci ordnet seine Inszenierung in den derzeit herrschenden Trend ein, die Natur der Kultur überzuordnen, und unsere Welt als flüchtige Erscheinung im 13,8 Milliarden Lichtjahre alten Universum in Erinnerung zu rufen, und er ruft quasi als Prolog chemische Details über die Spurenelemente im sterblichen menschlichen Körper auf: Sternenstaub sind wir, ausgesetzt der Zeit, suggerieren Glockenschläge in einer minimalistischen Soundscape der Stille.
Und ein in Zeitlupe welkender Blütenzweig dekoriert unser aller Vergänglichkeit.
Irmgard Bernrieder