Say Blitz: Fotografin Lee Miller zwischen Schönheit und Schrecken

Kate Winslet (Lee Miller) ©Sky UK Ltd

Wenn ich eine Tochter hätte, ich nannte sie Lee, wie Lee Miller. Kaum eine andere Frau war so sehr den künstlerischen und moralischen Standards ihrer Zeit voraus. Ihr unbedingter Wille für Gerechtigkeit verdient jeden Zentimenter Filmstreifen im Kino. Einst Cover-Girl, später Zeugin des Grauens, Lee Miller schuf eine Ikone der Foto- und Weltgeschichte: ihr Akt in Hitlers Wanne. Außerdem dokumentierte Lee Miller mit ihrer Kamera meine Herzensstadt am Rhein im März 1945. Millers Röntgenblick sah einfach mehr.

Lee Miller gibt sich nicht nur sassyclassy, sie ist es, wenn sie sagt: “I‘d rather take a picture than be one.” Das ist der Anspruch, den die unnachahmliche Fotografin an sich selbst stellt. Gesellschaftliche Konventionen – was ist das? Das mondäne Model der American Vogue nimmt in den 1920er Jahren ihr Leben selbst in die Hand. Miller betreibt keinen aktivistischen Feminismus. Sie steht ganz einfach ihre Frau, betörend keck, betörend klug, betörend kompromisslos.

Foto-Enthusiasten und Liebhaber der Kunstgeschichte schätzen ihr Können, vor und hinter der Kamera. Doch Lee Millers Vermächtnis ist größer als ihr Bekanntheitsgrad. Kaum jemand weiß von ihrem Anteil daran, dass sie eindrückliche Beweise vom Holocaust durch ihre analoge Fotografien geliefert hat, die moralisch, faktisch und juristisch keinen Hauch einer Leugnung gewähren. Die Shoah ist geschehen. Die Shoah darf nie wieder geschehen.

Kurz nach der Befreiung von Dachau durch die Alliierten hält die Kriegsfotografin vor Ort das fest, was niemand zu ahnen wagte: die systematische Verfolgung und Vernichtung von fast sechs Millionen Juden Europas durch die Nationalsozialisten. Diesen Völkermord bezeichnet man als Genozid. Die Leichenberge im Konzentrationslager, die Lee Miller sieht und in Schwarz-Weiß festhält, brennen sich für immer in das kollektive und ihr ganz persönliches Gedächtnis ein. Danach ist sie eine andere.

Lee Miller (Kate Winslet) – ©Sky UK Ltd / Kimberley French

Keine geringere als Oscargewinnerin Kate Winslet lässt es sich nicht nehmen, die Hauptrolle in „Die Fotografin“ unter der Regie von Ellen Kuras zu übernehmen. Auch Winslet beweist ein kleines Stück unbedingten Willen. Durch einen Zufall hatte sie einen prächtigen Tisch bei einer Auktion erworben, an dem man mit vielen Freunden gemeinsam essen und das Leben feiern kann. Als Winslet erfuhr, dass dieses Relikt Lee Miller gehörte, war es um sie geschehen. Zusammen mit ihrem Ehemann Roland Penrose, einem bekannten Kunsthändler, versammelte Lee Miller daran Maler, Bildhauer, Schriftsteller und andere Kreative, wie Max Ernst, Noël Coward und Paul Éluard. Sofort tauchte die britische Schauspielerin in Millers vielschichtiges Œuvre aus Mode- und Kriegsbildern sowie journalistischen Texten ein. Das barbusige Picknick en plein air gleich zu Beginn ist eine paradigmatische Filmszene für den Spirit jener Moderne. Millers Sohn, Antony Penrose, hatte den Einsatz seiner Mutter für die Menschlichkeit erst nach ihrem Tod in staubigen Schachteln entdeckt. Mit seinem Vater und später mit seiner Tochter, Ami Bouhassane, hat Tony Penrose alles, auch ihre Kleidung, in den Lee Miller Archives aufbereitet. Seit 2016 wurde die Filmidee gemeinsam entwickelt, und Winslet übernahm die Ko-Produktion.

Wie kann ein Kinofilm Lee Millers Leben gerecht werden? Dieser filmästhetischen Herausforderung kommt das Drehbuch anfangs bedingt nah. Die Erzählung startet mit dem Ende Millers erster Ehe, dem in Kairo auf sie wartenden Aziz Eloui Bey. Bis dahin hatte sie schon eine aufregende Karriere hinter sich und Miller war wohl das, was man eine Scanner-Persönlichkeit nennt. Das gefeierte Vogue-Model gibt sich nicht mit einem Interessengebiet zufrieden, besitzt eine Vielbegabung, sie will Neues lernen und ausprobieren; ein charismatischer Tausendsassa!

„Die Fotografin“ setzt an der Schwelle von Millers Lebensweg vom goldlockigen Cover-Girl zur entschlossenen Pionierin der Kriegsfotografie an. Da haben wir noch gar nicht das Feuer zwischen ihr und Man Ray auf dem Filmstreifen mitgedacht. Miller, holde 22 Jahre jung, verlässt New York 1929, um in Paris ein Fotografiestudium bei dem surrealistischen Künstler zu beginnen. Sie wird seine Muse und Liebhaberin. Darauf wird die begabte Fotografin oft verkürzt.

Im Gegenteil, kurz für die kunsthistorische Geschichtsschreibung notiert: Man Ray war ein Glückspilz, dass er drei Jahre der Liebhaber der abenteuerlustigen, gescheiten und freiheitsliebenden Lee sein durfte. Man Ray war auch Nutznießer ihrer fotografischen Erfindung, der sogenannten Solarisation. Dieser Sabattier-Effekt lockt einen atmosphärisch hohen Bildkontrast hervor, wenn auf einem belichteten Negativ kurzzeitig eine diffuse Zweitbelichtung während der fotografischen Entwicklung entsteht. Auf ein und derselben Fotoschicht erscheint ein Negativ und ein Positiv. Erfindungen und Entdeckungen in der Kunst lieber männlichen Protagonisten zuzuschreiben, kennen wir ja schon von Camille Claudels Händen. Lee Miller war eine eigenständige Künstlerpersönlichkeit, deren Arbeiten der jüdisch stämmige New Yorker Galerist, Julien Levy, ausstellte.

Es wäre ein Leichtes, Lee Miller als US-amerikanischer zuckerter Muffin im Kreise der Pariser Surrealisten zu porträtieren, fertig ist ein anekdotischer Augenschmaus. Die Regisseurin entscheidet sich eher dafür, die schwierige Mutter-Sohn-Beziehung zum äußeren Anlass zu wählen. Eine runtergekommene Winslet als Miller schenkt sich Gin wie Tee ein. Im ersten Viertel des Films erscheint die Besetzung einer einzigen Schauspielerin gewöhnungsbedürftig für die nötigen Zeitsprünge zwischen 1907 (Geburt, Poughkeepsie, New York, USA) bis 1977 (Tod im berühmten Farleys House, England).

unbeschwerte Zeit in Südfrankreich : ab 3.v.l.: Paul Éluard (Vincent Colombe), Nush Éluard (Noémie Merlant), Solange D’Ayen (Marion Cotillard), Lee Miller (Kate Winslet), stehend: Roland Penrose (Alexander Skarsgård), Man Ray (Sean Duggan), Ady Fidelin (Zita Hanrot) – ©Sky UK Ltd / Kimberley French

Die sonnige Aura Lee Millers inmitten der Avantgardisten bringt eher Marion Cotillard als Solange d’Ayen in der Nebenrolle zum Vorschein. Sie verkörpert die Moderedakteurin des französischen VOGUE-Magazins, für das Lee Miller zu fotografieren beginnt. Der Zweite Weltkrieg bahnt sich an. Das Leben im Süden Frankreichs lebt sich zu diesem Zeitpunkt noch unbeschwert und ganz ungeniert.

Ab 1942 wechselt Lee Miller als Fotografin in eine Uniform der US-Army. Diese hat übrigens der Kostümbildner Michael O’Connor extra von denselben Schneidern in der Londoner Straße Savile Row für den Film nachbilden lassen, die auch für Miller das Maß anlegten. Ab diesem Moment gewinnt auch Winslet zunehmend in ihrer Rolle, um Millers Wesen zu verkörpern.

Pünktlich zum Leinwandstart gibt es bereits sehr gute und ausführliche Rezensionen. Ich konzentriere meinen Blick auf die zentrale Filmszene, die Allegorie des Badens, wohlwissend dass ich als Autorin nicht alles beschreiben kann, was ich so gern über die sagenhafte Lee Miller und den Film erzählen möchte. Während Miller als Fotoreporterin mit Bildern und Texten das Kriegsgeschehen einfängt, ist das eine Foto in der Badewanne des Führers eine inszenierte Fotografie. Wie kam es zu diesem besonderen Blick durch die Linse bei Lee Miller?

v.l.n.r.: David E. Sherman (Andy Samberg) und Lee Miller (Kate Winslet) an der Front – ©Sky UK Ltd / Kimberley French

Zusammen mit ihrem treuen Fotogefährten David E. Sherman, gespielt von Andy Samberg, tritt Miller bei der Befreiung eines Konzentrationslagers ihren schwersten Auftrag an. Mit dem Dreck von Dachau an den Stiefeln schmuggeln sich beide noch in derselben Nacht in die Münchener Wohnung von Adolf Hitler. Dort haben es sich Soldaten der US-Army längst gemütlich gemacht. Whiskey, Zigaretten und dann auch noch weit und breit die wohl einzige heiße Wasserleitung im zerbombten Deutschland. Wochenlang ohne ausgiebige Körperhygiene steigt Miller sofort in die Wanne und bittet Sherman, der Jude ist, den Auslöser zu drücken. Ihr gelingt ein Meisterwerk.

Die Bildkomposition fokussiert formal und inhaltlich ein bedeutsames mythologisches Thema: die Reinigung. Lee Miller ist ein Profi und schreibt sich mit dieser inszenierten Katharsis blitzschnell in die Kunstgeschichte ein. Die Bildmitte wird durch den vorderen und hinteren Beckenrand nahezu symmetrisch in ein Vorne und Hinten, ein Unten und Oben unterteilt. Vorne befinden sich die schmutzigen Spuren aus Dachau auf einem weißen Teppich im Anschnitt, oben die Voraussetzungen eines ambivalenten Wohlbefindens. Die abgelegten Stiefel fungieren als ein Sinnbild vor der Wanne, aus denen sie heraussteigt und in das Reinigungsritual eintaucht.

Links ragt ein rundliches Waschbecken in den überwiegend linearen Bildaufbau hinein. Auf einem Kommodentisch am rechten Bildrand steht nicht ohne Zufall eine klassizistische Skulptur, ein German Gretchen. Das für die Nationalsozialisten ideale Frauenfigürchen referenziert Miller mit einer ähnlich abgewinkelten Armhaltung nicht über dem Kopf, sondern vor ihren Brüsten. Der Clou ist, dass sie so ihre Nippel verdeckt, damit das Foto die strenge amerikanische Zensur passieren kann. Will sie Venus oder Nymphe sein, ein Bild sein oder lieber eins für die Ewigkeit machen? [Paragone könnte sogar an Millers Analogfotografie ausdiskutiert werden, aber die Kürze in Würze …]

Wie Miller Zeuge seiner Rassenlehre nur Stunden zuvor wurde, verpflichtet sie den Führer einer Säuberung anderer Art beizuwohnen. Sie postiert sein Herrscherporträt, eine Fotografie von Heinrich Hoffman, auf dem linken hinteren Beckenrand der insgesamt zentralperspektivischen Fluchtung. Ihr Gesicht ist das formale Bildzentrum zwischen zwei Wasserhähnen. Der Duschschlauch, der an der Kachelwand von oben herunterhängt, scheint sich beinahe wie eine Schlinge um ihren Hals legen zu wollen. Duschen zu gehen, war am jenen anderen Ort nur Schein eines würdevollen Seins. Miller schaut nicht in die Kamera, sondern kontemplativ nach oben rechts hinaus auf das, was nach der Befreiung vom seelischen Schmerz kommen mag. Die Kriegsfotografin wird in Hitlers Wanne zur Mahnerin moralischer Reinlichkeit. Sie spült das Erlebte hinunter und will das Humane zurückgewinnen. Es ist Lee Miller, die mit der Bildidee des Bades die Kunstgeschichte der unzähligen Malereien von Rembrandt, über Ingres bis Degas in diesem Moment fotografisch fortschreibt.

Ohne es zu wissen, lädt sich Millers Foto um eine weitere Ebene an diesem Tag auf. Zeitgleich zum „Schnappschuss“ begeht Hitler mit Eva Braun in Berlin Suizid, um sich aus seiner Verantwortung zu stehlen.

Die Kennerschaft von Lee Millers Werk wird im Film sofort die Inspirationen für bestimmte Bewegtbildsequenzen entdecken. Für die neuen Entdecker ihrer einzigartigen Handschrift in der Fotografie helfen die Überblendungen im Nachspann. Der Film basiert auf Lees Sohn verfassten Biografie „Immer lieber woandershin – Die Leben der Lee Miller“, erschienen im Suhrkamp Verlag. „Die Fotografin“ geht vielleicht nicht ins Oscar-Rennen, aber die Filmbiografie ist ein guter Anlass Lee Miller endlich zu sehen.

Filmplakat: DIE FOTOGRAFIN | IM KINO ab 19.09.2024

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