Es geschah in einer warmen Sommernacht. Es war eine eher durchschnittliche Nacht. Einige meinten später, sie wäre etwas zu durchschnittlich gewesen und genau dies hätte sie, wenn man es im Nachhinein bedenkt, doch etwas verdächtig erscheinen lassen, so dass sie meinen, sich erinnern zu können, schon kurz vor den Ereignissen ein merkwürdiges Gefühl gespürt zu haben, dieses dann aber verflogen sei, weil eben nichts geschah. Es ist ja häufig so nach großen Ereignissen, dass Zeitzeugen später angeben, bereits vor dem Ereignis eine Vorahnung gehabt zu haben, und die Zahl der Vorahnungen nimmt mit zeitlichen Abstand zum Geschehen oft sogar zu. Einig ist man sich heute, dass der Mond als große beinahe runde Scheibe klar am Himmel stand. Sein Licht war hell, aber es war kein Vollmond, so dass man nicht einmal sagen konnte, es wäre Vollmond gewesen, und das Ereignis wäre eventuell bereits lange vorher, gewissermaßen als Teil eines großen Plans, so terminiert gewesen. Von unserem Gastautor Helmut Junge
Nein, nein, das war es alles nicht. Und dennoch, mit einem zufälligen Geschehen, ohne Bindung an irgend einen Plan, wollte sich lange Zeit niemand zufrieden geben und viele Köpfe erarbeiteten sich über die Jahre hinweg Erklärungen, bis jemand die Idee von der „Entstehung von Ereignissen aus dem ereignislosen Urhorizont“ entwickelte.
Diese Idee überzeugte schließlich, obwohl niemand verstand, was damit wohl gemeint sein könnte und welchen Sinn ein solcher Ausdruck machen konnte. Gerade darum aber wurde dieser Gedanke populärer als andere Ideen, die jeder auf Anhieb verstand, und deswegen auch von allen Seiten beleuchtet und anschließend Teil für Teil zerpflückt wurden, bis nichts mehr davon übrig blieb. Das war bei der „Entstehung von Ereignissen aus dem ereignislosen Urhorizont“ nicht möglich. Darum war diese Theorie auch unangreifbar. Und sie machte auch deshalb soviel Eindruck, weil jeder von sich selber glaubte, sie verstanden zu haben.
Schließlich haben die Krokodile ja wirklich angefangen zu sprechen und dafür musste es letztendlich eine Erklärung geben. Ungewöhnliche Fragen haben eben oft ungewöhnliche Erklärungen nötig.
Warum also sollte die „Entstehung von Ereignissen aus dem ereignislosen Urhorizont“ nicht die Erklärung für das plötzliche Auftreten von Sprache bei den Krokodilen sein ?
Diese Idee schien einigen physikalisch interessierten, mit Halbwissen vollgepfropften Sandbankbewohnern der Theorie von der Fluktuation des Raum-Zeit-Kontinuums sehr verwandt zu sein, und es gab auch darüber viele erregte Diskussionen. Aber als dann klar wurde, dass bei der Fluktuation die Randbedingung erfüllt sein musste, dass das Quantenvakuum ursprünglich anfangen musste zu wabern, erregte sich eine der Krokodildamen ganz fürchterlich und sagte sehr laut, dass es alle hören konnten, dass sie es allmählich satt hätte, sich alle diese Perversitäten anzuhören, sie würde sich das nicht weiter bieten lassen, und wenn die Männer dabei blieben, solche Zoten zur Theorie zu erklären, würde sie jedenfalls auf eine andere Sandbank ziehen.
Die Dame war sehr attraktiv und die Quantenvakuumtheorie deshalb out. Eigentlich schade, denn wer weiß, was noch alles erdacht worden wäre, wo doch der Ansatz so schlecht gar nicht mal war. Jedenfalls begann man jetzt, durch die Heranziehung von Analogien Erklärungen für andere Fragestellungen zu finden. Aber gerade das ist ja bekanntlich nicht ungefährlich, denn es gibt ja immer wieder Zeitgenossen, die nur auf Hinweise auf Analogien warten, weil sie dann ganz großspurig erklären können, dass dieser Vergleich doch wirklich sehr weit hergeholt wäre und deshalb durchaus zum Missverständnis beim Zuhörer führen könnte, wenn nicht sogar der Sprecher die ganze Sache selbst falsch verstanden hätte, was ja auch nicht immer auszuschließen sei. Zumindest hatten diese Kritiker prinzipiell damit recht, dass Analogien ein schwieriges Pflaster sein.
Nun war die Fluktuationstheorie ein Produkt der Quantenphysik. Und ob die Idee der „Entstehung von Ereignissen aus dem ereignislosen Urhorizont “ auch zur Quantenphysik gehörte, konnte man ja nicht diskutieren, weil die oben genannte Dame dann ja abgehauen wäre.
So musste diese Theorie, obwohl noch unausgereift, auch als Erklärung für andere Phänomene herhalten. Einige glaubten alles damit erklären zu können. Gott und die Welt und manche geheimnisvollen Dinge, von denen einige behaupteten, dass sie über diese Fragen noch weit hinausgingen. Was immer diese Leute damit auch meinten.
Einigen galt sie bald auch als Grundlage einer Idee von der Entstehung der Welt und des Lebens, und diese glaubten, dass das gesamte Universum auf diese Art und Weise aus dem „Nichts“ entstanden sei und damit zu guter Letzt auch das Leben selbst. Kaum war die dies aber ausgesprochen, gab es selbstverständlich auch Zweifler, die zwar selber nichts Besseres wussten, aber neue Ideen prinzipiell erst einmal ablehnten. Manch einer lehnt ja neue Ideen allein deshalb ab, weil er dem Erfinder den Erfolg missgönnt, und zieht es vor, nach dem berühmten Haar in der Suppe zu suchen. Ohne solche Querulanten könnte Wissenschaft wirklich viel Freude machen, aber solch ein Glück war den Krokodilen auf der Sandbank nicht beschieden. Dort ging es in den Diskursen eher sehr rabiat zu.
Selbstverständlich gab es auch echte Gegenargumente, die ihrerseits nachdenklich stimmen, aber das war eben so selten, wie zwischen den Steinen im Flussbett Goldklumpen liegen. So glaubten einige der Krokodile fest daran, dass sie selber auch aus dem ereignislosen Urhorizont entstanden sein und später wieder dorthin zurückgehen würden. Andere widersprechen gar heftig, denn sie waren überzeugt, dass der Vorgang sich wiederholen müsste, denn nach einer neuen Theorie sei der ereignislose Urhorizont seinerseits einem Rhythmus unterworfen, der immer wieder neues Leben schuf, Und warum sollte er nicht zweimal schaffen, argumentierten sie, was er bereits einmal geschafft hatte? Sie glaubten, dass diejenigen, die schon einmal geboren waren, durchaus auch ein zweites Mal geboren werden könnten. Sogar ein drittes Mal und mehr hielten sie für möglich. Ja, es wäre nur beim ersten Mal schwierig, geboren zu werden. Später wäre ja die Rohform schon da, und es würde zuletzt immer leichter gehen und niemals wäre ein Ende abzusehen. Auch dagegen gab es Stimmen. Diese verfolgten einen anderen Ansatz und meinten, dass alles nur einen Sinn ergäbe, wenn das Leben als Prüfung betrachtet würde. Die Seelen wären dann verantwortlich für die begangenen Taten und die Guten würden belohnt und die Bösen bestraft.
Diese Idee wurde aber von der Mehrheit wegen der mangelnden Chancengleichheit abgelehnt. Nur eine unendlich große Zahl von Leben würde garantieren, dass alle irgendwann einmal, rein statistisch gesehen, das Gleiche erlebt hätten, nur dann erst wären auch die Taten miteinander verrechenbar. Dadurch erst wäre die theoretische Basis für gerechtes Lob oder gerechten Tadel gewährleistet. Die Mehrzahl der Krokodile, vor allem der vegetarischen Krokodile, begann schließlich zu glauben, dass die Seelen so oft wiedergeboren werden, bis sie durch eine Unzahl verschiedener Einzelschicksale, sei es als Krokodile, Mensch oder auch Wurm, praktisch alles einmal erlebt hatten. Dadurch war nach ihrer Überzeugung auch die Chancengleichheit hergestellt, und danach konnten sie erst in gute oder böse Seelen aufgeteilt werden. Bevor diese Chancengleichheit nicht erreicht war, wäre ihrer Auffassung nach kein Richterspruch möglich, sagten sie. Dabei war es ihnen klar, dass diese Auffassung so eine Art Religion war. Aber sie meinten, wenn es schon eine Religion sei, wäre es nicht eine natürliche Religion, so wie alle anderen, sondern eine künstliche Religion, die aus einer philosophischen Sichtweise hergeleitet war. Diese Religion wäre dann eben ein geistiges Produkt. Darauf waren sie stolz. Aber kopflastig, darin waren sich alle einig, war sie auf keinen Fall. Denn nichts, was die Krokodile dachten, war kopflastig.
Heute findet ab 17.00 Uhr beim Projekt LebensWert in Duisburg-Neumühl auf der Holtenerstraße 172 meine Finissage mit der Lesung meiner Sandbankgeschichten statt.